nachdenken ueber patriotismus - ansprache des bundespraesidenten in der universitaet heidelberg

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bundespraesident richard von weizsaecker hielt ueber
patriotismus am 6. november 1987 an der universitaet
heidelberg folgende ansprache:

i.
patriotismus ist kein wort aus unserer zeit. es ist ein alter
begriff, und er hat schwere schlaege hinnehmen muessen.
die sache, um die es beim patriotismus geht, ist aber
keineswegs zu ende. elementare beduerfnisse, offene
fragen und lebendiger streit bezeugen es. die
auseinandersetzung wird oft unter anderem namen gefuehrt. die
deutsche frage, verstaendnis von staat und nation, identitaet der
deutschen, historikerstreit gehoeren in diesen
zusammenhang.
der erste ernsthafte ansatz in der nachkriegszeit, die
diskussion ausdruecklich beim stichwort "patriotismus"
wiederaufzunehmen und voranzubringen, stammt von dolf
sternberger. in seinem reichen wissenschaftlichen und
publizistischen wirken nimmt dieses thema nur einen schmalen
raum ein. dennoch zeigt sich dabei etwas fuer ihn
typisches. die frage wird auf den begriff gebracht, und zwar
so praegnant, dass mit der ueberschrift bereits die antwort
gegeben wird: verfassungspatriotismus.
dolf sternberger hat sich damit ein hohes verdienst
erworben. an diesem ihm gewidmeten tag wollen wir ihm
dafuer danken, indem wir gemeinsam ueber patriotismus
nachdenken.
ii.
patriotismus hat seinen ursprung in der ueberschaubaren
welt der antiken polis und stadtrepublik. auch bei uns hat er
weit aeltere wurzeln als die nation und den nationalstaat,
als das deutsche reich und unsere demokratische verfassung.
er war vielschichtig. er umfasste stadt und staedtebund,
landschaft und reich, sprach- oder dialektgemeinschaft,
den raum christlichen glaubens und ueberlieferter
kultur.
erst die modernen nationalstaaten brachten tiefgreifende
aenderungen hervor. sie entwickelten im 19. jahrhundert die
tendenz, die kraft der herkoemmlichen bezuege und
loyalitaeten zu verringern und den patriotismus fuer sich zu
monopolisieren. allmaehlich verschmolzen patriotismus und
nationalismus in eins. man setzte seinen patriotismus absolut
gegen den anderen, und selbst die fortbestehenden
heimatlichen bindungen im innern der nationalstaaten wurden
abgewertet, wie der damals abschaetzig gemeinte begriff
lokalpatriotismus deutlich zeigt.
die auswirkungen in der geschichte waren fatal. der
nachbar wurde herabgesetzt, das bild des eigenen landes
ueberhoeht. der patriotismus wurde missbraucht. das von ihm
erzeugte gefuehl persoenlicher, uneigennuetziger
vaterlandsliebe wurde fuer nationalen egoismus genutzt. die selbstlose,
unkritische hingabe der buerger lieferte der nation staerke
und freiheit zu ihrem skrupellosen gebrauch. sinnlose
opfer wurden nationalpatriotisch verklaert. der verherrlichte
millionenfache heldentod in den europaeischen
bruderkriegen war hoehepunkt und ende einer nationalistischen
vergewaltigung von patriotismus.
iii.
es war eine europaeische fehlentwicklung, keine spezifisch
deutsche. die art und weise, in der sich die wichtigsten
nationalstaaten zur geltung brachten, sich gegeneinander
verabsolutierten und den patriotischen gedanken
pervertierten, ist gar ihrerseits ein zeugnis fuer die
wechselseitige abhaengigkeit und zusammengehoerigkeit europas.
dennoch gab es in jedem land eigene voraussetzungen
und folgen. in frankreich zum beispiel verband sich das
patriotische selbstwertgefuehl frueh mit den idealen der
franzoesischen revolution. im zeitalter napoleons wurde es
zwar auf die muehlen staatlicher politik und eines
franzoesischen nationalismus geleitet. die idee der nation hatte
aber mit der forderung nach freiheit, gleichheit und
bruederlichkeit einen inhalt angenommen, dessen humane kontrollwirkung
nie voellig ausser kraft geriet, weder in frankreichs
siegen noch in seinen niederlagen. die geographische
lage tat ein uebriges, um versuchungen und belastungen,
welche es natuerlich auch fuer frankreich gab,
abzuschwaechen.
grossbritannien hatte sich im zeitalter des nationalismus,
der industrialisierung und der koloniaerrschaft zur
fuehrenden weltmacht entwickelt. sein patriotismus hatte globalere
bezuege und gefahren. zugleich bewahrte er dank der
insellage eine besondere britische eigenart. die maxime "right or
wrong, my country" ist unuebersetzt in den sprachenschatz
der welt eingegangen. briten waren in ihrer anwendung
lange zeit besonders erfolgreich, aber kein staat ist im
zeichen des nationalismus gegen die versuchung dieses
leichtfertigen wahlspruchs gefeit. heute wird auch in
grossbritannien, zumal im zusammenhang mit dem
falklandkrieg, nach einem "patriotism of today" neu und kontrovers
zum teil sehr ethisch gefragt. patriotismus ist zum
streitobjekt unter geistigen richtungen und politischen parteien
geworden.
die deutschen konnten ihr nationales selbstgefuehl zu keiner
zeit so unangefochten entwickeln wie andere europaeische
voelker. sie lebten immer schon in der mitte des kontinents,
umgeben von vielen nachbarn und unter dem einfluss
starker maechte, die ein vitales interesse an der gestaltung
dieser mitte hatten. lange bevor bei uns eine nation
entstehen konnte, waren wir auch schon durch die religion
getrennt, schaerfer als die meisten anderen voelker.
ein deutsches nationalgefuehl entwickelte sich in erster linie
mit der kultur. philosophie und dichtung, lessing, herder,
kant und goethe praegten das ansehen und selbstbewusstsein
der deutschen. das war kein weg ins unpolitische. die
fruehdemokratischen bewegungen der paulskirche wurden
von den edelsten geistern verkoerpert. diese waren tiefe
patrioten. sie trieben die deutsche frage voran, die im
zeichen der spannung von einheit und innerer freiheit
stand.
nach ihren niederlagen und mit hilfe der ausgrenzung
oesterreichs schuf bismarck den nationalstaat. verbunden
wurde das deutsche reich von 1871 vor allem durch sein
zunehmendes politisches gewicht, seine wirtschaftliche
entwicklung. man wollte allseits den nationalstaat. man
wuenschte sich, dass er etwas gelte. deutschland wurde in
vieler hinsicht zum modernsten staat in europa. aber eine
tiefergehende verstaendigung, die die graeben zwischen den
konfessionen, den sozialen schichten und den
landsmannschaften befriedigend haette ueberwinden koennen, war nicht
da. dem zweiten deutschen reich fehlte eine angemessene
geistige substanz. dort, wo kultur und politik sich zum
zusammenleben der menschen haetten verschmelzen
koennen, herrschte mangel. es war ein drahtseilakt ohne netz.
nach der bekannten metapher beherrschte allein bismarck
das europaeische spiel mit fuenf kugeln. als er abtrat,
gerieten sie durcheinander, das gleichgewicht der europaeischen
maechte kam ins wanken. deutschland war nicht der urheber
des europaeischen nationalismus gewesen, sondern
nur verspaeteter teilhaber. nun strebte es zu neuen ufern,
"mit volldampf voraus", wie es hiess.
der weg europas muendete in zwei furchtbare bruderkriege.
am ende stand der toedliche ernst, den der
nationalsozialismus mit der transzendierung von nation und
patriotismus gemacht hatte.
die nation wurde der ueberwert. die vaterlandsliebe der
deutschen, die aufrichtig und tief war, wurde irregeleitet und
geblendet. alle persoenlichen und politischen
freiheitsrechte, die rechtsstaatlichkeit, kunst und religion und
schliesslich das leben von einzelnen und eines ganzen
volkes wurde der willkuer preisgegeben und der nationalen
ueberheblichkeit geopfert, bis in der niederlage auch die
nation selbst nichts mehr galt, sie sich in den augen des
despoten als unfaehig und unwuerdig erwiesen hatte.
am ende dieses vernichtungskreuzzuges ohne mass, mitte
und menschenwuerde stand die teilung deutschlands und
spaeter europas. der patriotismus hatte seinen gegenstand
geistig und politisch verloren.
iv.
inzwischen sind ueber vier jahrzehnte ins land gegangen.
diese zeit wird oft als eine phase ohne geschichte und
ohne identitaet kritisiert und karikiert. als seien wir - um mit
botho strauss zu sprechen - nur noch eine gemeinschaft
von lottotippern, die ihr heil im gewinn und reichtum
suchen, oder kosmopoliten, die in scharen alljaehrlich ins
ausland reisen, auf der flucht vor der eigenen geschichte
und gesellschaft.
tatsaechlich kennt jeder beispiele fuer brechungen in
unserem selbstverstaendnis. wie haette es auch anders sein
koennen nach zwei verlorenen weltkriegen, nach der zerstoerung
der staedte, der flucht und vertreibung aus der heimat, der
teilung des landes, dem gift des nationalsozialismus, dem
missbrauch der vaterlandsliebe, den tiefen moralischen
konflikten in uns selbst und zwischen den generationen? haette
sich gar nichts aendern sollen im deutschen selbst- und
weltbild? war es alsbald nach dem krieg nicht
menschlicher, war es nicht menschlich unvermeidlich, schwere
fragen offenzulassen und zunaechst etwas aufzubauen, was
einer neuen identifikation wert war?
so geschah es, aber nicht um vor der geschichte zu
entfliehen - das kann man gar nicht -, sondern um weiterzuleben
in der geschichte, der wir eigen sind. jeder konnte nur in
seinem teil deutschlands an die arbeit gehen. bei uns
haben wir einen neuen staat aufgebaut, zerstoerungen
beseitigt, not behoben und allmaehlich wohlstand
zugaenglich gemacht. dessen braucht sich wahrlich niemand zu
schaemen.
aufgebaut haben wir zugleich einen verfassungsstaat, dem
nach nahezu vierzigjaehriger bewaehrung das vertrauen
seiner buerger wie seiner nachbarn gilt. diese verfassung ist
ein wirkliches grundgesetz, weil es unser zusammenleben
im inneren ebenso bestimmt, wie es unseren beziehungen
nach aussen substanz und verantwortlichkeit gibt.
auf diese weise gewinnt die verbindung des gedankens
der verfassung mit dem gedanken des patriotismus die
selbstverstaendlichkeit einer wahrheit. die deutschen waren
nicht nur mit der bildung eines nationalstaates im verzug.
viel spaeter noch haben sie sich den demokratischen
verfassungsstaat angeeignet. indem sie es taten, schufen
auch sie sich die grundlagen fuer einen aufgeklaerten
patriotismus.
erinnern wir uns an fruehzeitig dafuer vorhandene geistige
grundlagen. ich denke an einen jener deutschen, die schon
im vorigen jahrhundert fuer den verfassungsstaat
eingetreten, im eigenen vaterland aber gescheitert waren und unter
der verfassung amerikas eine neue heimat gefunden
hatten. es war carl schurz, der 1872 im amerikanischen senat
den schon zitierten britischen wahlspruch aufgriff und
abwandelte: "our country, right or wrong. when right, to be
kept right. when wrong, to be put right."
carl schurz liess sich an dieser stelle nicht auf das problem
ein, wie recht und unrecht zu bestimmen sind. fuer den
amerikanischen patrioten bestand darueber
unausgesprochene klarheit: werte der verfassung bilden massstaebe
patriotischen handelns.
es ist ein zentraler fortschritt unserer geschichte, dass wir
uns diesem denken geoeffnet haben. unsere verfassung ist
eine aufgabe. darueber sind wir uns einig, auch wenn wir
ueber die wege streiten. die verfassung befreit uns nicht von
der immer neuen anstrengung, um die erkenntnis von
recht und unrecht zu ringen. mit der verfassung als
aufgabe aber hat der patriotismus wieder einen gegenstand
bekommen, an dem er sich orientieren kann.
v.
eine aufgabe allein ist noch keine erfuellung. zum
patriotismus gehoeren aufgabe und geborgenheit, einsicht und
empfindung.
ist unser verhaeltnis zur verfassung eine beziehung der
vernunft oder der gefuehle oder beides? ich glaube: das
gefuehl sagt zunaechst, dass es eine vernunftbeziehung sei.
tieferes nachdenken zeigt aber, dass die gefuehle nicht
unbeteiligt sind. jeder suche seine eigene antwort. weder
einsicht noch gefuehle werden verordnet und schon gar nicht
patriotismus. das waere ganz gegen den geist der
verfassung - vom buchstaben zu schweigen.
es gibt eindrucksvolle beispiele in der geschichte dafuer,
dass der respekt fuer die gesetze, die sich mit dem
zusammenleben der menschen befassen, mehr als nur eine
verstandesbeziehung begruenden kann. das ueberzeugendste
beispiel gab sokrates. er war athener von geburt und aus
ueberzeugung. er verliess seine vaterstadt nie. er hielt die
gesetze athens fuer das beste, was menschen zustande
bringen. in seiner verteidigungsrede verurteilte er den
missbrauch der gesetze durch die verblendeten richter. aber
nach seinem todesurteil verweigerte er die leicht moegliche
und ihm angebotene flucht, weil es sein verfassungspatriotismus
verlangte, den gesetzen ihren lauf zu lassen und
damit auch der vollstreckung seines eigenen todesurteils.
dem fehlurteil gegen sich selbst unterwarf sich sokrates,
einem befehl zum unrecht gegen andere haette er
widerstanden.
wir leben nicht im alten athen. und wer von uns kommt
schon der elementaren weisheitsleidenschaft des sokrates
nahe? aber auch das leben in einer staatlichen
gemeinschaft wie der unsrigen kann sehr wohl verantwortlichkeit
und selbstbewusstsein vermitteln, wenn das verhalten des
staates zum buerger, wenn deren umgang miteinander und
wenn die teilnahme an der voelkerwelt sich an
menschenrecht und frieden orientierten. es kann die gewissheit
vermitteln, dass es wert ist, dieser gemeinschaft anzugehoeren
und dass es sich lohnt, an ihren aufgaben und ihrer
geborgenheit teilzuhaben. das ist kein reiner verstandeswert.vi.
ein patriotismus, der sich der verfassung verpflichtet fuehlt,
taugt nicht dazu, massen zu begeistern. er dient auch nicht
dem zweck, uns in gute und schlechte patrioten
auseinanderzusortieren. er hilft vielmehr, einen nuechternen
gemeinschaftssinn zu entwickeln, der gegensaetze und
standpunkte nicht verschleiert, aber die gemeinschaft auch nicht
der gegensaetze wegen aufkuendigt. er misst sich daran, dass
er staerker als weltanschauliche und ideologische
gegensaetze ist. er ist ein gemeinsamer rahmen, aber kein
geeignetes objekt fuer den streit unter demokratischen parteien,
im zeichen keiner reform oder wende.
ein patriotismus, der nicht der abgrenzung dient, sondern
menschen zu einer gemeinschaft verbindet, bietet das
standvermoegen, notwendige konflikte auszutragen. und
derer gab es und gibt es bei uns genug. dazu gehoerte der
heute schon fast vergessene streit ueber die
westorientierung und wiederbewaffnung in den fuenfziger jahren. am
uebergang der sechziger zu den siebziger jahren folgte die
auseinandersetzung ueber die neue ostpolitik. sie wurde mit
passionierter heftigkeit gefuehrt, bis tief in freundschaften
und familien hinein. wen kann es verwundern? haetten wir
die probleme verdraengen oder ihre politische regelung mit
gleichgueltigkeit quittieren sollen?
das waere in unserer lage als deutsche gewiss nicht
aufrichtig gewesen. es ging und geht um ganz ausserordentliche
politische, geistige und sittliche anstrengungen. wenn man
sich ihnen ehrlich stellt, sind sie schmerzhaft. und so kam
es ueber sie zum unsaeglich engagierten und leidenden streit.
er schlug nicht nur wunden. leidenschaft und leid
schmiedet menschen auch zusammen.
wenn ich mich frage, was zu meinem patriotismus gehoert,
dann denke ich nicht zuletzt an diese grossen und
aufwuehlenden debatten unter uns als deutsche.
heute ist etwas davon im historikerstreit zu spueren. auch er
ist ausdruck eines buendels von fragen. sie sind
wissenschaftlicher, ethischer und persoenlicher natur. ueber seinen
ertrag fuer die historie habe ich nicht zu urteilen. die form, in
der er ausgetragen wird, ist oft anstoessig. das ist fuer mich
aber nicht das wichtige. historiker koennen uns allen helfen,
an neurosen zu arbeiten, mit tiefen verkrampfungen fertig
zu werden.
historiker brauchen distanz, um geschichte nicht zu
ideologisieren, sondern zu erkennen. geschichtsforschung ist
aber auch vergegenwaertigung und betroffene anteilnahme.
historiker sind menschen wie wir alle, ohne einen
archimedischen punkt ausserhalb der welt. sie sind eingebunden in
die geschichte, die sie beschreiben.
aus ihrem streit lernen wir, geschichte nicht unter
moralischen vorgaben zu schreiben oder sie gar als sinnstiftung
misszuverstehen. immer kleiner wird die zahl der menschen,
die den nationalsozialismus noch bewusst miterlebt haben.
fuer die spaeter geborenen stellt sich keine persoenliche
schuldfrage, wohl aber die aufgabe des umgangs mit dem
historischen erbe. dazu gehoert erinnerung:
sie wachzuhalten und zu beherzigen, ist um der wahrheit
und um der zukunft willen unser gemeinsames teil. sie
gehoert zur gewissenhaftigkeit unseres wesens.
der streit der historiker kann gar nicht anders als heftig
sein. wichtig sind da nicht nur die werke, die am ende
herauskommen. wichtig ist, dass sich auch die historiker
stellen und in ihrem bereich eine aufgabe wahrnehmen, die
uns alle angeht. fuer meinen begriff des patriotismus ist dies
eine hilfe. deutsche werden und sind wir, wenn wir uns
unsere geschichte aneignen, indem wir uns mit ihr
auseinandersetzen.
vii.
sollten wir uns nicht, so wird gefragt, ueber unsere
verfassung hinaus auf allgemeine republikanische werte
verstaendigen, die dem weltbuerger gelten? beguenstigen
republikanisch-liberale rechte nicht die toleranz? foerdern sie
damit nicht die vielen kulturen und eigenarten der menschen?
schuetzen sie nicht minderheiten am besten, ohne eine
nationale verschmelzung zu erzwingen? sind solche quasi
menschheitspatriotischen ziele nicht gerade uns deutschen
gemaess?
ein weltbuerger kann eine ueberzeugende humane haltung
haben, wenn er selbst nicht ort-los ist. toleranz blueht nicht in
der wurzellosen universalen verschmelzung, sondern im
bewusstsein des eigenen standortes. dieser ist es, der den
respekt vor dem standort des anderen vermittelt.
patriotismus hat immer eine patria. weltoffenheit und patriotismus
sind keine gegensaetze. wer im eigenen land beheimatet
und verwurzelt ist, der wird den patriotismus seines
nachbarn verstehen und achten.
europa entwickelt sich in dieser richtung. hier reift eine
nachbarschaftliche verbundenheit heran, die ihresgleichen
in der welt sucht. ein patriotismus, der sich auf das eigene
volk bezieht und doch auch ein europaeisches
zusammengehoerigkeitsgefuehl wachsen laesst, wird mehr und mehr und
gluecklicherweise zum normalfall des selbstverstaendnisses
der menschen europas.
viii.
wir haben eine verfassung, aber wir sind keine
verfassung. es gibt bereiche des menschlichen wesens, die die
verfassung nicht ausfuellen kann. natur und herkunft
gehoeren dazu. das, was uns von jugend auf vertraut ist, die
erinnerung an die lieblingsspeise aus der kindheit (lin yu
tan), das, was unseren sinnen heimatlich vertraut ist, die
verstaendigung ueber einen lebenskreis mit seinen sitten,
der "garten des menschlichen" (c. f. von weizsaecker), das
alles sind quellen, aus denen wir leben. es ist "in love of
home that love of country has its rise" (charles dickens).
was zum patriotismus gehoert, empfangen wir in starkem
masse auch aus unserer kultur, die wir als lebensweise
erfahren. unsere sprache und die grandiosen leistungen
des geistes haben sie mit gepraegt. sie haben vielen
menschen, auch im exil, geholfen. sie verdienen und finden
respekt in der welt. sie verwurzeln uns auf humane weise.
geborgenheit stellt sich ein, wo der mensch sich
angenommen und in seiner wuerde geachtet weiss. sie verlangt aber
auch nach mitbeteiligung in einem ueberschaubaren und
verstaendlichen raum. "zu hause sein", bedeutet fuer hilde
domin "mitverantwortlich zu sein, nicht nur ein fremder zu
sein, ein mitspracherecht zu haben, das angeboren ist".
dort gehoert man hin.
ix.
so gehen geborgenheit und aufgabe eine verbindung ein,
die dem patriotismus rahmen und richtung gibt. es ist
unser deutscher patriotismus, um den es geht. es ist das
gefuehl der zusammengehoerigkeit von menschen mit
gemeinsamer geschichte und gemeinsamer geographie,
gemeinsamer herkunft und mit dem willen nach einer
gemeinsamen zukunft.
ein patriotismus der deutschen, auch soweit er in der
verfassung begruendet ist, kann sich nicht auf ein utopisches
atlantis beziehen. selbst wenn es unsere verfassung waere,
die dort in kraft treten wuerde, entstuende ein patriotismus von
atlantis. der unsrige ist nicht von unserer deutschen lage
abzutrennen.
unsere nation ist geteilt. die deutschen leben in ost
und west, in der europaeischen gemeinschaft und im
comecon, im atlantischen buendnis und im warschauer
pakt. die nation der deutschen ist nicht mit bismarck
entstanden und nicht mit hitler untergegangen. die teilung
deutschlands ist nicht die teilung seiner geschichte. wir
sind deutsche hueben und drueben. die frage bleibt, was aus
uns wird. nicht wir werden sie beantworten, sondern die
geschichte.
aber wir arbeiten ihr heute zu, ob wir es merken oder nicht.
denn inzwischen geht die entwicklung weiter. sie stellt uns
immer wieder vor die aufgabe, uns auseinanderzusetzen
mit zeit und umwelt und mit uns selbst. niemand hat sein
wesen und sein bewusstsein von sich selbst ein fuer alle mal.
dolf sternberger sagt: "jederzeit entschliessen muessen wir
uns . . ., weil die zeit keinen stillstand duldet." im widerstreit
von unvereinbarem, was sich in unserem gemuet findet,
fortzudenken und fortzuexistieren, dazu will er uns anregen.
es ist schwer, patriotismus zu definieren, zu nutzen, ihn zu
haben. schwerer ist es, ihn nicht zu haben. es ist gut, und
es ist verantwortlich, sich ihm zu widmen. dolf sternberger
hat es vorgemacht - nicht mit der rueckkehr zu
vergangenem, sondern mit der kraft zur "wandlung", die er mit
einleitete und heraugab. ihm stellte sich ein geschichtliches
und ein humanes ziel. es stellt sich uns allen.