Ludwig Erhard 1897-1997 - 100. Geburtstag des zweiten Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland (2) - Festakt zum 100. Geburtstag von Ludwig Erhard - Rede von Professor Hellwig (1)

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Bulletin

  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

Ludwig Erhard 1897-1997 - 100. Geburtstag des zweiten Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland (2) - Festakt zum 100. Geburtstag von Ludwig Erhard - Rede von Professor Hellwig (1)

  • Bulletin 13-97
  • 12. Februar 1997

Prof. Dr. Fritz Hellwig hielt bei dem Festakt folgende Rede:

Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin,
Herr Bundeskanzler,
Herr Staatsminister Jean-Claude Juncker,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

die Art, wie wir Deutschen den hundertsten Geburtstag verdienter
Persönlichkeiten unserer Geschichte begehen, hat so manche Wandlung erfahren.
Die auffälligste und – nach ihren heute noch stehenden Monumenten –
nachhaltigste posthume Ehrung hat vermutlich Otto von Bismarck erhalten. Noch
heute stehen vielerorts im Vaterland die Bismarcktürme, wuchtige Zeugen, aus
roten Sandsteinquadern gefügt, die ihre Erbauung dem Bismarckjahr 1915, zum
100. Geburtstag des Reichsgründers, verdanken. Wir, die nachfolgenden
Generationen, sind nüchterner geworden. Das Pathos ist der Nachdenklichkeit
gewichen, nachdem uns Diktatur, Krieg und Zusammenbruch über die
Zeitbedingtheit belehrt und zur Neubewertung veranlaßt haben.


Für Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, die ich neben dem Parlamentarischen
Rat, dem Schöpfer des Grundgesetzes, zu den Gründungsvätern unserer heutigen
Bundesrepublik Deutschland zähle, kann man sich Türme als Gedenkstätten kaum
vorstellen – vielleicht im übertragenen Sinne, wenn das Bild gestattet ist: Es
türmen sich mittlerweile in den Bibliotheken und Archiven dickbändige
Publikationen ihrer Reden und Schriften, Biographien und Erinnerungen von
Zeitgenossen.


Ein Zeitzeuge, der sich über Personen und Vorgänge der Ära Ludwig Erhard
äußern soll, steht vor der Frage, ob erlebte Einzelheiten erzählt werden oder
der historische Verlauf nachgezeichnet werden soll, überspitzt gesagt:
Anekdoten oder Chronik. Ein Mittelweg soll hier versucht werden. Es soll die
Erinnerung an Handlungen und Aussagen von Ludwig Erhard belebt werden, wie sie
nach Meinung des Redners heute besondere Beachtung verdienen. Provoziert wird
diese Betrachtung förmlich durch die Frage, die in der Presse gelegentlich
gestellt wird: Was würde Ludwig Erhard in der heutigen Lage, in der
aufgeregten Diskussion über zu ergreifende Maßnahmen, sagen oder tun? Den
Fragestellern sei empfohlen, die klassische Antwort nachzulesen, die Erhard im
Juni 1948 dem obersten amerikanischen Besatzungsoffizier, General Clay, gab,
der ihm vorwarf, die Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften ohne vorherige
Genehmigung abgeändert zu haben. Ludwig Erhards entwaffnende Antwort lautete:
"Ich habe sie nicht abgeändert, ich habe sie abgeschafft."


Natürlich stellt sich die Frage, ob Ludwig Erhard heute noch einmal in einem
Dschungel von "Maßnahmen-Kompetenzen" auf allen Ebenen – Bund, Länder,
Gemeinden, öffentlich-rechtliche Körperschaften – so schnell und direkt
handeln könnte. Er war damals Direktor der Verwaltung für Wirtschaft innerhalb
der besatzungsrechtlich geschaffenen bizonalen Verwaltung für die
amerikanische und die britische Besatzungszone. Der Wirtschaftsrat dieser
sogenannten Bizonenverwaltung hatte ihm zwar durch das Gesetz über "Leitsätze
für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform" weitgehende
Vollmachten gegeben, doch ihre schlagartige Nutzung war ein Akt ganz
persönlicher Verantwortung. Hätte das System der Bewirtschaftung auch nach der
Währungsreform formell weiter bestanden, so wären die Nichtbefolgung durch die
Bevölkerung und schließlich der Zusammenbruch des Bewirtschaftungssystems die
Folge gewesen, das heißt aber ein erheblicher Autoritätsverlust der Regierung.
So hat Erhards Entscheidung auch wesentlich zur Begründung des Vertrauens in
die Regierung, in den neuen staatlichen Anfang beigetragen.


Erhard selbst hat später Zweifel geäußert, ob unter den späteren Bedingungen
eine persönliche Entscheidung wie die von 1948 möglich gewesen wäre: "... nach
allem, was ich in der Folge erlebte, bin ich dessen fast gewiß, daß wir nicht
zur Bewahrung der Freiheit hätten durchstoßen können, wenn die Lösung in einem
Kompromiß hätte gefunden werden müssen. ... Gewisse Schwächen der Demokratie
... liegen nicht so sehr in den demokratischen Spielregeln selbst als in der
Art und dem Geist ihrer Handhabung." Was er damit meinte, hat er an anderer
Stelle präzisiert: "Wer das hierzulande auf vier Jahre geltende
Parlamentsmandat ... nur als Platz zwischen zwei Wahlen begreift, der wird
sich tunlichst auf Aktivitäten beschränken, die tatsächliche oder scheinbare
Popularität versprechen. Wer überwiegend wahltaktisch zu denken geneigt ist,
der wird spätestens von der Mitte jedes Vier-Jahre-Zyklus ab eher öffentliche
Zuwendungen versprechen als besondere Belastungen in Aussicht stellen."


Der Zeitzeuge, der heute hier spricht, fühlt sich als "Frontsoldat"
angesprochen, der Gelegenheit hatte, an wichtigen Stationen im ersten
Jahrzehnt von Erhards Amtstätigkeit mitzuwirken. "Frontsoldat" – das klingt
etwas pathetisch. Aber so war es: Die Soziale Marktwirtschaft wurde nicht in
den Amtsstuben der Behörden oder in den Studierzimmern der Gelehrten
durchgesetzt, sondern an der Front der öffentlichen Meinungsbildung.


Die neue Wirtschaftspolitik war das Thema in Hunderten
von Versammlungen, Diskussionen und Streitgesprächen, nicht nur in
Parteiveranstaltungen während der Wahlkämpfe, sondern vor allem im sogenannten
vorparlamentarischen Raum, bei Vereinen und Verbänden, in
Gewerkschaftshäusern, Volkshochschulen und kirchlichen Begegnungsstätten.
Ludwig Erhard hat die Chancen, im vorparlamentarischen Raum zu werben,
frühzeitig erkannt und genutzt. Das entsprach durchaus seinem beruflichen
Werdegang. Die Marktbeobachtung, die er jahrelang bei dem Nürnberger "Institut
für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware" betrieben hatte, hatte
notwendigerweise auch mit der Wirtschaftswerbung und ihren allgemeinen Regeln
und Erfahrungen zu tun. Dazu gehörte auch die Einschätzung des gesprochenen,
nicht nur des geschriebenen Wortes in seiner werbenden Wirkung.


Unter dem Markenzeichen der "Waage" wurde jahrelang für Erhards "Soziale
Marktwirtschaft" geworben. Erhard selbst hatte allerdings sein eigenes
Markenzeichen. Es war die Zigarre, ohne die er weder in der Öffentlichkeit
noch auf den werbenden Bildern erschien. Die Zigarre Ludwig Erhards animierte
übrigens einen Zigarren-Fabrikanten, eine Marke "Professor Erhard"
herauszubringen. Ludwig Erhard scheint sie nicht geraucht zu haben, seine
Marke hatte unter Kennern den Namen "Schwarze Weisheit". Aber im politischen
Geplänkel wurde die Zigarre "Professor Erhard" mitunter eingesetzt. Erik
Nölting, der sozialdemokratische Kontrahent Erhards in aufregenden
Streitgesprächen, klagte mir einmal nach einem Streitgespräch im
Gewerkschaftshaus Detmold – bei dem anschließenden Glas Wein –, daß ihm bei
seinem 60. Geburtstag alle möglichen Freunde kistenweise Zigarren der Marke
"Professor Erhard" geschickt hätten.


Die bewußte Entscheidung Erhards, sich mit einer politischen Partei zu
verbinden und sich dort die Plattform für die Verwirklichung seiner
Vorstellungen zu schaffen, entspricht seiner realistischen Beurteilung seiner
Aussichten. Er gehörte jedenfalls zu den Menschen, die nicht nur aufschreiben
wollten, was andere tun: Er wollte selbst handeln. Der Kritik, die in der
wissenschaftlichen Welt wegen dieser Entscheidung gelegentlich geübt wird,
möchte man Georg Christoph Lichtenbergs spöttische Bemerkung entgegenhalten:
"Ich glaube, daß einige der größten Geister, die je gelebt haben, nicht halb
so viel gelesen haben und bei weitem nicht so viel wußten als manche unserer
mittelmäßigen Gelehrten." Man setzt die Überlegung, die Erhard zur CDU führte,
nicht herab, wenn man sagt, daß es keine Gewissensentscheidung war, sondern
das Ergebnis einer realistischen Abwägung der Chancen: Er wählte die größte
Partei als Ausgangsbasis mit der größeren Aussicht auf Erfolg.


Er war sich auch der Voraussetzungen bewußt, die er für diesen Schritt
mitbrachte: Neben dem Handwerkszeug des Ökonomen die Einsicht in die
gesellschaftlichen Zusammenhänge und nicht zuletzt Kenntnisse und praktische
Erfahrungen in der für die Werbung unentbehrlichen Massenpsychologie. Darin
unterschied er sich von den Pionieren der liberalwirtschaftlichen Renaissance,
denen er sich im Denken und Wollen verbunden fühlte; um nur einige Namen zu
nennen: Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Friedrich von Hayek.
Er fühlte sich diesem Kreis verbunden, auch wenn er im praktischen Handeln den
Widerspruch des einen oder anderen herausforderte. Mit der saloppen
Formulierung eines Biographen, daß ihm "Wilhelm Röpkes
national-ökonomisch-soziologisch-historisch-kritisches Literatentum lag", ist
diese Geistesverwandtschaft selbst oberflächlich kaum erfaßt.


Die Entscheidung Erhards war in der CDU von einem ihm geistesverwandten Kreis
vorbereitet. Auch hier nur einige Namen: die Wissenschaftler Franz Böhm,
Bernhard Pfister und Alfred Müller-Armack, der Hamburger Bankier Hugo
Scharnberg und der Duisburger Rechtsanwalt Franz Etzel als Mittelpunkt. Dieser
war es, der die Verbindung mit dem unter Etzel ausgearbeiteten Programm der
"Düsseldorfer Leitsätze" und Erhards Sozialer Marktwirtschaft herstellte.


Bei der CDU war Erhards Hausmacht der Parteiausschuß für Wirtschaftspolitik,
zwar nicht nach der zahlenmäßigen Stärke, aber wohl nach dem Einfluß, den
seine Mitglieder als meinungsbildende Multiplikatoren in den Gliederungen der
Partei hatten. Etzel leitete den Ausschuß souverän, setzte sich über
Parteistatuten hinweg, wenn es galt, wichtige Vertreter aus Wissenschaft und
Presse, Kirchen und Verbänden zur Mitarbeit heranzuziehen. Es war dies das
Gremium, in dem die intensivsten Diskussionen mit Erhard stattfanden – offener
als im Vorstand etwa von Partei, Fraktion oder auch im Bundestagsausschuß.
Nicht als ob alle Erhard-gläubig gewesen wären, im Gegenteil: So manches Mal
regte sich Widerspruch, wenn Erhard in seiner einführenden Rede wenig zu
anstehenden Sachfragen sagte. Aber dann, in der Diskussion, lief er zu großer
Form auf, so daß Etzel mehr als einmal den Schluß zog: "Erhard, der alte
Zauberer, hat die Kritiker wieder überzeugt."


Erhard hat es auch später nicht unter seiner Würde gefunden, in verschiedenen
Gremien als einfaches Mitglied zu erscheinen, bei Währungsfragen auch in die
Diskussion einzugreifen, sonst aber meist nur ruhig zuzuhören. Noch bei seinem
79. Geburtstag sagte er mir: "Gehen Sie hin, wo immer Sie Gelegenheit dazu
haben. Ich halte mich immer noch daran, auch wenn die Leute sagen: Was will
der alte Mann noch hier, nur um ruhig dabei zu sitzen? Aber im Verfolg
derartiger Diskussionen bleibe ich informiert".


Erhard als geduldiger Zuhörer – ohne selbst das Wort zu ergreifen? Das paßt
eigentlich wenig zu dem Bild des unermüdlichen Redners, der – wie der zu früh
verstorbene Hans Klein es einmal ausdrückte – "zwei Jahrzehnte lang die
Zwiesprache mit den Massen" suchte. Erhard als Redner! Das Geheimnis seiner
Erfolge wird die Psychologen noch lange beschäftigen. Er wußte, daß eine gute
Wirtschaftspolitik zum großen Teil angewandte Psychologie ist, und war sich
seiner rednerischen Möglichkeiten voll bewußt, ohne der Versuchung zu
demagogischem Mißbrauch zu erliegen. Dagegen stand sein zutiefst angelegtes
Mißtrauen gegen die Demagogie der Diktatur.


Ihm lag die wissenschaftliche Rede ebenso wie die politische Ansprache.
Sprach er eine populäre Sprache? Von Fall zu Fall sicherlich, aber ein
"terrible simplificateur", ein schrecklicher Vereinfacher, war er nicht.
Adenauers bewußt einfache, auch im Wortschatz zurückhaltende Redeweise lag ihm
nicht: Dafür machte er zuviel Gebrauch von dem fremdworthaltigen Vokabular
seiner Wissenschaft. Ein hübsches Beispiel für den unterschiedlichen Stil
beider sei erzählt: Es war das Mittagessen, das der Bundeskanzler der Hohen
Behörde der Montanunion im Oktober 1959 gab. Erhard, durch ein
Koalitionsgespräch noch aufgehalten, kam zu spät und entschuldigte sich mit
den Worten, es sei wieder zur Konfrontation gekommen. Darauf Adenauer: "Wie
Sie das so schön wissenschaftlich ausdrücken. Ich hätte gesagt: ,Es hat wieder
Krach gegeben.'"


Was die Wirkung seiner Reden ausmachte, war nicht die exakt-wissenschaftliche
Argumentation, sondern die Überzeugungskraft, die von seinem Selbstvertrauen,
von seinem Selbstbewußtsein ausging. Der Glaube an die eigene Mission trug die
Visionen, die er als Ziele seiner Politik verkündete. Erneuerer fühlen sich
als Missionare: Selbstzweifel, wenn überhaupt vorhanden, werden nicht zur
Schau getragen. So strahlte Erhard Optimismus aus, unbekümmert um
Weltschmerz-Ideologien und infektiöse Resignation, die ihm so oft auf der
politischen Bühne begegneten. Es war aber nicht nur der Optimismus, der ihm
die Massen gläubiger Anhänger zutrug.


Es waren seine Beständigkeit und sein Stehvermögen, seine Zuverlässigkeit und
seine Vertrauenswürdigkeit, die bei der Bevölkerung ankamen, um so mehr als er
dabei bei den Menschen auch das Vertrauen in die eigene Kraft und in die
Solidarität der Gemeinschaft weckte. Die Ziele, die er für die nationale wie
für die internationale Wirtschaft vorgab, trugen ihm nicht selten den Vorwurf
eines Phantasten ein. Rückblickend dürfen wir von Visionen sprechen, die er
mit Hartnäckigkeit verfolgte und die ihn über die vielen kurzlebigen Einfälle
der Politiker hinaushoben. Die Geschichte hat ihm Recht gegeben.


Es war das Programm der Sozialen Marktwirtschaft, das Erhard mit der CDU
verband. Die Formel gilt heute als Erfolgsrezept schlechthin. Wo aber und wie
wird die Formel nicht überall gebraucht, vielleicht sogar mißbraucht als
Begründung staatlicher Intervention wie zur Verschleierung des Mißbrauchs von
Marktmacht. Im politischen Alltagsgeschäft, diesseits und jenseits unserer
Grenzen, ist sie zur Leerformel geworden, auf die das Distichon Friedrich von
Schillers über die Wissenschaft paßt: "Einem ist sie die hohe, die himmlische
Göttin, dem andern eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt."


Diese Gegenüberstellung entspricht der unterschiedlichen Erwartung, die
Politiker und Ökonomen, Parteien und Verbände mit der Marktwirtschaft
verbinden. Für die einen das Ordnungsprinzip, das über die Wirtschaft hinaus
dem Gemeinwohl, ja der menschlichen Gesellschaft dienen soll; auf der anderen
Seite ein Instrumentarium, das je nach Bedarf eingesetzt werden kann und keine
Belastung mit gesellschaftlichen oder politischen Vorgaben verträgt:
"Marktwirtschaft ohne jedes Adjektiv" heißt es dann.


Erhard hat zu keiner Zeit unterlassen, deutlich zu machen, wo er steht. Daran
muß immer wieder erinnert werden, wenn sich viele gedrängt fühlen, wenigstens
ein Lippenbekenntnis abzulegen. "Soziale Marktwirtschaft" ist fast in aller
Munde, eine Art "Allparteienlosung". Man ist an das Wort der Militärhistoriker
erinnert: "Der Sieg hat viele Väter". Aus der wirkungsvollen Formulierung, die
Müller-Armack in die CDU eingebracht hat und um die damals die SPD die CDU
beneidete, ist eine Worthülse geworden.


Schon bei der ersten programmatischen Rede 1948 hat Erhard klargestellt, daß
mit der Befreiung der Wirtschaft von den Fesseln der Bewirtschaftung und
Preisregulierung nicht eine Rückkehr zur "freien Wirtschaft" beabsichtigt sei.
Wiederholt hat er sich von dem "freibeuterischen Wirtschaftsliberalismus", wie
er sich ausdrückte, distanziert. Den Menschen in der Wirtschaft wurde mit der
"Sozialen Marktwirtschaft" die Freiheit wiedergegeben, Freiheit der
persönlichen Entfaltung, freie Berufswahl, freie Konsumwahl, den
Unternehmungen die Gewerbefreiheit, nicht aber die Freiheit zu Verträgen und
Praktiken, die die Freiheit anderer Teilnehmer am Markt einschränkten oder
beseitigten. Daß in der freien Wirtschaft alten Stils das alles möglich
gewesen war, hatte dem Wirtschaftsliberalismus den Vorwurf der
Soziologieblindheit eingetragen, um nur einen der Anklagepunkte aus dem
Sündenregister von Alexander Rüstow zu nennen.


Freiheit des Wettbewerbs unter gleichartigen Bedingungen, zugleich unter
einer unabhängigen Monopolkontrolle, war das Kernstück des Programms der
Sozialen Marktwirtschaft. Der Staat sollte den unverfälschten Wettbewerb
sicherstellen; seine Interventionen auf die Rahmenbedingungen beschränken.
Angebot und Nachfrage sollten den Preis zum Regulator machen. Die soziale
Verpflichtung für die Bevölkerungsschichten, deren Einkommen nicht mehr oder
noch nicht vom Markt bestimmt oder erreicht wurde, wurde anerkannt und war vom
Staat durch marktkonforme Umverteilung zu erfüllen.


Was hat sich seit Erhard bei uns geändert? Dem Zeitzeugen aus den fünfziger
Jahren fällt die Aufblähung der Verwaltung auf und die Auftürmung
administrativer Mauern in einem Gelände, wo nach den Vorstellungen von Erhard
Freiheit herrschen sollte. Umfang und Kosten der Lawine von Gesetzen,
Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften, die über die Bevölkerung und
die Wirtschaft niedergegangen ist, sind in den letzten Jahren wiederholt
untersucht worden. Am schwersten wiegen die Folgen dieser Überwucherung des
Marktgeschehens für das Verhalten der Bevölkerung und der Unternehmen. In
seiner Fernsehansprache beim Abschied als Bundeskanzler hatte Erhard gewarnt:
"Die deutschen Interessen erfolgreich zu wahren, verlangt in erster Linie
Stehvermögen, Beharrlichkeit und Geduld. Ich kann nur warnen zu glauben,
Politik bestehe darin, sich jeden Tag etwas Neues einfallen zu lassen. Nicht
die Zahl und die Größe der Schlagzeilen, die ein Politiker macht, sind
Gradmesser für eine richtige Politik, sondern eher die innere Sicherheit, sich
in der Geradlinigkeit seines politischen Handelns nicht von billigen
Schlagzeilen beirren und vom rechten Wege abdrängen zu lassen. Mit diesem
Problem wird sich die deutsche Demokratie noch zu befassen haben."


Erhards vorausschauende Warnung ist von der seitherigen Entwicklung nicht nur
bestätigt, sie ist weit übertroffen worden. Der Aktionismus von Politikern,
Parteien, Verwaltungen und Verbänden hat eine Beunruhigung der Wirtschaft
herbeigeführt, deren Ausmaß nicht zuletzt von den Massenmedien bestimmt wird.


Wie sagte doch Ralf Dahrendorf, als er noch Abgeordneter im Bundestag war:
Die politische Alltagsarbeit ist im Grunde genommen langweilig. "Die Politik
lebt von der Dramatisierung des Unbedeutenden." So erhalten unausgereifte
Vorschläge, Kritiken oder auch Forderungen von so manchem kleinen "Gernegroß"
durch die vergröbernde Verbreitung in den auf Schlagzeilenabsatz und
Einschaltquote bedachten Massenmedien ein Gewicht, das nach wenigen Tagen
meist verschwunden ist, das aber bei den Betroffenen ein Gefühl der
Unsicherheit bis hin zu einer abwartenden Ratlosigkeit hinterläßt. Nicht jeder
hat die Gelassenheit wie der unvergeßliche Hermann Höcherl, der manches Mal
Kollegen tröstete: "Beruhige dich, nächste Woche läuft 'ne andere Sau durchs
Dorf!"


Erhards Warnung findet sich bei einem seiner Vordenker, bei Walter Eucken, in
dessen letzten Vorträgen 1951 vorgezeichnet. Eucken fordert Kontinuität der
Wirtschaftspolitik als Vertrauensbasis für unternehmerische Entscheidungen:
"Der Umfang der Investitionen hängt maßgeblich von der Konstanz oder
Inkonstanz der Wirtschaftspolitik ab." Eucken warnt vor "Experimenten" in der
Wirtschaftspolitik – wobei die Gesamtheit der das Wirtschaften berührenden
Politikbereiche gemeint ist, also vor allem die Finanz- und Steuerpolitik, die
Sozialpolitik, die Verkehrspolitik. Dazu hätte
er, wenn er das noch erlebt hätte, sicher auch die Umweltpolitik genommen.
Eucken faßt dies zusammen in dem
Begriff der "experimentierenden Wirtschaftspolitik", die die
Investitionsentscheidungen der Unternehmungen negativ
beeinflußt. Wir würden heute sagen: die Standortbedingungen verschlechtert.


Gelten die Warnungen Euckens und Erhards vor einer experimentierenden
Wirtschaftspolitik schon für gutgemeinte, vermeintlich fördernde Maßnahmen, um
so mehr treffen sie zu angesichts des Aktivismus von sogenannten Reformern,
die, um nur ein Beispiel zu nennen, wie es in schöner Offenheit hieß, die
Belastungsfähigkeit der Wirtschaft "testen" wollten, oder – noch schlimmer –
Technik- und Industriefeindlichkeit praktizieren wollen.


Erhards Haltung gegenüber dem "Aktionismus" ist immer wieder mißverstanden
worden. Das Nichtverstehenwollen lag nahe, wenn er in seine Kritik auch die
Ausuferung der Sozialpolitik, den "Wohlfahrtsstaat" einbezog. Ausführungen,
wie die nachstehenden in der "Zeit", August 1958, mußten in einigen Kreisen
wie ein rotes Tuch wirken: "Nichts ist in
der Regel unsozialer als der sogenannte ,Wohlfahrtsstaat'. ... Solche
,Wohltat' muß das Volk immer teuer bezahlen, weil kein Staat seinen Bürgern
mehr geben kann, als er ihnen vorher abgenommen hat – und dann noch abzüglich
der Kosten einer zwangsläufig immer mehr zum Selbstzweck ausartenden
Sozialbürokratie."


Mißverstanden wurde Erhard auch von manchen Freunden, die in gewissen
Situationen mehr Aktivitäten von dem Minister forderten. Man warf ihm vor,
"nichts zu tun". Aber das war die sture Haltung, die er durchhielt, so in der
Preisanpassungskrise 1948, in der Koreakrise 1950/51, in der Suezkrise 1956
und bei der Durchsetzung der DM-Aufwertung 1961 zur Abwehr inflationärer
Tendenzen.


Mit Erhards Ablehnung der "experimentierenden Wirtschaftspolitik" ist auch zu
verstehen, daß wir im CDU-Vorstand für die Bundestagswahlen 1953 und 1957 die
Wahlparole formulierten: "Kein Experimente!" Sie wurde später von den
politischen Gegnern mißbräuchlich interpretiert als Ausdruck der angeblichen
Reformunfähigkeit der Ära Adenauer-Erhard. Dieser Vorwurf kann angesichts der
großen Neuordnungs- und Reformgesetze zwischen 1949 und 1961 kaum als
Mißverständnis entschuldigt werden. Wer allerdings den Erfolg dieser Ära als
"Restauration des Kapitalismus" bezeichnete, war wohl der Ideologie der
sozialistischen Utopie erlegen – noch in der Unschuld des Nichtwissens. Es war
ja noch lange hin bis zum Zusammenbruch des Sozialismus in der DDR und im
ganzen Sowjetbereich. Mit fast nachtwandlerischer Sicherheit hat Erhard diesen
Zusammenbruch vorausgesagt, auch die Probleme, die sich bei der
Wiedervereinigung stellen mußten. Seine Analyse "Wirtschaftliche Probleme der
Wiedervereinigung" vom September 1953 ist ein großartiges Dokument
vorausschauender Vorstellungskraft – nicht Planung –, die den menschlichen und
soziologischen Imponderabilien mehr zutraute als den rechenhaften Formeln
einer Planwirtschaft.


Erhards Entscheidung im Juni 1948 war eine Entscheidung gegen die
Zentralverwaltungswirtschaft. Eine Form der Verwaltungswirtschaft hat er nicht
voraussehen können. Die seitherige Überwucherung des Marktgeschehens mit
Regulierungen und Verhaltensvorschriften aller Art würde heute zu kennzeichnen
sein als eine dezentrale Verwaltungswirtschaft, deren Instrumente nicht mehr
Preis- und Mengenregelungen sind, sondern Produktionsverbote beziehungsweise
Genehmigungsvorbehalte mit langwierigen Verfahren, vom Antrag bei mehreren
zuständigen Behörden auf allen Ebenen bis zu gerichtlichen Entscheidungen in
letzter Instanz. Die Dauer derartiger Antragsbearbeitung bei besonders
kostspieligen Wartezeiten könnte den Gedanken nahelegen, dem Antragsteller
eine Art "Antragswartezeitversicherung" zu empfehlen: Im Wettbewerb
entscheidet nicht mehr der Markt, sondern die Bürokratie, ob Verwaltung oder
Gericht.


Eine weitere Folge des Interventionismus ist die Denaturierung des
Wettbewerbs. Mit den Subventionen ist es noch schlimmer geworden, als selbst
Erhard es für möglich gehalten hätte. Heute wird Wettbewerb von
Landesregierungen im Werben um die Ansiedlung von gewerblichen Steuerzahlern
betrieben mit dem Angebot günstiger Bedingungen, das heißt doch mit
wettbewerbsverzerrenden Sonderkonditionen. Dafür den Begriff des Wettbewerbs
zu gebrauchen, kann nur als Etikettenschwindel bezeichnet werden. Oder sollte
der Wettbewerb, aus der Sicht der Unternehmen, nur noch ein Wettlauf um
Subventionen sein?


Für Alexander Rüstow gehörte das Subventionsunwesen
zu den Sünden des Wirtschaftsliberalismus alter Prägung, eine Folge der
pluralistischen Entartung des Staates. Auch
Erhard verschloß nicht die Augen vor dieser Gefährdung des Staates, von
Rüstow noch drastischer formuliert: " ... daß
der Staat, der damit anfängt, die Bestien des Gruppeninteresses zu füttern,
damit endet, von ihnen aufgefressen zu werden". Diese Sorge gibt eine
Erklärung für die Formulierung "formierte Gesellschaft", die Erhard in seiner
Kanzlerzeit zur Heilung der "deformierten Gesellschaft" vorgeschlagen
hatte: die Gruppen wieder auf das Gemeinwohl zu verpflichten.


Das Problem der Arbeitslosigkeit hat Erhard immer mit dem weltweiten Maßstab
der Wettbewerbsfähigkeit gesehen. Das wäre sicher auch heute so. Walter
Euckens Warnung von 1951 lautete: "Wenn Millionen von Arbeitslosen da sind,
wird jede Regierung Vollbeschäftigungspolitik treiben müssen." Diese Warnung
war Erhard sicherlich nicht unbekannt, ebenso aber auch Euckens Warnung vor
der Unstabilität der experimentierenden Wirtschaftspolitik, die das Übel noch
vergrößere.


Angesichts der Weltkonjunktur ist das deutsche Phänomen gegenwärtig zu einem
großen Teil hausgemacht. Es ist die Erstarrung des Arbeitsmarktes, bei der, um
mit Erhard zu sprechen, Mobilität, Anpassungsfähigkeit, Elastizität der
Arbeitsbedingungen eingeschränkt, wenn nicht gar verloren gegangen sind. Diese
aber sind gefordert, wenn es gilt, sich in einem Markt mit stets wechselnden
Herausforderungen zu behaupten. Das gilt noch mehr für den weltweiten Maßstab.
Unsere Nachbarn haben die Erstarrung mit Erfolg aufgebrochen. Sie registrieren
mit stillem Verwundern, daß ausgerechnet das Land Erhards hinterherläuft.


In Rückbesinnung auf Erhard wird heute viel von Deregulierung gesprochen. Ob
sie vor dem kartellierten Arbeitsmarkt kapitulieren wird? Die Zweifel kommen
auf angesichts der jüngsten Formulierung, daß man eine "sozial regulierte"
Marktwirtschaft anstrebt. Was soll denn noch "sozial reguliert" werden? Ist
das vielleicht eine Kampfansage an die "Deregulierung"? Dann könnte schnell
die "sozial regulierte" Marktwirtschaft eine "sozial strangulierte"
Marktwirtschaft werden.


Erhards Mißtrauen gegen die Bürokratie und ihre Ambitionen erklärt auch seine
Distanz zu den Formen beziehungsweise Institutionen der europäischen
Integration. Nicht, daß er ein Gegner der europäischen Einigung gewesen wäre,
noch weniger ein Nationalist – das Gegenteil ist der Fall. Für ihn war die
Eingliederung Westdeutschlands in den Welthandel eine selbstverständliche
Bedingung für das Überleben des jungen Staates. Die Befreiung des
zwischenstaatlichen Handels- und Geldverkehrs von den kriegsbedingten Fesseln
war das große Ziel. Europa mußte den Anfang machen, angestoßen von der
amerikanischen Hilfe, dem Marshall-Plan.


Für Erhard waren die entstehenden Organisationen der europäischen
Zusammenarbeit nur Zwischenstationen, die nicht Selbstzweck werden durften, am
wenigsten die Gemeinschaft von nur sechs Staaten, wie sie Robert Schuman und
Jean Monnet in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der ihr
folgenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft initiiert hatten. Die
Herstellung des Gemeinsamen Marktes mit schrittweiser Verwirklichung der
Freizügigkeiten, dem Abbau der Binnenzölle und mengenmäßigen Beschränkungen,
schließlich auch die freie Konvertierbarkeit der Währungen, waren Erfolge, die
er begrüßte, zugleich aber auch als nicht ausreichend ansah: Die Befreiung des
Handels- und Zahlungsverkehrs sollte über die Gemeinschaft der sechs
EWG-Länder hinausgehen.


Seine Ungeduld und wohl auch geringes Verständnis für die Kompliziertheit der
administrativen Voraussetzungen wie der erforderlichen Rechtsangleichung im
Gemeinsamen Markt führte zu Meinungsverschiedenheiten mit Jean Monnet, dem
ersten Präsidenten der EGKS-Behörde, und Walter Hallstein, dem ersten
Präsidenten der EWG-Kommission. Erhard dachte funktional, Monnet
institutionell. Für ihn waren die Institutionen, allen voran die ausführenden
Kommissionen, unentbehrlich als das Gewissen und Gedächtnis für die Erfüllung
der Verträge. Später, während der Kanzlerschaft Erhards, als die bis dahin
schwerste Krise in der europäischen Integration beigelegt war, erkannte Monnet
freimütig an, daß er vollständiges Vertrauen zu Erhard und seinen Bemühungen
um die Fortsetzung der Integration gewonnen habe.


Bei Hallstein lag der Kern der Kontroverse etwas anders. In einem Memorandum
für die zweite Stufe der Integration zum Gemeinsamen Markt hatte Hallsteins
Kommission von der "ständigen Präsenz des Staates in der Wirtschaft"
gesprochen. Für die Vertragsjuristen, die vor der Aufgabe der
Rechtsangleichung standen, war diese Formulierung kaum mißverständlich. Erhard
dagegen sah mit der Präsenz des Staates in der Wirtschaft dessen ständige
Intervention oder Beteiligung im Marktgeschehen. Es kam zu einem
Streitgespräch zwischen Erhard und Hallstein vor dem Europäischen Parlament –
ein Höhepunkt in der Geschichte dieses Parlaments, aber man ging ohne
Verständigung auseinander. Ein Spaßvogel meinte damals, die beiden deutschen
Professoren hätten aneinander vorbeigeredet, so wie zwei windschiefe Geraden
nicht zueinander kommen könnten. Im persönlichen Gespräch beider wurde das
Mißverständnis zwischen Ökonom und Jurist dann ausgeräumt.

Beitrag teilen