- Bulletin 41-88
- 23. März 1988
am 18. maerz 1988 nahm die bundesrepublik deutschland
in einem staatsakt, verbunden mit einem pontifikalrequiem
in der domkirche st. eberhard in stuttgart, abschied von
kurt georg kiesinger, bundeskanzler der bundesrepublik
deutschland von 1966 bis 1969. in anwesenheit der
angehoerigen, von repraesentanten des deutschen bundestages,
der bundesregierung und des diplomatischen korps sowie
vertretern der bundeslaender, des oeffentlichen lebens und
der kirchen wuerdigten der bundespraesident, der
bundeskanzler und der ministerpraesident des landes baden-wuert-
temberg leben und verdienste kurt georg kiesingers.
bundespraesident richard von weizsaecker hielt
folgende ansprache:
wir haben uns hier in der st.-eberhard-kirche versammelt,
um kurt georg kiesinger zu ehren und ihnen, verehrte frau
kiesinger, und allen angehoerigen in ihrer trauer um einen
geliebten menschen zur seite zu sein.
wir gedenken eines staatsmannes, der mit leidenschaft
und autoritaet am aufbau unseres demokratischen staates
mitgewirkt, der mehr als zwei jahrzehnte die deutsche
nachkriegsgeschichte mitgestaltet und in einer ihrer
wichtigsten phasen die politischen geschicke der bundesrepublik
deutschland gelenkt hat.
wir gedenken eines weitblickenden menschen, der kritisch
und selbstkritisch den stroemungen der jahrhunderte bis in
ihre wurzeln nachspuerte, der sich um das schwerste
bemuehte, naemlich aus der geschichte zu lernen, und der es
vermochte, geist und politik aufeinander zu beziehen und
wechselseitig fruchtbar zu machen.
wir gedenken eines aussergewoehnlichen politikers, der
gepraegt war von menschlicher guete, feinsinn und humor,
der ausgezeichnet war durch den reichen schatz seiner
humanistischen bildung, seine begnadete gabe, mit dem
wort zu ueberzeugen, und seine beharrliche konsequenz,
seinen glauben und seine einsicht in die substanz seines
handelns zu uebertragen.
kurt georg kiesinger gab ein beispiel fuer humanitaet in der
politik. ihre wurzeln reichen weit zurueck in die fruehzeit
seiner kindheit und jugend, in die schwaebische landschaft,
deren reiche und tiefe geschichte er auf einfuehlsame weise
erlebte und uns vermittelte. wir spuerten bei ihm die
gelassenheit, die ihm die weiten des hoeher gelegenen landes
gab, und die nuechternheit aus dem alltagsleben im tal.
kurt georg kiesinger wuchs mit den werken seiner
heimatlichen dichter auf. fast waere er einer der ihren geworden.
doch blieb ihm zu wenig zeit, um diese kunst zu entfalten,
fuer die er so vortrefflich ausgestattet war.
seine fruehe jugend wurde ueberschattet vom ausbruch des
ersten weltkrieges. kriegskindheit und jugendjahre
waehrend der inflation vermittelten ihm die erfahrung - nach
seinen worten - von "hunger, bedruecktheit, hohlem pathos
und oede".
als schueler am lehrerbildungsseminar in rottweil und
spaeter als student der rechtswissenschaft in berlin arbeitete er
hart an sich. im kreise seiner katholischen studentenverbindung
fand er eine gemeinschaft, die ihm zugleich blick und
gewissen schaerfte fuer soziales elend und vermassung
in den grossstaedten. sein geistiger mentor wurde carl
sonnenschein, der unvergessliche studentenseelsorger und
prediger des sozialen ethos.
kurt georg kiesinger war ein suchender. es ging ihm um
eine begruendung von staat und politik, die seinem glauben
und seinen ethischen grundueberzeugungen standzuhalten
vermochte. er fand sie in der idee der vom christlichen
menschenbild gepraegten demokratie und der politischen
gedankenwelt des grossen prognostikers unseres
demokratischen zeitalters, alexis de tocqueville.
unter der nationalsozialistischen gewaltherrschaft versagte
er sich nicht nur der politik, sondern auch einer ihm
offenstehenden aussichtsreichen, glanzvollen karriere im
juristischen staatsdienst. den schmerzlichen pruefungen und
inneren konflikten im unrechtsstaat konnte er, wie seine
generation, sich nicht entziehen. er war kein mann des
widerstandes, aber er blieb im alltag des lebens unter der
diktatur aufrichtig gegenueber sich und seinen
ueberzeugungen. in dieser zeit formten und befestigten sich in
endgueltiger weise seine tiefen bindungen an rechtsstaatlichkeit
und an die christliche soziallehre. zahlreiche zeugnisse
geben darueber eindrucksvolle auskunft.
auf diese weise durch einsicht und erfahrung gepraegt,
wurde er ein mann der ersten stunde beim aufbau unseres
demokratischen staates. bald ragte er heraus. er wurde
einer der wegweiser fuer die politische fuehrungsaufgabe
des parlaments. massgeblich trug er dazu bei, das ansehen
der volksvertretung in der oeffentlichkeit zu begruenden.
in seiner unvergleichlichen geistig gepraegten rednergabe
vereinigte er den scharfen analytischen verstand mit der
politisch-historischen erfahrung, den mut zum angriff mit
der faehigkeit, guten argumenten des gegners gerecht zu
werden, die sicherheit des gedankens mit dem ringen um
eigene erkenntnis auch waehrend der rede selbst, das
denkvermoegen mit der intuitiven phantasie, das rationale
argument mit dem mitreissenden schwung. so vermochte er
freunde und gegner, parlamentskollegen aus allen
fraktionen, journalisten und zuhoerer in seinen bann zu schlagen.
indem er bewunderung ausloeste und anteilnahme weckte,
steigerte er die achtung der buerger vor der lebendigen kraft
unserer verfassung und das vertrauen der nachbarn in
unseren unwiderruflichen willen zur demokratie und zur
freiheit.
so ging eine wahrhafte grosse wirkung von ihm aus. wer
sich heute der gefahr einer entfremdung zwischen waehlern
und gewaehlten bewusst ist, der kann der leistung kurt
georg kiesingers nur in lebhafter dankbarkeit gedenken.
im deutschen bundestag bewaehrte er sich gleichermassen
beim beitritt der bundesrepublik deutschland in das
atlantische buendnis, bei den aufgaben der westeuropaeischen
integration und bei den ersten schritten zur verstaendigung
mit der sowjetunion. die kraft und der glanz seiner reden
stellten die tatkraft des praktikers durchaus nicht in den
schatten.
spaeter wurde er ein grosser ministerpraesident seines
heimatlandes. weit ueber die grenzen von baden-wuerttemberg
hinaus reichte seine wirkung, so wenn er als praesident des
bundesrates seine gedanken eines vernuenftigen
foederalismus verwirklichen und bei der gestaltung des
bundeswillens der laender massstaebe setzen konnte. indem er
lebenskraft und einfluss seines eigenen bundeslandes
staerkte, vergass er nie die aufgabe, den bund im ganzen
voranzubringen und zu foerdern. in seinem horizont
vereinigte sich die sorge fuer den allernaechsten menschen mit
dem verantwortlichen blick in die grosse weite welt.
im eigenen bundesland praegte er vor allem die
bildungspolitik. zugang zur bildung war fuer ihn ein buergerrecht.
kurt georg kiesinger kannte den engen zusammenhang
zwischen der lebensfaehigkeit der demokratie und dem recht
auf bildung. seine geistigen konzepte und seine
praktischen schritte kommen seinem bundesland bis auf den
heutigen tag kostbar zugute.
seine groesste bewaehrungsprobe bestand kurt georg
kiesinger als kanzler der grossen koalition. ihr inneres
gesetz erforderte die kraft zur fuehrung und die faehigkeit
zum ausgleich. beides verband er in seiner person. er
konzentrierte sich auf das moegliche. er fuehrte durch klarheit
seiner ausgereiften ueberzeugungen und durch behutsame
beharrlichkeit seines handelns. sein persoenlicher stil kam
den stimmungsmaessigen erfordernissen einer grossen
koalition zugute. ihm ist es zu verdanken, dass diese periode
unserer politik nicht durch taktieren und verborgenes
faedenziehen gepraegt wurde, sondern durch offenheit und
gemeinsinn.
mit dem stabilitaetsgesetz und dem neuen haushaltsrecht
schuf er mit seinem kabinett die entscheidende grundlage,
um die wirtschaftspolitik fuer krisen zu wappnen und die
finanzverfassung neu zu ordnen. er brachte den
gebuendelten streit ueber die notstandsgesetze zum abschluss. er
vertiefte die einbindung in den westen. er setzte sich fuer den
beitritt grossbritaniens in die europaeische gemeinschaft ein.
in seine regierungszeit faellt die verabschiedung des
harmel-berichtes, also der grundlage fuer die verbindung
vom schutz der eigenen freiheit mit dem signal einer
entspannungspolitik gegenueber dem osten. wesentlich
bestimmte er die anfaenge der deutschlandpolitischen
oeffnung. unter seiner fuehrung kam es zur aufnahme der
beziehungen mit rumaenien und jugoslawien. er fuehrte die
ersten umfassenden verstaendigungsgespraeche mit den
vertretern der sowjetunion.
die grosse koalition konnte und durfte nur eine regierung
fuer eine zeit des uebergangs sein. dies erschwerte ihr oft die
arbeit. und dennoch hat sie unter der fuehrung kurt georg
kiesingers erstaunliches und bleibendes geleistet. dies ist
sein historisches verdienst. die beiden staerksten politischen
kraefte der deutschen nachkriegszeit fuehrte er zu einem
konstruktiven miteinander zusammen. er verlangte und
erreichte den gegenseitigen respekt im dienst der
gemeinsamen aufgabe, seine idee des ganzen gewann konkrete
geschichtliche gestalt.
kurt georg kiesinger war ein vom geist gepraegter politiker.
er hatte aber auch ein klares verstaendnis von macht. er
verstand mit ihr umzugehen. nie aber wurde sie
selbstzweck oder ziel seines wirkens. er war sich ihrer
versuchungen bewusst und hielt sie auf distanz. er fuehrte seine
aemter mit grosser wuerde, mit leidenschaft, mit waerme und
autoritaet.
nur derjenige ist zur politischen fuehrung berufen, so schrieb
er, "der ein gelassenes verhaeltnis zur macht und zu den
eigenen moeglichkeiten, der demut und humor in einem, der
illusionslose liebe zum naechsten und den willen und die
kraft zum strengen, entsagungsvollen dienst am ganzen
hat".
kurt georg kiesinger war selbst berufen, diese gedanken
lebendig zu verkoerpern und sie zur tat werden zu lassen.
wir, die menschen seiner engeren heimat, die buerger aus
baden-wuerttemberg, die deutschen und ihre nachbarn, sie
alle, um die er sich verdient gemacht hat, nehmen abschied
von kurt georg kiesinger in hoher achtung und in
bleibender dankbarkeit.