Rede der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries,

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Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten.

Es ist kein Zufall, dass ich gestern zwei Pressekonferenzen durchgeführt habe: eine zu dem Gesetzentwurf, den wir zurzeit beraten, und die andere mit meiner Kollegin Renate Schmidt zu dem Aktionsplan der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung. Denn die Bundesregierung weiß, dass die Verhütung von sexueller Gewalt nicht durch das Strafrecht allein gelingt. Gerade weil die Dunkelziffer so hoch ist, sind Aufklärung und niedrigschwellige Angebote für Kinder notwendig.

Hinschauen, nicht wegschauen – dieses Prinzip ist einer der wesentlichen Punkte des Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen, der Ihnen heute vorliegt. Es ist auch das Motto einer bundesweiten Aufklärungskampagne, die wir starten werden.

Damit bin ich schon zu Beginn meiner Rede bei dem zentralen Ziel, das wir mit der Änderung des Sexualstrafrechts verfolgen: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind abscheulich und verachtenswürdig. Jeder sexuelle Übergriff ist einer zu viel. Deshalb wollen wir diese Straftaten nicht nur angemessen bestrafen, sondern wir wollen sie vor allem verhindern.

Menschen im Umfeld von Missbrauchsopfern haben oftmals Kenntnis von den Vorgängen oder zumindest eine Ahnung. Trotzdem unternehmen viele nichts dagegen. Deshalb wollen wir mit diesem Gesetzentwurf Verwandte, Nachbarn und Betreuungspersonen mit in die Verantwortung nehmen. Wir erwarten, dass sie sich einmischen und Missbrauch verhindern. Denn wirksamen Schutz für Kinder erreichen wir nur, wenn sich alle verantwortlich fühlen. Nach unseren Vorstellungen wird sich deshalb in Zukunft derjenige strafbar machen, der von einem geplanten sexuellen Missbrauch weiß und nichts dagegen tut.

Wir erweitern Paragraph 138 Strafgesetzbuch um den sexuellen Missbrauch von Kindern, die sexuelle Nötigung und Vergewaltigung und den sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen, also vor allem behinderter Menschen.

Wir sind uns – das will ich auch nicht verhehlen – dabei durchaus bewusst, dass wir uns in einem sehr sensiblen Bereich bewegen: Es gibt Fälle – gerade bei Missbrauch im familiären Umfeld –, in denen sich das Opfer nicht nur vor dem Missbrauch fürchtet, sondern auch zu dem Täter, zum Beispiel dem Stiefvater, der die Familie finanziell unterstützt, eine persönliche Beziehung hat. Deshalb will das Kind in der Regel nicht, dass der Stiefvater ins Gefängnis kommt; es will aber natürlich, dass der Missbrauch aufhört. Das heißt, das Kind will sich jemandem anvertrauen, der nicht sofort zur Polizei gehen soll.

Um diesem Spannungsfeld gerecht zu werden, haben wir die Anzeigepflicht eingeschränkt. Diejenigen, die häufig Ansprechpartner sind, zum Beispiel Erziehungsberatungsstellen, Psychologen und Ähnliche, haben wir von der Anzeigepflicht ausgenommen, wenn sie sich ernsthaft um die Verhinderung weiterer Taten bemühen.  Aber, sie müssen es auch ernsthaft tun. So einen Fall, wie er mir letztes Wochenende geschildert wurde, dass Mitarbeiter eines Jugendamtes fünf Jahre lang vom Missbrauch eines Kindes in einer Familie wussten, aber nichts unternommen haben, darf es künftig nicht mehr geben.

Wir haben eine weitere Einschränkung vorgenommen. Natürlich wollen wir nicht, dass die ersten sexuellen Kontakte junger Menschen untereinander zur Anzeige kommen. Deshalb ist der Personenkreis derjenigen, die anzeigeverpflichtet sind, auf die über 18-Jährigen beschränkt und wir erfassen auch nur die Fälle, in denen der Täter die sexuelle Unerfahrenheit seines Opfers ausnutzt. Natürlich wollen wir nicht, dass das Knutschen des 15-Jährigen mit der 13-Jährigen angezeigt werden muss.

Ein zweiter Punkt des Entwurfs ist die Erhöhung der Strafrahmen zahlreicher Vorschriften. Wie Sie wissen, habe ich mich im vergangenen Jahr an dieser Stelle dafür ausgesprochen, den Grundtatbestand des sexuellen Missbrauchs vom Vergehen zum Verbrechen heraufzustufen.

Mein Ziel war es, auch diejenigen schweren Fälle des sexuellen Missbrauchs als Verbrechen ahnden zu können, die, weil kein Eindringen in den Körper vorliegt, als einfacher sexueller Missbrauch qualifiziert werden und deshalb mit einem Strafmaß belegt sind, das unseres Erachtens deutlich zu niedrig ist. Die Folge der Qualifikation zum Verbrechen wäre aber die Einführung eines minderschweren Falles. Denn darin sind wir uns auch mit der Opposition einig: Nicht jeder sexuelle Missbrauch ist als Verbrechen zu qualifizieren.

Die Praktiker haben mich in unseren Diskussionen davon überzeugt, dass der jetzt von uns gewählte Weg rechtstechnisch gesehen der bessere ist. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird der Grundtatbestand des sexuellen Missbrauchs mit einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren beibehalten. Künftig wird es aber keine minderschweren Fälle des sexuellen Missbrauchs mehr geben; diese Regelung streichen wir.

Neu eingeführt wurde dagegen in Paragraph 176 Abs. 3 Strafgesetzbuch der besonders schwere Fall des sexuellen Missbrauchs mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr. Damit erfassen wir vor allem die Fälle, die sich deutlich vom Grundtatbestand des einfachen sexuellen Missbrauchs abheben, ohne dass aber schon die Voraussetzungen des schweren Missbrauchs nach Paragraph 176a Strafgesetzbuch erfüllt werden. Gemeint sind also diejenigen Fälle, bei denen es nach unserer Ansicht eine Regelungslücke gab. Dabei geht es darum, dass beischlafähnliche Handlungen stattfinden, ohne dass es zum Eindringen in den Körper kommt. Entsprechend erhöhen wir beim schweren sexuellen Missbrauch von Kindern, Paragraph 176a, die heutige Mindeststrafe von einem Jahr auf zwei Jahre.

Der Vorteil dieser Regelung ist, dass die Ahndung von Taten an der unteren Grenze der Strafbarkeit auch weiterhin flexibel gehandhabt werden kann. Es wird deshalb – für Einzelfälle – die Einstellung des Verfahrens ebenso zulässig bleiben wie der Strafbefehl, der dem Opfer das Auftreten in der Hauptverhandlung erspart.

Für diese Lösung spricht ein Argument der Praktiker: In den Fällen, in denen die Strafe zwischen sechs Monaten und einem Jahr tat- und schuldangemessen ist, müssen die Gerichte auch in Zukunft nicht wegen eines minderschweren Falles verurteilen, wie es, würde sich Ihre Vorstellung durchsetzen, der Fall wäre. Dies – so sagen die Praktiker – legitimiert die Täter, nach dem Motto: Es war ja gar nicht so schlimm; es ist ja nur ein minderschwerer Fall. Dieses Argument sollten wir berücksichtigen.

Zu einem weiteren Punkt, zu Paragraph 179 Strafgesetzbuch, wo wir wie bei Paragraph 176 den Strafrahmen erhöhen: Der Beischlaf mit einem widerstandsunfähigen behinderten Menschen ist künftig ebenso sanktioniert wie eine Vergewaltigung, nämlich mit zwei Jahren Mindeststrafe. Damit wird einem seit vielen Jahren bestehenden Begehr der Behindertenverbände endlich Rechnung getragen.

Ein weiterer Schwerpunkt des Entwurfs nimmt die technische Entwicklung auf. Es geht um die Strafbarkeit von Kinderpornographie im Internet. Dass dies nötig ist, zeigen die Fallzahlen. Im Jahr 1996 waren es 663 Fälle, im Jahr 2001 bereits 2.745. Deshalb erhöhen wir die Höchststrafe für den Besitz und die Besitzverschaffung von Kinderpornographie auf zwei Jahre statt bisher einem Jahr.

Die Zahl der Computerbesitzer und derjenigen, die über einen Internetzugang verfügen, nimmt stetig zu; dies begünstigt den Handel mit kinderpornographischen Abbildungen. Ich spreche hier insbesondere die Weitergabe von Kinderpornographie in den so genannten geschlossenen Benutzerräumen des Internets an. In diesen Fällen werden die Gerichte künftig nicht mehr lediglich auf den Besitz abstellen müssen und damit zu einem geringeren Strafrahmen kommen; vielmehr können sie die Verbreitung zugrunde legen. Insoweit haben wir den Tatbestand erweitert. Damit kommen wir auch zu einem höheren Strafmaß, denn bei der Weitergabe in geschlossenen Benutzerräumen handelt es sich um nichts anderes als um eine Verbreitung. Wir versprechen uns davon auch, dass es durch eine Reduzierung der Nachfrage zu einem Rückgang der Produktion kommt, denn man muss sich immer klarmachen: Jedem kinderpornographischen Foto ist ein sexueller Missbrauch vorausgegangen. An dieser Stelle müssen wir auch über solche Regelungen eingreifen.

Es ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass unser Entwurf die Frage der Sicherungsverwahrung für Heranwachsende nicht behandelt. Wir haben hierüber intensiv diskutiert. Ich will mit meiner Einstellung dazu nicht hinter dem Berg halten: Wenn das Gericht bei einem heranwachsenden Sexualtäter, der nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wird, eine besondere Gefährlichkeit für die Zukunft feststellt, dann sollte es auch die Sicherungsverwahrung anordnen können.

Aber man muss eines im Auge behalten: Wir reden von einer verschwindend geringen Anzahl von Fällen. 80 Prozent der Heranwachsenden, die Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder das Leben begehen, werden nach Jugendstrafrecht verurteilt; also sprechen wir von 15 bis 20 Prozent. Diese müssen weitere Voraussetzungen erfüllen, denn sie müssen erhebliche Vortaten begangen haben und in Zukunft, auch über die Strafverbüßung hinaus, gefährlich sein. Es betrifft also nur eine ausgesprochen geringe Zahl von Menschen. Allerdings sollten wir uns dieser Option nicht begeben und uns bemühen, zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Ich rege an, dass wir diesen Punkt in der Sachverständigenanhörung besonders intensiv diskutieren werden; darüber waren wir uns einig.

Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei den Abgeordneten Stünker und Montag bedanken, mit denen wir intensive Gespräche geführt haben, ebenso wie mit den anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe, denen gleichfalls mein Dank gilt. Die Herren werden sicherlich zu den von mir jetzt aus Zeitgründen nicht erwähnten Punkten dieses Gesetzes weitere Ausführungen machen.