abschied von wolfgang zeidler - ansprache von bundesverfassungsrichter a. d. prof. dr. steinberger

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bundesverfassungsrichter a. d. professor dr. helmut
steinberger, direktor am max-planck-institut fuer
auslaendisches oeffentliches recht und voelkerrecht in
heidelberg, hielt nachstehende ansprache:

hochverehrter herr bundespraesident,
verehrte, liebe frau zeidler,
lieber andreas zeidler,

den vorsitz in einem senat des bundesverfassungsgerichts
zu fuehren, ist keine leichte aufgabe. als wolfgang zeidler im
november 1975 - zur gleichen zeit wie ich - in den 2. senat
des bundesverfassungsgerichts eintrat, begann es denn
auch mit einem paukenschlag: bei beratung der ersten
sache sah der senat sich gehalten, sogleich von amts
wegen zu pruefen, ob die ernennung wolfgang zeidlers zum
richter dem gesetz entspraeche. eine aenderung des
gesetzes ueber das bundesverfassungsgericht wenige jahre
zuvor hatte die wiederwahl von verfassungsrichtern
ausgeschlossen. er aber war bereits einmal verfassungsrichter
gewesen. der senat entschied nach einigen wochen, die
besetzung sei ordnungsgemaess, ein stimmverhaeltnis gibt die
entscheidung nicht an.
so richtig in der sache dieser vorgang war, er konnte als
duesterer auftakt fuer die kuenftige senatsarbeit erscheinen,
abtraegliche persoenliche spannungen verheissen. - es sollte
anders kommen.
gewiss, jeder der richter in diesem senat hatte seine ecken
und kanten - und im bundesverfassungsgericht entwickeln
gelegentlich selbst primadonnen und mimosen sperrige
konturen. wolfgang zeidler war nicht eben der
schmiegsamste unter ihnen. aber durch seine gelassene wie
humorvolle art foerderte er in kurzer zeit das entstehen eines
arbeitsklimas im senat, wie es ueber zwoelf jahre besser nicht
haette sein koennen.
er war ungemein fair in der leitung von beratungen: da
wurde kein wort abgeschnitten, kein standpunkt
ausmanoevriert. auch die haertesten auseinandersetzungen blieben
sachlich und waren nie persoenlich verletzend, selbst
gelegentliche zornesausbrueche loesten kaum je persoenliche
verstimmungen aus, und der hanseate, an ungestueme see
gewoehnt, verstand es, mit hintergruendigem humor die
wogen zu glaetten. wolfgang zeidler widerstand im senat
jedem anflug hierarchischer allueren, sie fuehren in diesem
gericht ohnehin nicht weit. er wusste, dass er vorsitzender,
nicht aber vorgesetzter war.
die offenheit des arbeitsklimas im senat liess von
vornherein die bildung von fraktionen nicht aufkommen, die
gegensaetze wurden im senat selbst, nicht hinterruecks in
fraktionsbesprechungen ausgetragen. bei beginn der
beratung jedes falles war das ergebnis offen. die
mehrheiten bildeten sich kreuz und quer, am allerwenigsten
nach parteipolitischen zugehoerigkeiten. dies wie auch die
ausserordentlich hohe zahl einstimmig beschlossener
entscheidungen spiegelt das grundvertrauen wider, das im
senat herrschte. dabei war nicht kameraderie am werk, bei
der der eine wider besserer ueberzeugung entschieden
haette, nur um dem anderen nicht weh zu tun. ein solches
arbeitsklima ist gewiss das verdienst aller beteiligten. aber
niemand kann es gruendlicher verderben als der vorsitzende.
wolfgang zeidler hat dieses klima zu pflegen verstanden.
dafuer schulden wir kollegen ihm dank und anerkennung.
seine leitung oeffentlicher verhandlungen hat ihm
vielstimmiges lob eingetragen. seine dabei so gelassen,
schlagfertig und souveraen anmutende art beruhte freilich auf
genauester vorbereitung.
den einfluss wolfgang zeidlers auf den inhalt der
rechtsprechung des bundesverfassungsgerichts zu erlaeutern,
begegnet engen grenzen des beratungsgeheimnisses. er hatte
keine berichterstattungen in senatsverfahren uebernommen
und demgemaess keine entscheidungsentwuerfe verfasst.
seine beitraege in der beratung indes waren von gewicht. er
suchte die grossen linien eines problems aufzuzeigen oder
zu unterstuetzen, seine loesungsvorschlaege waren bisweilen
kuehn und verwegen, aufs ganze gesehen aber von
nuechterner ausgewogenheit und praktischem sinn. dogmatische
feinheiten interessierten ihn nicht. nur ein mal sah er sich
veranlasst, ein ergebnis, das er mitgetragen hatte, in einem
sondervotum abweichend zu begruenden, und nur ein
weiters mal verlautbarte er seine gegenstimme zu einer
entscheidung - ohne jedes wort der begruendung, man wird
nicht fehlgehen in der annahme, dass dies geschah, um
missdeutungen zum nachteil der bundesrepublik
deutschland auszuschliessen.
wolfgang zeidler fuehlte sich nicht als halbgott in roter robe.
er war nicht der meinung, dass die bundesrepublik von
karlsruhe aus regiert werde oder regiert werden sollte. darin
kann man ihm nur beipflichten, die grossen politischen
leitentscheidungen dieses staates - etwa seine eingliederung
in die westlichen sicherheits- und wirtschaftsbuendnisse, die
ostpolitik und ihre vertraege, die ordnungspolitischen
entscheidungen zugunsten einer sozialen marktwirtschaft, der
mitbestimmung und der sozialen sicherheit - sind von den
politischen organen gefaellt, aber nicht vom
bundesverfassungsgericht gelenkt oder vereitelt worden.
wolfgang zeidler betrachtete das grundgesetz nicht als
gefaengnis fuer politik, und politisches handeln nicht in erster
linie als vorprogrammierten verfassungsvollzug. sicherlich,
die politischen staatsorgane hatten die verfassungsrechtlichen
kompetenzen, die verfahren und die grundrechte zu
beachten. aber jenseits dieser - gewiss bedeutsamen -
markierungen lag fuer ihn das offene feld politischer
gestaltungsfreiheit. und diese freiheit, die ihm zugleich
verantwortung fuer das gemeinwohl war, wollte er als richter
respektiert wissen - auch dort, wo sie risiken fuer den buerger
mit sich bringt, wie im bereich der aussen- und
verteidigungspolitik oder bei der grundentscheidung fuer die
friedliche nutzung der kernenergie.
er hatte einen wachen sinn fuer den wandel politischer und
gesellschaftlicher verhaeltnisse. das grundgesetz war ihm
offen fuer solchen wandel. und er war bereit, auch die
entscheidungen des bundesverfassungsgerichts im blick
auf solchen wandel jeweils von neuem behutsam zu
ueberdenken, entscheidungsmassstaebe fortzuentwickeln und
erforderlichenfalls zu aendern oder gar abzubrechen. in der
zeit seines vorsitzes hat der 2. senat erstmals in der
geschichte des bundesverfassungsgerichts eine fruehere
rechtsprechung ausdruecklich aufgegeben, er tat es ein
weiteres mal im vergangenen herbst in einer frage, die den
grundstatus der parlamentsabgeordneten betrifft.
das grundgesetz war fuer wolfgang zeidler nicht
herrschaftsinstrument der reichen und maechtigen, der
bourgeoisie, dieser oder jener klasse. die maenner und frauen,
die es im parlamentarischen rat erarbeitet und in den
landtagen verabschiedet hatten, waren weder reich noch
maechtig gewesen. zeidler bejahte eine sittliche pflicht, das
grundgesetz und die verfassungsmaessige rechtsordnung zu
beachten. platon, thomas von aquin, leibniz und kant
haetten - jedenfalls in diesem punkt - ihre helle freude an
ihm gehabt. durch allen wertagnostizismus hindurch
leuchtete hier das licht der sittlichen pflicht und der idee der
gerechtigkeit auf. immer wieder stellte er in beratungen die
frage, ob die vorgeschlagene loesung auch gerecht sei.
akademischer und selbst fachrichterlicher spott, hierbei
verfassungslyrik zu betreiben, liess ihn kalt. er hatte ueber
das konkrete schicksal von menschen zu entscheiden, und
da wurde es ernst, in manchen faellen, wie etwa im
strafverfahrens- oder auslieferungsrecht, mitunter todernst.
als mann starker eigener ueberzeugungen war wolfgang
zeidler von grosser offenheit und toleranz. toleranz war ihm
freilich nicht ein inhaltlicher eintopf aus dem allerlei von
ideen und weltanschauungen, sie war eine haltung dem
anderen gegenueber, naemlich die achtung davor, dass auch
der andere sich um die rechte erkenntnis, um die wahrheit,
konkret: um die gerechte entscheidung bemueht.
den vielfaeltigen versuchungen, die ein hoechstes richteramt
mit sich bringt, hat er oftmals widerstanden, anderen ist er
erlegen. bei seinen oeffentlichen aeusserungen hat er
gelegentlich die grenzen ueberschritten, die richterliche
zurueckhaltung gebietet. denn hohe richteraemter sind nicht
uebertragen, um privaten meinungen besondere schubkraft zu
verleihen. die grenzen der meinungsaeusserungsfreiheit sind
dann zu lasten der amtspflicht ueberschritten wenn sich bei
vernuenftiger betrachtung nicht ausschliessen laesst, dass die
rechtliche bewertung einer frage vor die schranken des
gerichts geraten koennte. wir haben bei solchen anlaessen
im senat nicht mit kritik gespart. er hat sich dieser kritik
mannhaft gestellt und hat nicht nach ausfluechten gesucht.
wehleidigkeit lag ihm nicht.
ich bitte um nachsicht, wenn ich - selbst im rahmen eines
staatsaktes - mit einigen eher privaten bemerkungen
schliesse. wolfgang zeidler hat sein persoenliches verhaeltnis
zu mir als sehr eng und vertraut, ja als freundschaftlich
betrachtet. wir waren weggefaehrten ueber zwoelf prall erfuellte
jahre. wir hatten verabredet, nach unserem ausscheiden
aus dem gericht fachlich wie persoenlich weiterhin engsten
kontakt zu halten, sein jaeher tod hat dem ein allzu fruehes
ende gesetzt.
wolfgang zeidler hat sich als atheisten bezeichnet. dies will
ich auch hier achten und nicht daran herumdeuteln, zumal
er sich dessen nicht mehr erwehren koennte. aber er wird es
auch nicht verargen, wenn ihm der weggefaehrte aus seiner
sicht der welt einen letzten wunsch mitgibt, einen wunsch,
der auf einem grabstein unweit meines heimatdorfes in
oberbayern eingemeisselt ist: der herr gebe ihm dereinst
eine froehliche auferstehung.
ihnen, verehrte, liebe frau zeidler und ihrem sohn, gilt
unsere anteilnahme. sie, frau zeidler, haben auch in
menschlich schwierigsten lagen eine beispieafte haltung
und wuerde bewahrt. dafuer danken wir ihnen zutiefst.
die richterinnen und richter des bundesverfassungsgerichts
pflegen ihren vorsitzenden und praesidenten
aufrecht gegenueberzutreten. vor unserem toten vorsitzenden
und praesidenten verneigen wir uns.
worte des bundespraesidenten
bundespraesident richard von weizsaecker wuerdigte
professor dr. wolfgang zeidler mit folgenden worten:
vor knapp zwei monaten haben wir wolfgang zeidler an
dieser stelle geehrt und aus dem hoechsten richteramt
unseres landes verabschiedet. wir haben ihn dabei wieder
so erlebt, wie wir ihn seit jahren kannten: als einen mann
voller geistiger und moralischer vitalitaet. sie paegte sein
wirken als richter und seine plaene fuer die zukunft. nun ist
sein schaffendes und schoepferisches leben allzu frueh zu
ende gegangen.
wolfgang zeidler hat zeit seines beruflichen lebens
unserem volk und seinem staat gedient. er hat unser
oeffentliches leben mitgestaltet, der gerechtigkeit und der
vernuenftigen ordnung verpflichtet. in diesem sinne folgte er
seiner inneren berufung als richter.
ichter sein, heisst objektiv sein. wolfgang zeidler war von
dieser einsicht zutiefst geleitet. aber er tat diesem gebot
nicht durch die flucht in eine graue abstraktion genuege.
seine rechtsanwendung war ebenso gewissenhaft wie
lebensnah.
stets blieb er sich treu. seine persoenlichen auffassungen
zum leben und zusammenleben waren offen und
hellsichtig, gepraegt von gesundem sinn und geschliffenem geist.
er verstand sich nicht als politiker, aber er war ein politisch
denkender mensch, wie es auch dem streng rechtlich
wirkenden verfassungsrichter zukommt. wolfgang zeidler liebte
es, seinen standpunkt zu akzentuieren. er nahm keine
unfehlbarkeit fuer sich in anspruch, und er scheute sich
weder, kritik zu ueben, noch sie entgegenzunehmen. seine
temperamentvolle teilnahme an oeffentlichen kontroversen aber
setzte ihn, den unbestechlichen und unabhaengigen geist, nie der
sorge einer voreingenommenheit im richteramt aus.
er wirkte unserem verfassungsstaat zum wohle. und es ist
kein zufall, dass gerade in den jahren seiner praesidentschaft
unser bundesverfassungsgericht auch ausserhalb der
grenzen unseres landes als vorbildliche einrichtung
wahrgenommen wurde.
die qualitaet unseres systems laesst sich nicht trennen von
den menschen, die es tragen. unsere staatliche ordnung ist
nicht automatisch gewaehrleistet, sie bewaehrt sich in der
glaubwuerdigkeit ihrer vertreter. wolfgang zeidler hat sie in
beispieafter weise bekraeftigt.
sein tod ist fuer uns alle ein schwerer verlust. wir trauern mit
ihnen, verehrte frau zeidler, und mit ihrem sohn. wir wollen
das leid um den heimgang ihres mannes und vaters, aber
auch die fortlebende erinnerung an ihn mit ihnen teilen.
wir nehmen abschied von wolfgang zeidler in grosser
dankbarkeit fuer sein leben.