Ansprache von James Baker, ehemaliger Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika,

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Herr Bundespräsident,
Frau Bundeskanzlerin,
verehrte Würdenträger,
Exzellenzen,
liebe Barbara Genscher,
meine Damen und Herren,

zunächst möchte ich meine tiefempfundene Anteilnahme aussprechen. Vor allem Dir, liebe Barbara und der Familie, und auch dem deutschen Volk. Wir alle haben einen wunderbaren Freund und einen bemerkenswerten Menschen verloren.

Ich empfinde es als eine besonders große Ehre, dass man mich gebeten hat, heute einige Worte über meinen Freund und Kollegen Hans-Dietrich Genscher zu sagen. Ich spreche im Namen der vier US-Präsidenten und der sechs US-Außenminister beider politischen Parteien, die das Privileg hatten, mit diesem bemerkenswerten Staatsdiener in seiner Rolle als Deutschlands dienstältester Vize-Kanzler und Außenminister zusammenzuarbeiten.

Hans-Dietrich, wie wir heute Morgen schon gehört haben, war ein wahrhaft heroischer Staatsmann, dessen tiefgründige Weisheit und standhaftes Handeln Deutschland und Europa geprägt und dazu beigetragen haben, die Welt für uns alle zu einem sichereren und besseren Ort zu machen.

Jeder, der Hans-Dietrich kannte, begriff, dass dieser Titan unter den Diplomaten Europas seine Aufgabe in einer zutiefst wahrhaftigen und ethischen Art und Weise wahrnahm. Das wurde mir jedes Mal erneut deutlich, wenn ich meinen Freund anrief und er den Anruf stets direkt und geradeheraus mit den Worten: „Genscher hier“ annahm. Ich wusste immer, woran ich bei ihm war.

Aber man täusche sich nicht: Er war äußerst schlau und verstand es gut, sein Gegenüber einzuwickeln. Aber er war auch brutal offen und ehrlich, Charakterzüge, die einem Staatsmann gut anstehen, der stets die Interessen seines Landes klar vor Augen hatte.

Ich sollte zunächst offen ein Eingeständnis machen. Ich sollte etwas eingestehen, was mir heute so unwirklich vorkommt. Wir hegten nämlich einen gewissen Argwohn gegenüber Hans-Dietrich, als ich unter Präsident Ronald Reagan Stabschef im Weißen Haus war und ihm 1981 zum ersten Mal begegnete. Ehrlich gesagt herrschte unter den Vertretern der Regierung Reagan seinerzeit die Meinung vor, Hans-Dietrich Genscher stehe etwas zu weit links.

Damit lagen wir natürlich vollkommen falsch! Wie sich herausstellte, wurde Hans-Dietrich einer der besten Freunde Amerikas seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, und als ehemaliger deutscher Kriegsteilnehmer begriff er, welche historischen, wirtschaftlichen und strategischen Vorteile eine starke transatlantische Beziehung mit sich bringt. Er war mir ein verlässlicher Partner in unserem gemeinsamen Bemühen, die Wiedervereinigung Deutschlands und ein friedliches Ende des Kalten Krieges herbeizuführen, der 45 Jahre lang eine Bedrohung für uns alle gewesen war.

Er und ich und Eduard Schewardnadse, der damalige Außenminister der Sowjetunion, entwickelten eine sehr enge Beziehung zueinander und waren mehr als nur Amtskollegen. Er und ich waren die einzigen Nicht-Georgier, die bei der Beisetzung Schewardnadses eine Rede hielten.

Hans-Dietrich war ein Mann des Augenblicks. Kraftvoll und bisweilen ungeduldig wusste er jene zeitlich begrenzten Chancen zu nutzen, die die Geschichte manchmal bietet.

Eine solche Chance bot sich am 9. November 1989, als die Berliner Mauer fiel. Im Vorfeld hatte Hans-Dietrich natürlich schon einen Beitrag dazu geleistet, den Fall der Mauer zu beschleunigen, indem er die sichere Ausreise der in der Prager Botschaft festsitzenden DDR-Bürger in den Westen aushandelte.

Bundeskanzler Helmut Kohl und sein Außenminister, die verschiedenen politischen Parteien angehörten, ergriffen diesen Moment, um ihr Land als Mitglied der Nordatlantischen Allianz wieder zu vereinen. Ich bin sehr stolz auf die Rolle, die Präsident George H. W. Bush und ich dabei spielten.

Angesichts der Besorgnis auf britischer, französischer und sowjetischer Seite, dass die Geschichte sich wiederholen könne, wenn Deutschland wiedervereinigt wäre, traf Hans-Dietrich genau den richtigen Ton, als er sagte: „Wir wollen kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland schaffen.“

Er war ungeheuer stolz auf seine Heimat und seine Landsleute.

Ich werde nie vergessen, wie er mich mitnahm nach Halle, seine wunderschöne Vaterstadt, wo er auch studiert hatte. Als wir durch die malerische Altstadt gingen, begegneten ihm die Menschen als wäre er ein Rockstar. Er erzählte mir einmal, dass seine alte Oberschule nach ihm benannt werden solle und fügte schnell hinzu: „Meine alten Lehrer wären in Ohnmacht gefallen, wenn ihnen jemand gesagt hätte, die Schule werde nach mir benannt.“

Auch als ich Leipzig 2014 zum 25. Jahrestag der Proteste in der Nikolaikirche besuchte, wurde er wie ein Rockstar empfangen, und eine große Menge von Deutschen folgte uns unter lauten „Genscher, Genscher, Genscher“-Rufen.

Die Deutschen schienen etwas begriffen zu haben, was auch ich im Umgang mit Hans-Dietrich erfahren habe. Er war ein unermüdlicher Verhandlungsführer, der stets das für Deutschland beste Verhandlungsergebnis erzielte. Wie wir in Texas zu sagen pflegen: Er konnte zäh wie das Leder eines texanischen Cowboystiefels sein.

Im Februar 1990 kam Hans-Dietrich zu Gesprächen in mein Büro im State Department. Ich schlug vor, die Verhandlungen über die Bedingungen für die Wiedervereinigung Deutschlands und den Weg dorthin unter Einbeziehung der vier Besatzungsmächte – Frankreich, das Vereinigte Königreich, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten – und der beiden deutschen Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu führen. Es wurde hierfür die Kurzbezeichnung „Vier-plus-Zwei“ vorgeschlagen.

Hans-Dietrich war damit einverstanden, hatte aber einen Vorbehalt, auf dem er bestand: „Das ist ok“, sagte er, „aber es muss ‚Zwei-plus-Vier‘ heißen.“ Und so einigte man sich auf die Bezeichnung „Zwei-plus-Vier“ und anerkannte damit zu Recht, dass die Ost- und Westdeutschen bei der Wiedervereinigung ihres Landes das Sagen haben sollten.

Wie wir heute Morgen schon gehört haben, hatte Hans-Dietrich das große Glück, seine wunderbare Frau mit ihrer unverbrüchlichen Liebe und Unterstützung an seiner Seite zu haben und er hatte ebenso das Glück, sehr fähige Mitarbeiter, darunter Männer wie Frank Elbe und Dieter Kastrup, in seinem Stab zu haben.

Ich werde nie vergessen, wie er mich am Tag nach dem Mauerfall anrief und seine Sekretärin mir sagte: „Mister Secretary, bevor ich Minister Genscher zu ihnen durchstelle, möchte ich nur sagen: God Bless America.“

Und so, meine Damen und Herren, möchte ich schließen mit den Worten:

Gott segne Deutschland.
Und Gott segne Hans-Dietrich Genscher.

(Simultanübersetzung aus dem Englischen)