Gemeinsinn und Verantwortung in der Sozialen Marktwirtschaft - Rede des Bundespräsidenten in Essen

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Bundespräsident Roman Herzog hielt vor dem Initiativkreis Ruhrgebiet
am 20. November 1997 in Essen folgende Rede:


Lieber Herr Hartmann,
meine Damen und Herren,


Alexander Mitscherlich hatte schon in den sechziger Jahren befürchtet, wir
würden eine Gesellschaft egoistischer "Einsiedlerkrebse"! Heute, im Zeitalter
der weltweiten Globalisierung, des zunehmenden Wettbewerbs, der Konfrontation
immer weiterer Bereiche mit den Gesetzen des Marktes melden sich - auch in
anderen Ländern - wieder ähnliche Stimmen. Sie beklagen nicht nur die
angebliche Globalisierungsfalle und das Ende der Wohlstandsgesellschaft; sie
sehen auch einen Niedergang von Gemeinsinn und Verantwortungsbereitschaft der
Bürger wie der Unternehmen. Der "Terror der Ökonomie", so der Titel eines
jetzt auch in Deutschland vielgelesenen französischen Buches, bewirke
Materialismus, Egoismus und Individualismus. "Marktwirtschaft total" bedrohe
die letzten moralischen Fundamente der Gesellschaft. Diesen gefährlichen
Trends müsse entgegengewirkt werden: durch die soziale Bändigung der
Marktkräfte; durch eine neue Moral; durch mehr Gemeinsinn.


Es ist richtig, eine Gesellschaft wäre zutiefst bedroht, wenn
Verantwortungsbereitschaft und Engagement der Bürger wie der Unternehmen für
ihr gesellschaftliches und regionales Umfeld nachließen oder gar abstürben.
Auch Markt und Wettbewerb werden sich als Ordnungsprinzipien nur legitimieren
können, wenn sie nicht nur zu Effizienzsteigerungen und mehr Marktanteilen
führen. Sie müssen auch moralisch überlegene, zumindest moralisch akzeptable
Steuerungsmechanismen sein. Globale Marktkräfte und soziale Grundwerte müssen
einander ergänzen. Umgekehrt wird aber auch eine Ethik nicht auf die Dauer
tragfähig sein, die mehr Beschäftigung, mehr Produktivität und damit die
ökonomischen Grundlagen für mehr Wohlstand ausschließt, Solidarität und
soziales Engagement dürfen effizientes Wirtschaften nicht verhindern.


Wir brauchen deshalb eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die
wirtschaftliche Dynamik, sozialen Zusammenhalt und Gemeinsinn in gleichem Maße
fördert und die Menschen motiviert, nicht durch Angst, sondern durch Hoffnung
und Perspektive. Gerade weil wir den innovativen Wandel wollen und brauchen,
müssen wir das Bedürfnis der Bürger nach materieller und psychologischer
Grundsicherung, Grundsolidarität und Grundvertrauen akzeptieren. Vertrauen ist
die zentrale Ressource für Wagemut und Innovationsbereitschaft. Mißtrauen,
Vereinzelung, Entsolidarisierung zerstören nicht nur den gesellschaftlichen
Zusammenhalt. Sie führen auch zu Blockaden und Stillstand, weil sie zu
Risikoscheu und Angst vor Veränderungen führen.


Wir müssen die Sorgen um das Versinken der Gesellschaft in Kälte,
Vereinzelung und Gleichgültigkeit also ernst nehmen. Die Gesellschaft darf
nicht im Globalisierungsschock erstarren. Wir müssen die Klagen aber auch an
den Fakten messen. Die Zusammenhänge sind komplexer, zugleich aber auch
einfacher, als manche meinen.


Mögliche Gefahren drohen dem Gemeinsinn in Deutschland meines Erachtens nicht
von zu viel, sondern eher von zu wenig Freiheit und Spielraum für den
einzelnen. Wer ist noch bereit, sich privat einzusetzen, wenn er das Gefühl
hat, das sei Sache des Staates, an den er - wie er glaubt - ohnehin zu hohe Steuern
und Abgaben zahlt? Mit dem Ausbau sozialer


Leistungen und staatlicher Aktivitäten - auch für die Wirtschaft - haben wir
jahrzehntelang darauf gesetzt, die Gemeinwohlverantwortung an den Staat zu
delegieren. Und heute wundert sich mancher über vermeintlich mangelnde
Initiative und abnehmende Solidarität.


Wir sind zu lange den Weg der Überforderung des Staates und der
gleichzeitigen Unterforderung des Individuums gegangen. Deshalb müssen die
Grenzen neu gezogen werden: zwischen Rechten und Pflichten, zwischen Staat und
privater Gesellschaft. Das ist auch kein einmaliges Erfordernis, sondern es
gehört zur Grundstruktur der Sozialen Marktwirtschaft. Denn soziale
Bedingungen verändern sich nun einmal mit der Gesellschaft. Die Attraktivität
der Sozialen Marktwirtschaft ist wesentlich auch darin begründet, daß sie sich
immer wieder auf diese Veränderungen einzustellen vermag. Sie ist nie fertig
und bleibt dauerhaft anpassungsbedürftig. Das müssen wir uns immer wieder -
was viel zu lange nicht geschehen ist - ins Bewußtsein rufen.


Marktwirtschaft und Wettbewerb sind weiterhin das beste Entdeckungsverfahren:
für neue Fragen und Probleme und
für die notwendigen innovativen Antworten und Lösungen. Handlungsbedarf
besteht aber immer wieder bei der Austarierung des Sozialen, gerade damit
dieses gleichgewichtige Element der Sozialen Marktwirtschaft auch in Zukunft
wirksam erhalten bleibt. Sozial ist - und auch das muß wieder
in die Köpfe hinein - nicht nur das, was die öffentliche Hand zum Wohle des
Empfängers bereitstellt. Sozial ist vor allem das, was den einzelnen zur
Eigenverantwortung befähigt und anreizt und was kleinere oder größere
Gemeinschaften zur Selbsthilfe und zur Hilfe für den jeweils Schwächeren
ermuntert. Selbst tätig werden muß der Staat nur, wo der einzelne sich nicht
helfen kann und auch nicht von seinem Umfeld aufgefangen wird.


Deshalb stimmt das Konzept, auch wenn die konkrete Rahmenordnung der Sozialen
Marktwirtschaft in Deutschland immer wieder angepaßt werden muß. Es muß wieder
stärker am ursprünglichen Freiheitsleitbild einer offenen Gesellschaft
ausgerichtet werden. Freiheit, Marktprinzip und zivile Gesellschaft stehen
eben nicht in einem unversöhnlichen Gegensatz zueinander. Wohlverstanden
fördern sie einander sogar. Ich bin deshalb Optimist. Entgegen vielen
Behauptungen verfällt die Gesellschaft in Deutschland nicht unaufhaltsam in
eine Ansammlung von Egoisten. Der vielbeschworene Individualisierungsschub
bedeutet nicht notwendig ein Mehr an Egoismus.


Die Menschen wollen auch bei uns immer mehr Subjekt des eigenen Handelns
sein. Ihren Gemeinsinn werfen sie dabei aber - nach meinen Beobachtungen -
nicht über Bord - weder in der Bürger- noch in der Wirtschaftsgesellschaft. Im
Gegenteil: Je größer die - auch finanziellen - Spielräume für
eigenverantwortliches Handeln, je geringer die staatliche Bevormundung und
Abschöpfung sind, desto größer wird nach meinem Eindruck die Möglichkeit, aber
auch die Bereitschaft zum verantwortlichen Engagement auch für den anderen.


Der Initiativkreis Ruhrgebiet ist dafür auf der regionalen Ebene ein gutes
Beispiel. 1989 vor allem von Rudolf von Benningsen, Bischof Hengsbach, Alfred
Herrhausen und Adolf Schmidt auf den Weg gebracht, leistet er jenseits
staatlicher Maßnahmen in vorbildlicher Weise einen Beitrag zum Gemeinwohl. Sie
nehmen ihre Standortverantwortung ernst: in einer von strukturellen Problemen
stark belasteten Region.


Besonders gefallen hat mir Ihre Unterstützung für das Projekt "Aus Ruhrkids
werden Zukunftskinder". Wir werden ja später noch konkret sehen, wie geschickt
die Ruhrkids mit dem Zukunftswerkzeug Computer umgehen können. Um die
Zukunftsfähigkeit der Jugend brauchen wir uns am wenigsten Sorgen zu machen,
eher schon um die der mittleren und älteren Generation - jedenfalls wenn man
meine Computerfertigkeiten als Maßstab nimmt. Was mir bei der Jugend Sorge
macht, ist die Frage, ob wir ihr genügend Chancen zur Verfügung stellen
können.


Die Unterstützung des Initiativkreises für Kultur, Sport, Wissenschaft und
Technik kann den Strukturwandel im Ruhrgebiet natürlich nicht allein bewirken.
Wer sich davon unmittelbar mehr Investitionen und Tausende neue Arbeitsplätze
verspricht, der überfordert den Initiativkreis. Ihre Arbeit kann aber viel für
das Image, die Atmosphäre und die Stimmung
im Ruhrgebiet tun. Alles wichtige Standortfaktoren, die die Attraktivität des
Ruhrgebietes als zukunftsträchtige Lebens-, Arbeits- und Investitionsregion
erhöhen.


Gerade das erscheint mir besonders wichtig. Denn nach wie vor klafft auch im
Ruhrgebiet eine große Lücke zwischen der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und
der tatsächlichen Wirklichkeit. Das hat das Ruhrgebiet im übrigen mit
strukturschwachen Regionen in den östlichen Bundesländern gemeinsam. Unterhalb
der Ebene der Krisenberichterstattung geschieht hier viel mehr Positives, als
die veröffentlichte Meinung
oft wahrnehmen will. Gerade mit dem Ruhrgebiet geht es wieder aufwärts.
Es ist ein gutes Stück seinem Ziel näher gekommen, sich vom "Zweibeiner" zum
"Tausendfüßler" zu verwandeln - von einer Kohle- und Stahlregion zu einem Wirtschaftsstandort
mit einem breiten Produktions- und Dienstleistungsspektrum.


Nicht nur private Initiativen wie der Initiativkreis Ruhrgebiet haben dabei
mitgeholfen, sondern auch die Zusammenarbeit der öffentlichen Hand mit
Unternehmen auf lokaler oder regionaler Ebene nach dem angelsächsischen
Vorbild der "Private-Public Partnership". Und dies ist richtig so. Seit
mehreren Jahren betreiben Investoren und die Stadt Duisburg die
Wirtschaftsförderung gemeinsam. Unternehmen stellen ihre Kenntnisse in den
Dienst einer lokalen Standortverbesserung, die dem Grundsatz folgt: gemacht
wird, was allen nützt. Dieses Modell kann auch anderswo Pate sein.


Ohnehin hat im Ruhrgebiet unternehmerisches Engagement zum Wohle des
Gemeinwesens eine gute, lange Tradition. Schon vor der Bismarckschen
Sozialgesetzgebung haben Unternehmen im Ruhrgebiet Betriebskrankenkassen
geschaffen, kommunale Krankenhäuser eingerichtet, Werkswohnungen gebaut oder
über Stiftungen Kultur und Wissenschaft gefördert. Heute fördern sie
Hochschulen und Fachhochschulen, bauen die Lehrlingsausbildung aus oder
stellen im Umfeld ihrer Produktionsstätten Flächen für die Ansiedlung junger
Unternehmen zur Verfügung.


So löst sich manches von dem übertriebenen Gegensatz, der mit dem
Schulenstreit zwischen "Shareholder Value"- und "Stakeholder"-Ansatz verbunden
ist. Jedes langfristig arbeitende Unternehmen weiß doch: Mein größtes Kapital
sind meine Mitarbeiter. Und nur in einer prosperierenden, attraktiven Region
kann auch ich unternehmerisch erfolgreich sein. Nur wenn ich beider Wohl in
meine Entscheidungen miteinbeziehe, sind Gewinn- und Aktienkurssteigerungen
wirklich von Dauer. Dies zu berücksichtigen ist nicht nur ein Gebot der
Unternehmensethik. Es liegt gleichzeitig im ureigenen Interesse jeder
Unternehmensleitung!


Nicht nur im Ruhrgebiet, sondern in der ganzen Bundesrepublik Deutschland
gibt es überzeugende Beispiele für Gemeinsinn und soziales Engagement. Von
aussterbender Hilfsbereitschaft, zunehmender Kälte und einem Zurückdrängen des
Sozialen kann so keine Rede sein. Ein nüchterner Blick auf die Zahlen belehrt
uns eines Besseren. Trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage ist im ganzen die
Spendenbereitschaft der Deutschen für soziale Zwecke immer noch beachtlich.
Vor allem aber das ganz persönliche Engagement hat nicht ab-, sondern sogar
zugenommen. Die Gesamtzahl der ehrenamtlich und freiwillig Tätigen in
Deutschland ist von etwa zweieinhalb Millionen in den sechziger Jahren auf
rund zwölf Millionen in den neunziger Jahren gewachsen. Ihr Anteil an der
Bevölkerung hat sich von fünf auf 17 Prozent erhöht und damit fast
vervierfacht.


Ebenso vielfältig wie die Formen freiwilliger und ehrenamtlicher Tätigkeit
sind die Felder, auf die sich dieses Engagement erstreckt. Gesundheit und
Soziales, Sport und Freizeit stehen an der Spitze. Aber nicht nur hier, auch
in der Kommunalpolitik, in den Parteien, in der Kultur, der Justiz, der
Jugendarbeit, im Katastrophenschutz, im Rettungswesen und bei der Freiwilligen
Feuerwehr, in der Wissenschaft oder beim Umweltschutz, vor allem in den
Familien spielt, entgegen allen Unkenrufen, ehrenamtliche Tätigkeit eine
große, ja eine wachsende Rolle.


Das gilt auch für die ehrenamtliche Tätigkeit in den Selbstverwaltungsorganen
der Wirtschaft, beim Arbeitsschutz, in der Tarifpolitik oder in der Aus- und
Weiterbildung. So sind in den Industrie- und Handelskammern rund 250000
Unternehmer oder Angestellte ehrenamtlich tätig; bei den Handwerkskammern
kommen noch einmal rund 200000 dazu. Auch die Politik will ich nicht
vergessen. Hunderttausende engagieren sich in Parteien, Kommunalparlamenten,
Ratsausschüssen oder als sachverständige Bürger - und die allermeisten tun es
ehrenamtlich und ohne Aussicht auf irgendeine Karriere.


Die Klagen von Kirchen, Parteien und Gewerkschaften über mangelnden Nachwuchs
sind gewiß ernstzunehmen. Besonders jüngere Menschen stehen heute den
althergebrachten Vereinen und Verbänden eher skeptisch gegenüber. Aber viele
sind gleichwohl zur Übernahme von Verantwortung bereit. Sie bevorzugen zum
Teil nur neue Organisationsformen: Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen oder
lose Zusammenschlüsse mit Aufgaben auf Zeit.


Ich warne auch davor, einen Widerspruch zwischen freiwilligem Engagement und
Selbstverwirklichung zu sehen. Beides schließt sich nicht zwangsläufig aus.
Denn indem jemand etwas für andere tue, tut er auch etwas für sich selbst.
Eine treibende Kraft in der menschlichen Natur ist nun einmal auch der
Eigennutz - Heilige gibt es natürlich auch, aber sie sind eher selten.


Wir "normalen" Menschen suchen die Chance, durch Mithilfe auch ein Stückchen
Sinn des Lebens, ein bißchen Freude, eine Portion Kommunikation und
Anerkennung, möglicherweise sogar eine kleine Gegenleistung zu bekommen.
Dienst für andere ist also auch Dienst an sich selbst. Diesen Wandel müssen
auch unsere Großorganisationen zur Kenntnis nehmen, wenn sie zukunftsfähig
bleiben wollen.


Die neuen Formen des Gemeinsinns sind um so wichtiger, als bei den
gegenwärtigen Sparzwängen vieles liegen bleiben muß, das bisher staatliche
oder staatsähnliche Institutionen erledigt haben. Gerade deshalb müssen wir
den vorhandenen Vorrat an Gemeinsinn phantasievoller als bisher aktivieren.


Bei alledem muß aber klar sein: Die Ressource Gemeinsinn gibt es nicht zum
Nulltarif. So sollte zum Beispiel die Erstattung für die Auslagen eines
ehrenamtlichen Helfers eine Selbstverständlichkeit sein. Ein weiterer Anreiz
sind Qualifizierungsangebote, sowohl für schon ehrenamtlich Tätige als auch
für die, die noch geworben werden sollen. Manchmal helfen vergleichsweise
geringe öffentliche oder private Zuschüsse, zum Beispiel in Gestalt von
Büromaterial oder Computern, um ungeahnte Multiplikatoreffekte auszulösen.


Vor allem braucht die Alternative zwischen vollbezahlter Erwerbsarbeit und
ehrenamtlicher Tätigkeit für Gotteslohn noch eine Ergänzung. Es müßte
dazwischen ein Drittes geben: Arbeit, gewiß nicht voll vergütet, aber nicht
mit Zuzahlungen aus der eigenen Tasche, sondern mit gesellschaftlicher und
vielleicht auch materieller Anerkennung versehen.


Das so verstandene Ehrenamt böte auch zusätzliche Perspektiven für die
Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Wir haben wichtige Arbeit, die nicht getan
wird, weil sie nicht bezahlt werden kann. Und wir haben Menschen, die keine
bezahlte Arbeit finden. Da müssen sich doch Brücken und neue
Zugangsmöglichkeiten finden lassen. Auch die Wirtschaft kann hier etwas tun:
Indem sie bei Einstellungen zum Beispiel die Qualifikationen aus dem Ehrenamt
berücksichtigt. Vieles, was Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter außerhalb ihres
Berufs tun, prägt ihre Persönlichkeit und schafft zusätzliche Fähigkeiten. Ihr
Arbeitsplatz, ihre Arbeitgeber profitieren davon.


Erfreulicherweise beschränken sich soziales Engagement, Ehrenamt und
freiwillige Tätigkeit in Deutschland nicht nur auf Bürger und Arbeitnehmer.
Auch das Engagement der Wirtschaft in der gemeinnützigen Stiftungsarbeit hat
sich in den letzten Jahren verstärkt. Der Bundesverband deutscher Stiftungen
verzeichnet 1997 fast 8000 Stiftungen. Vor drei Jahren waren es noch knapp
7000. Im Zeitraum von 1985 bis 1996 wurden fast genauso viele Einrichtungen
geschaffen wie in den 35 Jahren zuvor. Seit 1992 werden in Deutschland
alljährlich mehr als 200 neue Stiftungen errichtet. Fast jede dritte
Einrichtung dient nach ihrer Satzung sozialen Aufgaben. Ein knappes Fünftel
fördern Bildung und Ausbildung. 16 Prozent sind der Wissenschaft und Forschung
gewidmet, zwölf Prozent der Kunst und Kultur, sechs Prozent der Gesundheit und
drei Prozent der Umwelt.


Damit sind wir von den Verhältnissen in den USA mit über 50000 Stiftungen
zwar noch weit entfernt. Ich bin jedoch auch hier zuversichtlich: Wenn wir die
Rahmenbedingungen für die Stiftungen nur entsprechend günstig gestalten, kann
sich hier - auch angesichts eines privaten Geldvermögens von fast fünf
Billionen D-Mark - im nächsten Jahrzehnt ein "Dritter Sektor" neben Wirtschaft
und Staat entwickeln. Er könnte viele der dem Staat zugewachsenen oder
"aufgehalsten" Aufgaben übernehmen. Dann müssen künftig auch in Deutschland
die private und unternehmerische Dynamik und der Dienst am Gemeinwohl nicht
mehr getrennt betrachtet werden.


Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang ein Wort zum unternehmerischen
Sponsoring für kulturelle, wissenschaftliche, sportliche oder soziale Zwecke.
Manche schauen auf diese Form der betrieblichen Unterstützung für
Gemeinwohlanliegen kritisch, naserümpfend, auf jeden Fall aber von oben herab.
Warum? Weil sie - auch aus steuerlichen Gründen - eindeutig auch den einzelnen
Unternehmen und ihrem Ansehen nützen und weil dadurch eine sachfremde
Beeinflussung des Gemeinwohlanliegens befürchtet wird.


Ich halte das für eine Elfenbeinturmhaltung. Privates Sponsoring nutzt der
Gesellschaft. Sponsoren handeln natürlich oft aus Eigennutz. Sie handeln aber
auch nach der Grundgesetzmaxime: Eigentum verpflichtet. Wenn private Geldgeber
einspringen, weil die Staatskasse leer ist, ist das eindeutig besser als gar
nichts. Sponsoring ist aber auch gut, wenn die Staatskasse nicht leer ist.
Manche Institutionen müßten schließen; Universitäten könnten ihren Studenten
nur eine noch schlechtere Ausstattung bieten; viele Schüler kämen in ihrer
ganzen Schulzeit nicht mit einem einzigen Computer in Berührung, und viele
soziale Einrichtungen können überhaupt nur noch dank Sponsoren aus der
Wirtschaft ihre Arbeit leisten - von der AIDS-Hilfe über Jugendzentren bis zur
Unterstützung von Obdachlosen.


Ich begrüße es deshalb, daß die Sponsorentätigkeit der Wirtschaft jetzt durch
einen Erlaß des Bundesfinanzministeriums erleichtert worden ist. Sicher wird
man ein Auge auf die mit dem Sponsoring verbundene mögliche Beeinflussung des
jeweiligen guten Zwecks werfen müssen; ohnehin kann man auch durch das
Sponsoring den Staat nicht aus seiner Grundverantwortung entlassen. Nur: Wer
hier die reine Lehre vertritt, fördert nicht das Gemeinwohl, sondern er
verhindert gemeinsinnorientiertes Engagement der Bürger wie der Wirtschaft.


Mehr Markt und Wettbewerb, die angeblich zunehmende Vorherrschaft der
Ökonomie haben Bürgerengagement und Gemeinsinn in Deutschland also nicht
verdrängt. Ohnehin wird das tatsächliche Ausmaß der Veränderungen weg vom
Staat in der öffentlichen Diskussion häufig übertrieben. Ein Blick auf die
Fakten belegt, daß die Staatsquote in unserer Volkswirtschaft sehr hoch ist.
Von 32 Prozent im Jahre 1960 stieg der Staatsanteil in Deutschland über 48
Prozent im Jahre 1980 auf heute knapp 50 Prozent. Der Staat beansprucht also
immer noch fast die Hälfte des Sozialprodukts. Nun will ich nicht
verschweigen, daß sich darin die hohen staatlichen Leistungen infolge des
Vereinigungsprozesses widerspiegeln. Aber das allein begründet die hohe
Staatsquote nicht!


Angesichts dieser Situation kann keine Rede davon sein, daß in unserer
Sozialen Marktwirtschaft das marktwirtschaftliche gegenüber dem sozialen
Element inzwischen ganz überwiege. So glauben es aber nach einer jüngsten
Meinungsumfrage 54 Prozent der Deutschen.


Selbstverständlich brauchen wir ethische Rahmenbedingungen für die offene
Gesellschaft, also "Spielregeln" für das Verhalten der Marktteilnehmer: um
gleiche Startbedingungen sicherzustellen, den Mißbrauch marktbeherrschender
Positionen zu verhindern und generell den wirklich Schwachen zu schützen, der
sich nicht selbst helfen kann. Als Beispiele für diese Spielregeln nenne ich
nur das Kartell- und Wettbewerbsrecht, das Tarif- und Arbeitsrecht oder die
Umweltschutzregeln. Diese Spielregeln müssen aber auch immer wieder neu
befragt werden: Sind die Anreize wirklich richtig gesetzt? Machen sie das
erwünschte Verhalten auch lohnend? Lassen sie den notwendigen Spielraum für
Eigenverantwortung und Wagnismut - oder schreiben sie alles bis ins Detail
vor, wie das bei uns in Deutschland ein so beliebtes Spiel ist?


Vor allem dürfen die gesellschaftlichen und ethischen Anforderungen nicht so
formuliert werden, daß sie den einzelnen moralisch überfordern. Die Versuchung
zum regelwidrigen Verhalten wäre sonst zu groß und gilt nicht nur für die mit
den sozialen Sicherungssystemen verbundenen Anreize, sondern auch für das
Steuer- und Abgabensystem. Ludwig Erhard hat es auf den Punkt gebracht: "Die
Steuermoral ist gerade so gut oder so schlecht, wie die Steuerpolitik gut oder
schlecht ist." Rückbezüge von diesem Zitat auf aktuelle Vorgänge sind
natürlich nicht beabsichtigt. Gleichwohl wollte ich es Ihnen nicht
vorenthalten.


Damit die ethisch wünschenswerten Wirkungen der Sozialen Marktwirtschaft
realisiert werden, bedarf es also nicht des moralischen "Übermenschen". Sie
funktioniert mit den Menschen, wie sie nun einmal sind: mit einer
durchschnittlichen Moral. Man muß mit der durchschnittlichen Moral bis in die
obersten Vorstandsetagen der Politiker und der Wirtschaft rechnen.
Entscheidend ist der Ordnungsrahmen, der die ethischen Funktionsbedingungen
für die Soziale Marktwirtschaft festschreiben muß.


Ohnehin stehen Markt und Moral zueinander durchaus nicht in dem
unversöhnlichen Gegensatz, in dem sie oft gesehen werden. Wettbewerb und
Effizienz haben selber eine ethische Dimension. Der Wettbewerb kann zwar das
Problem der Knappheit materieller Güter nicht aus der Welt schaffen. Er
lindert es aber, indem er zu wirtschaftlichem, verschwendungsfreien Umgang mit
den in der Welt knappen Gütern zwingt. Nur Wettbewerb kann dauerhaft Arbeit
und Wohlstand schaffen, nur er kann Armut überwinden. Er zwingt Unternehmen,
sich durch Innovation im Markt zu behaupten und so ihre Arbeitsplätze zu
sichern und neue zu schaffen. Er eröffnet Außenseitern Chancen und löst
Konflikte friedlich. Vor allem: Der scheinbar unpersönliche, wettbewerbliche
Marktprozeß hält immer Alternativen offen. So schützt er auch vor privater
oder staatlicher Willkür und Ausbeutung und baut, wenn er funktioniert, auch
ungleichgewichtige Übermachtpositionen ab.


Sozialer Ausgleich ist nicht systemfremdes Anhängsel, sondern inhärentes,
konstitutives Element der Marktwirtschaft, die deshalb Soziale Marktwirtschaft
heißt. Deshalb haben wir weiterhin alles zu tun, daß Markt und Wettbewerb, daß
die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland den Menschen nicht als
angsteinflößende Bedrohung gegenübertritt. Sie muß den Bürgern glaubwürdig als
Chance für die Zukunft erscheinen. Das hängt auch von unserem, von Ihrem
Verhalten ab.


Wir brauchen ein neues Bündnis von Ökonomie und Menschlichkeit, von
Marktwirtschaft und Verantwortung, von Wettbewerb und Gemeinsinn. Nicht Ethos
gegen Markt ist die Alternative, die Versöhnung von Markt und Ethos ist unsere
Aufgabe. Und ich sage es bewußt hier vor Unternehmern noch einmal: Das ist
eine Frage des vorbildlichen Verhaltens und des öffentlichen Bekundens.