Rede der Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock,

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Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der letzte Freitag war für Millionen von Mädchen und Jungen in der Ukraine eigentlich ein besonderer Tag. Denn am 1. September hat in der Ukraine eigentlich für alle Kinder das neue Schuljahr begonnen. Der Schulstart ist in der Ukraine normalerweise ein Festtag, noch viel größer als bei uns Einschulungsfeiern für Erstklässler, mit Blumen im Haar, mit ganz vielen Süßigkeiten, mit Familie und Freundinnen und Freunden. Seit 559 Tagen ist aber nichts mehr normal in der Ukraine. Viel öfter als die Schulglocke hören die Kinder dort den Bombenalarm, weil sie seit 559 Tagen im Krieg leben. Laut Unicef können weiterhin nur ein Drittel der ukrainischen schulpflichtigen Kinder regelmäßig die Schule besuchen. Seit Beginn des Krieges wurde jeden zweiten Tag eine Schule zerstört, und zwar ganz bewusst eine Schule, ganz gezielt. Ein Bruch des Völkerrechts, ein Bruch der Menschlichkeit.

Mein ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba hat mir vor ein paar Tagen beim Treffen der EU-Außenministerinnen und EU-Außenminister in Toledo von der Schule in seinem Heimatdorf erzählt. Auch hier sollte am 1. September die Schule eigentlich wieder starten. Aber ein paar Tage vorher, als alle Lehrerinnen und Lehrer im Land den Schulstart vorbereiteten, kreiste in diesem kleinen Ort über der Schule eine Drohne, nur eine einzige Drohne über dem Ort, ganz gezielt über dieser Schule. Und sie kreiste und kreiste, obwohl die Kampflinie in der Oblast Sumy eigentlich relativ weit weg war. Nach einigem Kreisen schlug sie zu, ganz gezielt, ganz gezielt auf die Schule. Mehrere Lehrkräfte wurden getötet, weitere verletzt. Der eigentlich schönste Tag im Leben von Erstklässlern wurde zum Trauertag.

Warum sage ich das erneut auch hier in dieser Debatte? Weil wir aus meiner Sicht bei unseren Diskussionen der letzten Wochen manchmal etwas vergessen haben: dass mitten in Europa weiterhin ein Krieg tobt, jeden Tag, 559 Tage, ein Krieg, der jeden Tag Menschen tötet, der jeden Tag Frauen, Männern und Kindern ihr Zuhause nimmt, ein Krieg, der uns in unserer Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch in unseren wirtschaftlichen Antworten zu einem neuen Denken zwingt. Das ist die Lage, in der wir den Haushalt für das nächste Jahr aufstellen.

Und ja, wir alle müssen schmerzhafte Einschnitte akzeptieren. Ich kann jede und jeden verstehen, die oder der auf mehr Spielraum gehofft hat; das haben wir ja in den letzten anderthalb Tagen gemeinsam diskutiert. Aber ich glaube, es hilft relativ wenig, sich einfach was zu wünschen. Wir können uns die Schuldenbremse nicht wegwünschen. Trotz der Zeitenwende – so ehrlich müssen wir sein – gibt es schlichtweg, und zwar hier im gesamten Deutschen Bundestag, nicht die nötige parlamentarische Zweidrittelmehrheit, um das zu ändern. Deswegen arbeiten wir mit den Rahmenbedingungen, die wir haben, pragmatisch und zielgerichtet. Denn das ist das, was die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land von uns erwarten.

Und ja, da muss ich, glaube ich, keinen Hehl daraus machen, dass gerade in dieser Lage, in der ein Krieg in Europa tobt, auch mir die Einschnitte in meinem Einzelplan für das Budget des Auswärtigen Amtes wehtun. Deshalb setzen wir auch hier unter den gegebenen Rahmenbedingungen, die wir nun mal alle miteinander haben, Prioritäten – pragmatisch und zielgerichtet.

Erstens werden wir unsere Unterstützung für die Ukraine fortsetzen, solange die Menschen in der Ukraine das brauchen: mit Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung, um weitere Drohnen abfangen zu können, mit humanitärer Hilfe, mit großen Entminungsprogrammen und vor allen Dingen mit politischer Unterstützung in den Vereinten Nationen, der EU, der Nato, aber gerade auch – das darf man nicht vergessen, und ich bin da insbesondere den zuständigen Abgeordneten dieses Hauses sehr dankbar – mit der Unterstützung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und des Europarates. Denn es geht hier auch um die Sicherung unserer Friedensordnung in Europa.

Zweitens: Wir investieren prioritär und stärker als zuvor in unsere globalen Partnerschaften. Die Zusammenarbeit mit unseren engen Partnern in Europa und den USA bleibt wichtig. Aber es wird in Zukunft noch stärker darauf ankommen, wie wir mit Ländern zusammenarbeiten, deren Freundschaft wir in den letzten Jahren vielleicht als etwas zu selbstverständlich hingenommen haben. Wir senden daher nicht nur ein klares Signal, das sagt: „Wir vergessen euch nicht, auch wenn in Europa ein Krieg tobt. Wir vergessen nicht eure Sicherheitssorgen“, sondern wir sagen auch sehr deutlich: „So wie ihr auf der Welt für uns Europäer da seid, wenn die europäische Friedensordnung angegriffen wird, so sind wir für euch da.“

So sind wir zum Beispiel jetzt für unsere Partner von Ecowas da. Denn wie sagte meine senegalesische Kollegin, die gerade hier in Berlin zu Besuch war, richtigerweise? – Wenn eine Demokratie weggeputscht wird, dann können andere Demokratien nicht einfach wegsehen. Deswegen haben wir auf deutsch-französische Initiative hin ein EU-Sanktionsregime angestoßen, mit dem wir unsere Partner in Westafrika genau jetzt noch stärker unterstützen können. Denn unsere Partnerschaften sind für uns – das spüren wir; das haben wir in der Nationalen Sicherheitsstrategie verankert – überlebenswichtig, wenn es darum geht, unsere Sicherheit zu verteidigen, aber auch, wenn es darum geht, die Klimakrise einzudämmen, die größte Sicherheitsgefahr weltweit, und auch, wenn wir für Menschen Verantwortung übernehmen, die weltweit unsere Hilfe dringend brauchen.

Auf der ganzen Welt gehen fast 800 Millionen Menschen jede Nacht hungrig ins Bett. Deswegen war es mir wichtig, dass wir weiterhin ein schlagkräftiges Budget für humanitäre Hilfe haben mit einem pragmatischen Ansatz, der es uns erlaubt, schnell zu handeln. Und ja, auch hier mussten wir gewaltige Einschnitte hinnehmen. Aber wir haben uns in der Koalition gemeinsam darauf verständigt, dass wir Spielräume nutzen werden, um ad hoc auf neue Krisen mit humanitärer Hilfe reagieren zu können. Wir investieren in unsere Partnerschaften, auch mit schnelleren, digitalen Visaverfahren und mit einer starken Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Denn gerade für die Fachkräftegewinnung braucht es mehr als Deutschangebote weltweit.

Wir befinden uns im größten außen- und sicherheitspolitischen Umbruch seit Ende des Kalten Krieges. Das haben wir uns nicht ausgesucht. Aber wir können entscheiden, jeden Tag aufs Neue, wie wir darauf reagieren. Und das tun wir, geschlossen europäisch, gemeinsam mit unseren weltweiten Partnern, damit auch den Schülerinnen und Schülern in der Ukraine irgendwann – auch wenn wir nicht wissen, wann – die Schulglocke vertrauter klingt als der Bombenalarm, für ein friedliches und freies Europa, für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.

Herzlichen Dank.