- Bulletin 10-97
- 31. Januar 1997
Der Bundesminister a.D. und ehemalige Erste Bürgermeister der Freien und
Hansestadt Hamburg, Dr. Klaus von Dohnanyi, hielt zum Gedenken an die Opfer
des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag am 27. Januar 1997 folgende
Rede:
Herr Bundespräsident,
Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit die Truppen der
Alliierten des Zweiten Weltkriegs Europa von der Terrorherrschaft des
Nationalsozialismus befreiten. Wir gedenken der Opfer an jenem Kalendertag, an
dem sowjetische Truppen die Tore des Vernichtungslagers Auschwitz öffneten.
Wenn wir der Opfer gedenken, wollen wir versuchen, ihr Leiden in uns zu
spüren, um in uns möglich zu machen, was uns Menschen von allen anderen
Lebewesen unterscheidet: mit zu leiden mit dem anderen.
Zwei Generationen Deutscher sind seit dem 27. Januar 1945 aufgewachsen. Sie
haben die Nazijahre nicht mehr erlebt. Wer heute 60 Jahre alt ist, war 1945
noch in der Grundschule. Es leben nur noch wenige von der Generation in
Deutschland, die damals verantwortlich war.
Die versunkene Welt des Nationalsozialismus ist für die jüngeren Deutschen
unbegreiflich geworden. Der offene Terror muß ihnen, die sie in einer
Demokratie aufgewachsen sind, unvorstellbar sein. Sie können zwar auf alten
Filmspulen die gejagten und verzehrten Gesichter der Opfer noch sehen, aber
diese Menschen haben für sie keine Namen mehr.
So treten für die meisten in unserem Land die schrecklichen Bilder von den
ersten Stunden der befreiten Konzentrationslager immer mehr hinter große
Zahlen zurück, hinter kaum zählbare Millionen von Opfern. Manche von uns
Älteren erkennen in den Gedenkstätten noch die vergehenden Spuren der
damaligen Wirklichkeit. Die Jüngeren lesen gelegentlich Berichte und
Biographien oder sehen bewegende Filme aus den Jahren der Verfolgung.
Aber Opfer sind kaum noch unter uns; die meisten sind tot. Wir wissen wohl
inzwischen, was war – fühlen wir es auch noch? Man kann aber nicht wirklich
gedenken, ohne auch zu fühlen. Wir erinnern mit dem Kopf, aber wir gedenken
mit dem Herzen.
Wie empfinden die Verfolgten von damals und ihre Nachfahren diesen Tag? Was
für die meisten unter uns nur noch eine gewußte Vergangenheit ist, ist für
diejenigen, deren Mütter und Väter, deren Kinder, deren Brüder und Schwestern
durch die Naziverbrechen geschunden, gefoltert und ermordet wurden, und für
die, die selbst nur zufällig dem Terror entrinnen konnten, noch immer eine
schreckliche Gegenwart. Das gilt besonders für die Juden in aller Welt. Wie
könnten sie auch ihre schrecklichen Phantasien über die letzten Stunden ihrer
Verwandten und Freunde je wieder aus ihren Köpfen verbannen?
Die Opfer und ihre Nachkommen haben erfahren müssen, was wir nur zögernd
wissen wollten. Sie tragen diese Erfahrung mit sich, und über Generationen
werden sie diese Erfahrung lebendig und warnend an ihre Kinder weitergeben.
Sie haben im Herzen, was die meisten von uns nur noch im Kopf haben. Für sie
ist noch immer Gegenwart, was die meisten Deutschen Vergangenheit nennen, auch
wenn diese Deutschen sehr bewußt erinnern wollen, was damals war. Doch, wie
gesagt: Erinnern ist eben noch nicht Gedenken.
Schon um diese noch immer gegenwärtigen Schmerzen der Opfer und ihrer
Nachfahren zu verstehen, sollten wir in dieser Stunde auch in uns vom Wissen
zum Fühlen, vom Kopf zum Herzen gelangen.
Die Trauer über das Leid, das unser Volk diesen Menschen angetan hat, soll in
uns in diesem Augenblick gegenwärtig sein.
Es waren ja nicht Gruppen und große Zahlen, die erniedrigt und geschunden und
gemordet wurden, sondern immer einzelne, wenn auch unendlich viele einzelne
Menschen. Wichtiger als ihre Zahl zu wissen ist es, dieser einzelnen Menschen
zu gedenken, deren Lebensglück, deren Familie und Nachbarschaft willkürlich
und brutal über Nacht in Vertreibung, Folter und qualvollem Tod endete.
Versuchen wir, in dieser Stunde mit unseren Gefühlen für einen Moment auch bei
den unvorstellbaren Erinnerungen der Überlebenden zu sein.
Das ist nicht leicht in einer Welt, in der die Auflösung von Familien, der
schnelle Wechsel von Nachbarschaften, die Elektronisierung der Kommunikation
es ohnehin schwermachen, die Menschen um uns herum und ihre Gefühle wirklich
wahrzunehmen. Wir vermessen und kleiden unsere Welt in ein Gerüst von Zahlen,
um für die Menschen in dieser immer komplizierter und technischer werdenden
Welt ein Leben in Menschlichkeit zu bewahren. Wissenschaft, Sozialstatistik,
technisierte Kommunikation sind unentbehrliche und hilfreiche Instrumente der
Politik. Dennoch dürfen wir nie vergessen, daß eine Zahl nicht lieben kann und
daß nicht die Gruppe glücklich ist. Es sind immer nur einzelne Menschen, die
lieben oder hassen, die glücklich oder traurig sind, die leiden und die
sterben.
Wenn wir an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, wollen wir jetzt
versuchen, dieser vielen Menschen zu gedenken.
Im Osten Berlins, nahe dem jüdischen Hedwig-Krankenhaus, gibt es eine Lücke
in einer Häuserreihe. Ein Künstler nutzte sie, um an die Brandmauern der
rechts und links angrenzenden Gebäude Stockwerk für Stockwerk die Namen der
früheren Bewohner zu schreiben, jüdische Namen meist, wie es in dieser Gegend
der Stadt bis zur Nazizeit eben war. Tritt man in den Raum, den die Lücke
öffnet, dann spürt man, ganz umgeben von den Namen, für einen Augenblick mehr
vom Schicksal der Menschen, die hier wohnten, als in mancher Gedenkstätte.
Bei mir in Hamburg, keine 200 Meter entfernt von meiner Wohnung, steht ein
weißes Haus, Frauenthal 13. Hier wohnte einmal – kaum jemand weiß es – die
Dichterin Gertrud Kolmar, nach 1933 zunächst auf einen jüdischen Verlag
beschränkt, dann zu dem verzweifelten Versuch getrieben, ihre deutschen
Gedichte als Übersetzungen aus dem Englischen auszugeben, um sie überhaupt
veröffentlichen zu können, dann 1941 zur Zwangsarbeit rekrutiert, 1943 nach
Auschwitz geschleppt und dort im selben Jahr ermordet. Auch dieses Haus mit
seiner weißen Farbe bedeutet für mich mehr lebendige Erinnerung als manches
Denkmal.
Wir dürfen es eben im Erinnern nicht bei historischen Tatsachen und Zahlen
belassen. Um zu gedenken, bedürfen wir einer menschlichen Vorstellung von der
damaligen Zeit und von ihren Menschen. In der Welt um Deutschland herum werden
die Schmerzen der Opfer und ihrer Nachfahren noch für Jahrzehnte geborgen
bleiben. Wir dürfen nicht geschehen lassen, daß bei uns Naziherrschaft und
Holocaust in Gebäuden aus Täternamen und Opferzahlen abgeriegelt werden.
Jede Schule, die sich auch nur ein Opferschicksal aus jenen Jahren wirklich
zu eigen macht, Stadtteile und Dörfer, die auch nur einem der gemarterten
Namenlosen wieder Namen und menschliches Gesicht geben, können mehr tun, um
unser Gedächtnis und Gedenken zu bewahren, als manche Stunde trockenen
Geschichtsunterrichts.
Dies sollten wir auch bedenken, wenn wir über die Holocaust-Gedenkstätte in
Berlin sprechen. Sie muß mehr sein als eine zu Stein gewordene Aufzählung der
Opfer. Sie muß uns anrühren und erschüttern. Sie muß uns bewegen, Leiden und
Schicksal zu spüren, wie es zum Beispiel die Anne-Frank-Gedenkstätte in
Amsterdam vermag. Dem Gedächtnis an die Opfer schulden wir auch eine klare
Erinnerung daran, daß die grauenhaften Verbrechen vom deutschen Staat und von
deutschen Menschen begangen wurden. Wer der Opfer gedenken will, braucht auch
Erinnerung an diese Wirklichkeit Nazideutschlands. Immer mehr haben wir auch
in den letzten Jahren wieder über diese Wirklichkeit erfahren. – Frau
Präsidentin, auch Sie haben darauf eben Bezug genommen.
Je weiter die schreckliche Zeit zurückliegt, desto deutlicher meinen wir sie
zu erkennen. Die Welt und auch wir beschäftigen uns immer intensiver mit der
Naziherrschaft und den Naziverbrechen. Wohin wir auch blicken: Wir werden
erinnert. Es gibt kein Ausweichen. Diese Unausweichlichkeit, die deutsche
Schuld zu erinnern, ist deutsches Schicksal.
Nelly Sachs, die große deutsche Lyrikerin und Nobelpreisträgerin, als Jüdin
verfolgt und noch 1940 aus Berlin mit Hilfe Selma Lagerlöfs nach Schweden
geflohen, schrieb seherisch am Ende des Krieges dieses Gedicht:
Ihr Zuschauenden
Unter deren Blicken getötet wurde.
Wie man auch einen Blick im Rücken fühlt,
So fühlt ihr an euerm Leibe
Die Blicke der Toten.
Wieviel brechende Augen werden euch ansehen,
Wenn ihr aus den Verstecken ein Veilchen pflückt?
Wieviel flehend erhobene Hände
In dem märtyrerhaft geschlungenen Gezweige
der alten Eichen?
Wieviel Erinnerung wächst im Blute
Der Abendsonne?
In den mehr als 50 Jahren, die seit dem Ende der Naziherrschaft vergangen
sind, haben wir in unserem Lande eine Reihe von wichtigen politischen Debatten
über Wirklichkeit und Ursachen der deutschen Geschichte im zu Ende gehenden
Jahrhundert geführt.
Ich erinnere wie Sie, Frau Präsidentin, an die Diskussion, die Karl Jaspers
schon in den 50er und 60er Jahren über die ethischen Grundlagen deutscher
Politik mit seinen Büchern auslöste; an die Debatten über die Verjährung von
Naziverbrechen hier unter uns im Deutschen Bundestag; auch an die von Fritz
Fischer ausgelöste Auseinandersetzung über die Frage der Kriegsschuld im
Ersten Weltkrieg; an den sogenannten Historikerstreit über die weltweiten
Zusammenhänge beim Entstehen der Nazidiktatur, an die von Jan Philipp Reemtsma
ermöglichte und von einem hochdekorierten Wehrmachtsoffizier, Klaus von
Bismarck, eröffnete Hamburger Ausstellung über die Beteiligung ganz normaler
Wehrmachts- und Polizeieinheiten an den Greueltaten im Polen- und
Rußlandkrieg; und schließlich – im vergangenen Jahr – an die breite und
engagierte Diskussion über Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige
Vollstrecker".
Aus heutiger Sicht mögen diese Debatten zu spät begonnen worden sein. Lange
hat es gedauert, bis der Holocaust in seinen Ausmaßen und in seiner ganzen
Schrecklichkeit ermessen und die tiefe Verstrickung großer Teile des deutschen
Volkes in diese Verbrechen von Deutschland, von uns, begriffen wurden.
Man darf aber nicht vergessen, in welch existentieller Not auch Deutschland
und die Deutschen in den ersten Jahren nach Kriegsende waren. Eugen Kogon,
Autor des Buches "SS-Staat" und von 1939 bis 1945 in Buchenwald inhaftiert,
schuf selbst mit dem 1947 veröffentlichten Aufsatz "Das Recht auf den
politischen Irrtum" die Grundlagen dieser Nachkriegspolitik.
Auch Margarete und Alexander Mitscherlich, die 1967 mit ihrem unvergessenen
Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" eine Wegmarke des deutschen
Nachkriegsbewußtseins setzten, nennen das deutsche Nachkriegsverhalten – ich
zitiere –
Notfallreaktionen, Vorgänge, die dem biologischen Schutz des Überlebens sehr
nahe, wenn nicht dessen psychische Korrelate sind.
Und sie fügten 1967, mehr als 20 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz,
hinzu:
Es ist ... sinnlos, aus diesen Reaktionen sofort nach dem Zusammenbruch einen
Vorwurf zu konstruieren. Problematisch ist erst die Tatsache, daß ... auch
später keine adäquate Trauerarbeit um die Mitmenschen erfolgte, die durch
unsere Taten in Massen getötet wurden.
Soweit die Mitscherlichs. – Ja, ich meine, so müssen und so sollten wir es
auch heute sehen.
Ich denke aber, daß wir Deutschen uns seither redlich bemüht haben, dies zu
erkennen. Die von mir genannten großen Debatten haben dazu beigetragen; wir
haben aus jeder gelernt. Wir schulden den Historikern in der Welt und in
Deutschland Dank für ihre offene und kritische Arbeit an unserer Geschichte.
Auch dort, wo wir den Ergebnissen im einzelnen nicht zustimmen, gilt dieser
Dank. Goldhagen, zum Beispiel, hat zwar recht, wenn er – wie übrigens viele
andere vor ihm – auf die breite Verstrickung "ganz gewöhnlicher Deutscher",
wie er sagt, in die Naziverbrechen verweist. Aber die große Mehrheit der
Historiker etwa in Israel, in den USA und in Deutschland teilt seine
Behauptung nicht, daß dieses mörderische Verhalten einer erschreckend großen
Zahl deutscher Männer und Frauen gegenüber den Juden in der Nazizeit seine
Wurzeln schon seit Jahrhunderten in der deutschen Geschichte habe. Wenn man
die Erscheinungsformen des Antisemitismus in Europa vergleicht, ist
festzustellen, daß sich diese Behauptung nicht halten läßt.
Wir Deutschen haben zwar wirklich keinen Grund, selbstgerecht zu sein; aber
auch in einer kritischen Betrachtung unserer Geschichte müssen wir gegenüber
uns selbst gerecht sein.
Die schreckliche Wirklichkeit der Nazijahre immer weiter aufzudecken und zu
erinnern bleibt schmerzhaft für jeden verantwortungsvollen Deutschen. So ist
gelegentlich zu hören, man könne und sollte nun einen Schlußstrich ziehen.
Diese Forderung ist schon deswegen unsinnig, weil Vergangenheit immer in der
Gegenwart bleibt. Das kollektive Gedächtnis zählt eher in Jahrhunderten. Die
Lage auf dem Balkan zeigt es wieder. So wird das Gedächtnis an den Holocaust
und an die deutsche Verstrickung noch in Menschengedenken nicht von uns
weichen.
Das ist schwer auch für die große Mehrheit der Deutschen heute, die den
Nationalsozialismus nicht erlebt haben, ihn verurteilen und sich dieser
Geschichte schämen. Mit der Forderung nach einem Schlußstrich ist deswegen
wohl manchmal auch gar nicht gemeint, das Erinnern zu verschütten und das
Gedenken zu beenden. Mancher jüngere Deutsche, der für die Naziverbrechen
keinerlei persönliche Schuld trägt, fühlt sich vielmehr durch die nicht
abreißende Debatte über unsere schuldvolle Vergangenheit am Ende doch
persönlich schuldig gesprochen. Wenn zum Beispiel bei schändlichen
Ausländerfeindlichkeiten in Deutschland, wie sie leider auch in anderen
Ländern vorkommen, aus dem Ausland der Nazivorwurf gegen die heutige
Bundesrepublik Deutschland erneuert wird, dann regt sich Trotz.
Es ist richtig: Gelegentlich wird die deutsche Nazivergangenheit auch als ein
billiges Vorurteil gegen das heutige demokratische Deutschland benutzt. Aber
ich sage dazu: Haben wir nicht selbst viele Vorurteile, zum Beispiel, daß
Türken so und Polen anders sind? Kann es da, nach diesen Nazijahren,
verwundern, daß mancher außerhalb Deutschlands auch heute noch sagt: Die
Deutschen sind eben so?
Es ist auch richtig, daß man uns Deutsche im Ausland in ärgerlicher Weise oft
noch immer mit Nazisymbolen karikiert. Aber ich füge wieder hinzu: Haben nicht
die Opfer, besonders die Juden, die Roma und die Sinti, über Jahrhunderte auch
von uns Deutschen solche Karikaturen ertragen müssen?
Ich weiß, es ist nicht immer leicht, in der heutigen Welt ein sensibler
Deutscher zu sein. Aber wie sollte es? Dennoch möchte ich den jungen Deutschen
Mut machen: Wir können unsere europäischen und internationalen Verantwortungen
stark und selbstbewußt übernehmen. Die nach dieser Geschichte verständlichen
Vorurteile gegen uns können wir aber nur durch demokratische Geduld widerlegen
und schließlich einmal – dessen bin ich sicher – auch überwinden.
Ein Schlußstrich unter die Debatte über die Nazijahre würde aber nur das
Gegenteil bewirken. Er würde uns selbst daran hindern, Ursachen und
Wirklichkeit des Nationalsozialismus auch für uns selbst weiter aufzuklären
und noch besser zu verstehen.
Die heutige Bundesrepublik Deutschland jedenfalls ist für keine europäische
oder internationale Aufgabe moralisch ungeeignet, die nicht auch eine andere
der uns befreundeten Nationen bereit wäre zu übernehmen. Jeder Deutsche, der
von den Nazijahren nicht persönlich gezeichnet ist, ist für jede europäische
oder internationale Verantwortung genauso geeignet wie ein ebenso fähiger
Altersgenosse anderer Staatsbürgerschaft. Unser Wort ist heute so gut wie das
aller anderen. Deutschland ist mit seiner Schuld eine gleichberechtigte Nation.
Das gilt übrigens gerade für unseren Beitrag gegenüber den Nationen
Osteuropas, gegenüber Rußland und den anderen Gebieten der früheren
Sowjetunion. Vergessen wir nie, daß es der deutsche Angriffskrieg war, der
diesen Völkern nicht nur unzählige menschliche Opfer abverlangt hat. Auch die
kommunistische Zerstörung Osteuropas wäre ohne den deutschen Angriffskrieg
kaum erfolgt. Hier haben wir noch eine Schuld abzutragen. Besonders hier haben
aber auch viele anständige deutsche Soldaten Schreckliches erleiden müssen.
Auch ihr Tod, ihr Leid und die Trauer ihrer Familien waren eine Folge der
Naziherrschaft. Wir werden auch das nicht vergessen.
Die zunehmende Ferne der Ereignisse schärft nicht nur unser Auge; sie drängt
uns auch, noch besser zu verstehen, wie es geschehen konnte. Wie konnten sich
politische Verbrecher eines demokratischen Rechtsstaats in der Mitte Europas
bemächtigen, ihn zum Instrument ihrer Verbrechen machen und in einem
zivilisierten Volk so viele willige Helfer gewinnen? Was haben wir zu lernen?
Warum sind diese Verbrechen bei uns geschehen? Mein ganzes Leben hat mich
diese Frage umgetrieben. Eine Antwort, die mir wirklich Ruhe geben könnte,
habe ich nicht gefunden. Vielleicht müssen wir uns damit abfinden, daß es für
diese einmaligen Verbrechen keine wirkliche Erklärung geben kann. Es gab zwar
viele Ursachen, die in unseliger Weise zusammenkamen und zusammenkommen
mußten, um den Holocaust möglich zu machen, aber es gibt wohl keine
abschließende Erklärung.
Einiges über die Ursachen kann uns vielleicht der deutsche Widerstand lehren.
Mit ihrer Tapferkeit kamen diese Männer und Frauen zwar zu spät: Hätte die
Weimarer Republik widerstanden, wäre deren persönliche Tat nicht notwendig
gewesen. Es ist übrigens richtig, daß es gerade unter den Beteiligten am 20.
Juli 1944 auch solche gab, die zunächst den Verlockungen des
Nationalsozialismus erlagen und zu spät ihre Stimme erhoben. Sie haben das
aber selber gewußt; und wir haben kein Recht, sie zu schelten.
Albrecht Haushofer, noch im April 1945 von der Gestapo erschossen, hat dies
in einem seiner im Gefängnis geschriebenen Moabiter Sonette so gesagt:
Schuld
Ich trage leicht an dem, was das Gericht
mir Schuld benennen wird: an Plan und Sorgen.
Verbrecher wär' ich, hätt' ich für das Morgen
des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.
Doch schuldig bin ich anders, als ihr denkt,
ich mußte früher meine Pflicht erkennen,
ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen –
mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt ...
Ich klage mich in meinem Herzen an:
Ich habe mein Gewissen lang betrogen,
ich hab mich selbst und andere belogen –
Ich kannte früh des Jammers ganze Bahn –
ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar!
Und heute weiß ich, was ich schuldig war ...
Man sollte auch nicht mit schneller Zunge fordern, es hätte mehr dieser
Männer und Frauen geben müssen – es hat ja fast keiner überlebt. Ernst Reuter,
der große Berliner Bürgermeister und selbst von den Nazis verfolgt und
vertrieben, hat 1946 auf eine solche ausländische Stimme geantwortet:
Nur wer seinen Peinigern ins Angesicht gesehen hat und dennoch seinen
Überzeugungen treu blieb ..., hat ... das Recht ... ein Urteil zu fällen.
Der deutsche Widerstand, im Krieg nicht gerichtet gegen den äußeren Feind,
sondern gegen die eigene Regierung und gegen die Verirrungen eines großen
Teils des eigenen deutschen Volkes, war ein außerordentliches Unternehmen. Es
war, wie Thomas Powers kürzlich in der "New York Review of Books" schrieb,
"wahrscheinlich das einzige Beispiel in der Geschichte des modernen Europas,
in dem ein Anschlag auf das Leben eines Staatschefs organisiert wurde, nur
weil dieser eine Verkörperung des Bösen war". Wir danken den Toten des
Widerstands für ihre mutige Menschlichkeit.
Dieser Widerstand ist eine deutsche Erfahrung, aus der nicht nur wir zu
lernen haben. Woher kam die Kraft, gegen den Aufmarsch der Tyrannei und des
Bösen anzutreten? Sie erwuchs gewiß nicht in erster Linie aus dem Studium von
Verfassungsartikeln und Demokratiegeschichte. Es waren Anstand und Moral, die
diese Kraft und jenen außerordentlichen Mut verliehen.
Deswegen sollten wir nie vergessen: Jede menschenwürdige Gesellschaft gründet
auf der Fähigkeit des einzelnen, standhaft zu bleiben gegenüber den
Verlockungen, aus angeblicher Zweckmäßigkeit von den Regeln des menschlichen
Anstands abzuweichen. Die Fähigkeit, Gut und Böse sicher zu unterscheiden –
sie war das verbindende Glied dieser sonst so unterschiedlich denkenden Männer
und Frauen des Widerstands.
Machen wir uns aber heute nichts vor: Die Erziehung in unserer Welt – soweit
sie überhaupt noch bewußt ausgeübt wird – gerät immer mehr zu einer Sammlung
von Fakten und Befähigungen. Anstand und Moral aber sind Haltungen, die im
einzelnen verankert sein müssen. Was tun wir heute hierfür, in einer Zeit des
angeblichen Individualismus, die doch das Individuum so wenig zu eigener Kraft
befähigt?
Die einfachen Regeln der Menschlichkeit nicht stärker gefestigt zu haben kann
sich für jede demokratische Gesellschaft in einer Krise als verhängnisvoll
erweisen. Die Fähigkeit des einzelnen, Gut und Böse sicher zu unterscheiden,
könnte in dieser Situation wichtiger werden als alle nur über den Kopf
gespeicherten Kenntnisse. Hier haben Eltern, Lehrer, Schulen und Politiker
eine große Verantwortung.
Es ist in meinen Augen wichtiger zu lernen, anderen Meinungen tolerant
zuzuhören – überall, übrigens auch auf Parteitagen –, als den Art. 5 des
Grundgesetzes auswendig zu können. Es ist mir bedeutsamer, wenn ein junger
Mann in der Straßenbahn für eine ältere Frau aufsteht, als daß er weiß, daß im
Grundgesetz der Sozialstaat verankert ist. Mir ist lieber, jemand hilft in der
Schule geduldig einem Kameraden, ein schwieriges Mathematikproblem zu
verstehen, als daß er auf jeder Demonstration das Wort Solidarität
buchstabiert. Und ich halte mehr von dem, der mit Zivilcourage und festen
Gründen offen widerspricht, als von dem, der immer eilig den Richtungssignalen
politisch korrekter Mehrheitsbeschaffer folgt.
Ich möchte deswegen noch einmal nach uns Deutschen suchen. Uns werden gewisse
Tugenden zugeschrieben, die gelegentlich auch andere Völker an uns schätzen:
unsere Bereitschaft zur Grundsätzlichkeit, zur Pflichterfüllung, zur gesellschaftlichen
Ordnung, zu gemeinschaftlichem Handeln, unser Fleiß und unsere
Einsatzbereitschaft. Nach den Nazijahren jedoch können wir nicht mehr
übersehen, wie schrecklich gerade diese Eigenschaften damals mißbraucht werden
konnten. Sollten wir dieses Erbe deswegen abschütteln? Ich meine, nein. Aber
wir müssen das, was uns selbst und anderen an uns wichtig ist, für den
Menschen einsetzen. Eine Sache um ihrer selbst willen zu tun ist kein
schlechter Grundsatz, wenn die Sache selbst sich am Menschen ausrichtet.
Ich sagte bereits, wie wichtig es ist, in der Erziehung junger Menschen die
mitmenschliche Verantwortung wieder in den Mittelpunkt zu rücken, wieder zu
lehren, Gut und Böse einfach und klar und ohne clevere Hakenschläge der
Argumentation zu unterscheiden. Ich wiederhole: Eltern und Lehrer tragen hier
die entscheidende Verantwortung.
Was Anstand und Moral für die konkrete Politik bedeuten kann, beschrieb
Dietrich Bonhoeffer zu Weihnachten 1942 seinen engsten Freunden im Widerstand,
wenige Monate vor ihrer aller Verhaftung, so:
Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern
gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede
gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und
mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind
durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden –
sind wir noch brauchbar? Nicht Genies, nicht Zyniker, nicht Menschenverächter,
nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen
werden wir brauchen. Wird unsere innere Widerstandskraft
– so schreibt Bonhoeffer –
gegen das uns Aufgezwungene stark genug und unsere Aufrichtigkeit gegen uns
selbst schonungslos genug geblieben sein, daß wir den Weg zur Schlichtheit und
Geradheit wiederfinden?
Die großen Tugenden des Menschen sind eben nicht sekundär, sondern primär!
Man lernt sie und übt sie im täglichen Leben. Die Hoffnung, Wissen könnte
gegen die Versuchungen des Bösen schützen, täuscht. Nicht Wissen, sondern
Haltungen entscheiden. Anstand und Moral, die für die Menschen im Umgang
miteinander das Leben überhaupt erst lebenswert machen, sind deswegen auch
wichtige Träger des Verfassungsgebäudes Demokratie. Nicht nur wer die
Tagebücher des Naziopfers Viktor Klemperer sorgfältig gelesen hat, weiß, was
ich meine.
Im übrigen neige ich in der Beantwortung der Frage "Wie konnte es geschehen?"
heute dazu, am ehesten denjenigen zu folgen, die in der dramatischen
politischen und ökonomischen Situation Deutschlands während der frühen 30er
Jahre die wichtigste Ursache für das Aufkommen der Nazis sehen. Die
Wiederholung derartiger Lagen in Zukunft bei uns oder bei unseren Nachbarn in
Ost und West zu vermeiden ist daher eines der nachdrücklichsten Vermächtnisse
der Opfer des Nationalsozialismus.
Gedenken, erinnern, verstehen, lernen – das sind die Forderungen, die wir an
uns selbst richten. Nur wenn wir auch verstehen, können wir dazu beitragen,
daß in der kommenden Zeit die Menschenrechte überall errichtet, demokratisch
und rechtsstaatlich gesichert und notfalls auch verteidigt werden können.
Im heutigen Europa drohen wieder wachsende Arbeitslosigkeit und soziale
Spannung. Zukunftsangst kann erneut zu krisenhaften Lagen führen. Wenn auch in
Deutschland darauf bisher keine bedeutsamen rechtsradikalen Erfolge gründen
konnten – bei manchen Nachbarn sieht es schwieriger aus.
Die Lähmung der Demokratien war eine der Hauptursachen für das Aufkommen des
Faschismus nach dem Ersten Weltkrieg. Angesichts der Zerstörung der
Sozialstrukturen durch die Inflation und der politischen Demütigung der Nation
Deutschland durch den Versailler Vertrag hat die deutsche Demokratie damals
nicht standhalten können. Aber nicht nur die Eliten, auch die demokratischen
Parteien haben damals entscheidend versagt. Betrachtet man mit dieser
Erfahrung heute die Welt, dann sollte man manches schärfer sehen. Unsere
Tatkraft ist gefordert.
Und unsere Ehrlichkeit. Wo im Sturzbach der Veränderungen die verängstigten
Menschen nicht die Wahrheit über die Ursachen erfahren; wo dem politischen
Gegner blind angekreidet wird, was in Wahrheit die neuen Verhältnisse
verursachen; wo Illusionen genährt und sachliche Debatten abgewürgt werden:
Dort ist aus dem Untergang der Weimarer Republik nicht gelernt worden.
Es liegt an uns, ob wir sachlich und gemeinsam den Gefahren begegnen oder
erneut demokratische Lähmung in Europa entstehen lassen, aus der neue Gefahren
erwachsen könnten. Wo die Lage noch viel schwieriger ist – wie in Osteuropa
und Rußland –, dort ist gerade wegen unserer eigenen bitteren Erfahrungen
unsere Hilfe und unser Rat gefordert. Wer das Schicksal der Weimarer Republik
richtig erinnert, wird nicht vergessen haben, welche Bedeutung damals auch
das Gefühl der nationalen Demütigung
in Deutschland gehabt hat. Beim Umgang des Westens mit Rußland heute sollten
wir Deutschen immer wieder gerade auch an diese deutsche Erfahrung erinnern.
Die Stärke der Demokratie muß sich erweisen, wenn es gilt, die politischen
und sozialen Rahmenbedingungen der Demokratie zu stabilisieren. Es ist zu
spät, wenn Widerstand gegen die Verräter der Demokratie notwendig wird. Wir
Deutschen haben diese Lektion von der Geschichte erteilt bekommen. Ich denke,
wir haben sie auch gelernt. Halten wir uns an diese Lehre!
Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus bedarf des Mitfühlens mit
ihnen und der Erinnerung an die deutschen Verbrechen. Dieses Erinnern wiederum
bedarf noch immer eines tieferen historischen Verständnisses, wie es zu Terror
und Verbrechen kommen konnte. Diese Debatte ist noch nicht zu Ende.
Aber wir Deutschen haben jetzt einen gemeinsamen Boden gefunden, auf dem wir
der geschichtlichen Wahrheit ins Auge sehen können. Wir haben gelernt, mit der
Scham über die Schuld unseres Landes zu leben. Wer aber den Mut hat, dieser
Vergangenheit ins Auge zu sehen, der kann auch die Kraft haben, diese
Vergangenheit auf sich zu laden, um in diesem Bewußtsein Deutschlands Beitrag
für die Zukunft Europas zu leisten.
So erinnern wir Deutschen uns am 27. Januar 1997 der deutschen Verbrechen in
den Jahren des Nationalsozialismus demütig und doch aufrecht zugleich. Und wir
gedenken der Opfer in Scham und in Trauer.