Abschiedsrede von Bundespräsident a.D. Johannes Rau

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Herr Bundestagspräsident!
Herr Bundesratspräsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich bin in den vergangenen Wochen oft gefragt worden, ob ich im Hinblick auf das Ende meiner Amtszeit wehmütig sei. Ich habe wahrheitsgemäß geantwortet: Nein. Der Wechsel ist ein Wesenszug der Demokratie. So wie meine Vorgänger ihre ganz besonderen Begabungen in das Amt des Bundespräsidenten eingebracht haben, so habe auch ich das zu tun versucht, und so werden es auch Sie, Herr Bundespräsident Köhler, tun – dessen bin ich mir ganz sicher.

Aber es ist doch ein ganz besonderer Tag für mich, denn eine lange politische Wegstrecke geht nun zu Ende. Im Dezember 1952 gewann mich Gustav Heinemann für seine neue Partei. Heute übergebe ich das Amt, das er einst innehatte, an meinen Nachfolger. Ich habe viel erlebt in diesen Jahren und ich durfte teilhaben an entscheidenden Entwicklungen und Ereignissen in der Geschichte unserer Republik.

Darum empfinde ich in diesem Augenblick vor allem Dankbarkeit. Ich will deshalb zunächst Dank sagen – zuallererst meiner Frau, die mich zusammen mit meiner Familie in den vergangenen Jahren so großartig unterstützt und dabei soviel Verständnis für manche Zumutung gezeigt hat. Ich möchte ihr ganz besonders dafür danken, mit wie viel Einsatz und Erfolg sie das in der Verfassung gar nicht vorgesehene Amt der Frau des Bundespräsidenten in ihrem eigenen Stil ausgefüllt hat.

Ich danke meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundespräsidialamt, die mir in diesen Jahren zur Seite standen, und den vielen Menschen, die mir in ganz unterschiedlichen Funktionen geholfen haben, die mich beraten, die mich begleitet, die mich beschützt haben – sie alle sind auch gemeint, wenn ich selber in diesen Tagen den Dank anderer erfahre.

Ich will keine Bilanz der vergangenen fünf Jahre ziehen. Aber zwei Gedanken sind mir doch wichtig.

Erstens: Im kommenden Jahr erinnern wir uns an den 60. Jahrestag des Kriegsendes. Viele Menschen haben inzwischen ein sehr nüchternes Verhältnis zu solchen Gedenktagen. Für mich und für viele Menschen meiner Generation ist das anders. Ich habe die Befreiung von der Diktatur noch selber erlebt und ich habe erfahren, wohin diese Diktatur geführt hat. Ich habe erlebt, wie sich ein Volk veränderte, wie verführbar Menschen sind, und wie ein menschenverachtendes Regime die Welt mit Krieg und Zerstörung überzog. Ich habe erlebt, wie Menschen verschleppt wurden und nie mehr wiederkehrten. Ich habe furchtbare menschliche Tragödien erlebt. Ich war Zeuge schrecklicher Bombenangriffe.

Ich sage das, weil die Erinnerung an diese Zeit häufig zum bloßen Ritual geworden ist und weil wir dadurch den Blick verlieren für ein großes Geschenk, das mich bis heute mit großer Dankbarkeit erfüllt. Deutschland hat eine zweite Chance erhalten, und wir haben diese Chance genutzt. Unser Volk lebt seit sechs Jahrzehnten in Frieden. Wir leben zum ersten Mal in unserer Geschichte in Freundschaft mit allen unseren Nachbarn und gestalten ein Europa des Friedens.

Ich wünsche mir, dass wir daran gelegentlich denken, wenn uns im politischen Tagesgeschäft Kleinmut überfällt oder wenn die politischen Auseinandersetzungen allzu kleinlich werden.

Ich wünsche mir auch, dass wir uns der Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts bewusst bleiben. Rechtsstaatlichkeit, der unbedingte Einsatz für Menschenrechte und die Bereitschaft zu fairem Ausgleich haben uns zu einem weltweit geachteten Mitglied der Völkergemeinschaft werden lassen. Wir tragen Verantwortung – das ist eine Verpflichtung, die über die Wahrung der eigenen Interessen weit hinaus geht. Das hat uns viel Vertrauen eingebracht.

Dabei liegt mir ein Land und die Freundschaft zu seinen Menschen besonders am Herzen, und ich will heute wiederholen, was ich im Jahr 2000 vor der Knesset gesagt habe: "Die Mitverantwortung für Israel ist ein Grundgesetz deutscher Außenpolitik seit der Gründung unseres Staates." Das galt ganz unabhängig von Regierungen und politischen Entscheidungen und Handlungen – und das muss auch in Zukunft gelten.

Auch der zweite Gedanke hat mit Verantwortung zu tun – mit der Verantwortung füreinander.

Nach dem Amoklauf eines Schülers in Erfurt habe ich bei der Trauerfeier für die Opfer dieses unfassbaren Verbrechens gesprochen. Das war eine der schwierigsten Reden, die ich je zu halten hatte. Ein Satz war mir besonders wichtig: "Wir müssen einander achten und wir müssen aufeinander achten."

Viele haben mir damals zugestimmt. Wir sollten uns aber nicht nur in Zeiten von Unglück und Krisen, nicht nur bei Hochwasser oder anderen Katastrophen an das erinnern, was eine Gesellschaft erst menschlich macht. Unser Land lebt vom Fleiß und dem Einfallsreichtum seiner Menschen. Unser Land lebt aber auch von Solidarität und Mitgefühl, von praktizierter Nächstenliebe. Es ist schrecklich, wenn Menschen keine Arbeit finden, und es muss die wichtigste Aufgabe der Politik bleiben, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Noch schlimmer aber ist es, wenn Menschen keinen Platz in der Gesellschaft finden. Wir tragen Verantwortung füreinander, und es gibt keine menschliche Gesellschaft ohne Solidarität. Das gilt im Kleinen wie im Großen.

Solidarität ist mehr als das Bündnis der Schwachen mit den Schwachen. Solidarität heißt, dass die Starken für die Schwachen einstehen. Solidarität heißt, dass wir Verantwortung füreinander übernehmen: Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Arbeitende und Arbeitslose. Solidarität heißt, dass jeder dem Land gibt, was er kann. Und es bedeutet, dass wir gelegentlich das Wohl der ganzen Gesellschaft über die eigenen Belange stellen – in Ost und West, in den starken und in den schwächeren Regionen unseres Landes. Dieser Zusammenhalt in Deutschland war mir eine Herzenssache.

Ich  habe mich in den vergangenen fünf Jahren bemüht, für die Mehrheit zu sprechen und zugleich den Minderheiten zur Sprache zu verhelfen. Ich bin unendlich vielen Menschen begegnet, mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, Begabungen, Stärken und Talenten. Jeder Mensch in unserem Land, ganz gleich woher er kommt, was er glaubt, was er leistet oder verdient, hat seine eigene Geschichte und seine eigene Würde.

Ich bin dankbar für das Vertrauen, das mir so viele Menschen entgegengebracht haben und für die Offenheit, mit der sie mir begegnet sind. Ich wünsche Ihnen, Herr Bundespräsident, dass Sie die gleiche Offenheit und das gleiche Vertrauen erfahren. Bei aller Kritik – es ist ein wunderbares Land, in dem wir leben.

Ich wünsche unserem Land Mut, Zuversicht und Gottes Segen.