zum gedenken an gustav stresemann - rede von staatsminister schaefer in berlin

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der staatsminister im auswaertigen amt, helmut
schaefer, hielt zum 60. jahrestag der rede gustav
stresemanns aus anlass der verleihung des
friedensnobelpreises an ihn in der staatsbibliothek in berlin am
29. juni 1987 folgende ansprache:

herr regierender buergermeister,
exzellenzen,
meine damen und herren!

ich freue mich, heute zu ihnen sprechen zu koennen. die
verleihung des friedensnobelpreises an gustav
stresemann und aristide briand, fuer die stresemann am 29. juni
1927 dankte, war nicht nur ein grosser tag im leben der
beiden geehrtun, sondern auch ein herausragendes datum
in der geschichte der deutschen, der franzoesischen, ja, der
europaeischen aussenpolitik.
fuer gustav stresemann, der nach seiner kurzen
regierungszeit als reichskanzler jis zu seinem tode jedem
deutschen kabinett als aussenminister angehoezte, war diese
auszeichnung der weltweit sichtbare lohn fuer eine
friedenspolitik, deren neue ansaetze wir erst heute richtig
einzuschaetzen vermoegen. der nationalsozialismus und seine
fuerchterlichen folgen fuer ganz europa brachten
stresemanns werk frueh zum scheitern. ich glaube jedoch, dass es
nach dem zweiten weltkrieg wieder eingang in die
europaeische geschichte fand.
um die neuartigkeit und bedeutung der stresemannschen
konzeption der aussenpolitik, die er gemeinsam mit seinen
grossen kollegen aristide briand und austen chamberlain zu
verwirklichen trachtete, zu verstehen, muessen wir sie vor
den hintergrund der aussenpolitik halten, die im 19.
jahrhundert, dem zeitalter des nationalismus, entwickelt und
ausgestaltet wurde.
selbstverstaendlich hat auch in dieser zeit jeder
verantwortungsbewusste staatsmann alles getan, um seinem lande
den frieden zu erhalten.
die bewahrung des friedens aber war, wegen der
geistigpolitischen grundvoraussetzungen des nationalismus, der
europa beherrschte, eine schwer loesbare aufgabe, die
immer wieder scheiterte. denn fuer den nationalismues waren
die nation und ihre interessen ein politischer wert, der vor
der erhaltung des friedens rangierte. folgerichtig galt der
krieg auch noch als ein erlaubtes mittel der politik.
in einer gedankenwelt, in der die eigene nation alles und
die mit den eigenen interessen konkurrierende
nachbarnation zum feind werden konnte, war der frieden nichts
weiter als die vermeidung eines in jedem geschichtlichen
augenblick moeglichen krieges.
in kontinental-europa konnte sich kein einziges land aus
eigener kraft gegen alle seine nachbarn verteidigen. so
blieb den staaten nichts anderes uebrig, als sich mit anderen
zusammenzutun, um die eigene existenz zu sichern. man
versuchte, den krieg durch komplizierte buendnisgeflechte,
die sich teilweise ueberdeckten, zu verhindern. als
idealzustand empfand man das sogenannte europaeische "gleich-
gewicht", das heisst einen zustand, in dem jeder potentielle
angreifer einer koalition gegenueberstand, die maechtiger war
als er selbst.
dieses gleichgewicht war aber hoechst labil, da sich die
gewichte der einzelnen staaten auf grund der wirtschaft-
lich-technischen entwicklung im 19. jahrhundert, die
keineswegs ueberall gleichmaessig verlief, staendig verschoben.
die aufrechterhaltung des europaeischen gleichgewichts
wurde extrem schwierig, als sich im jahre 1871 die
machtverhaeltnisse in europa mit einem schlag grundlegend
aenderten. mit der gruendung des deutschen reiches war in
zentraleuropa ploetzlich eine machtkonzentration
entstanden, die staerker war als jeder einzelne nachbar, jedoch
schwaecher als die vereinigten nachbarn ringsum. nach der
mechanik des gleichgewichtsdenkens waere es nichts weiter
als natuerlich gewesen, wenn sich eine maechtige
buendniskonstellation gegen deutschland formiert haette.
bismarck war es vor allem, der diese gefahr erkannte. er
begegnete"ihr durch ein neues buendnisgeflecht. als
deutschland nicht mehr von der hand des grossen
staatsmanns gehalten wurde, zerbrach seine auf die "saturiertheit"des
reiches gegruendete politik. das, was die
deutschen vor dem ersten weltkrieg als "einkreisung"
empfanden, war das ergebnis einer europaeischen buendnisstruktur,
in die sich die unbedachte deutsche politik nach bismarck
hineinmanoevriert hatte.
trotzdem ist der erste weltkrieg sicherlich nicht nur
deswegen ausgebrochen, weil, wie argumentiert wurde,
deutschland oder oesterreich-ungarn ihn mutwillig vom
zaune gebrochen haetten, sondern auch deshalb, weil sich
andere regierungen ebenso in den nationalismus verrannt
hatten, dass auswege verbaut waren.
die staatsmaenner jener zeit glaubten, die geschicke der
voelker zu lenken, aber sie verkannten die eigendynamik
friedensgefaehrdender kraefte auch im innern der
nationalstaaten. aufgeheizter nationalismus spiegelte sich auch im
charakter des friedensvertrages von versailles wider, der
keinen anderen zweck hatte, als den machtfaktor
deutschland zur bedeutungslosigkeit zu verdammen. dieses
machtdiktat wurde zynischerweise moralisch begruendet, indem
man den deutschen allein die schuld am kriege aufbuerdete.
gustav stresemann gelangte nach dem ersten weltkrieg
langsam zu der einsicht, dass an die stelle der alten
nationalstaatlichen machtprinzipien ein neues politisches
ordnungskonzept zu treten habe, sollte der friede in europa
gesichert werden.
der weg, der ihn zu dieser einsicht fuehrte, war lang.
urspruenglich war stresemann ein monarchist, der die
weltmachtstellung deutschlands und einen sogenannten "sieg-
frieden" wuenschte. das heisst, er dachte urspruenglich in den
politischen denkkategorien seiner zeit und unterschied sich
hierin in nichts von den meisten seiner zeitgenossen. die
entscheidende erkenntnis muss ihm waehrend seiner kurzen,
aber bedeutungsvollen regierungszeit als reichskanzler
gekommen sein.
waehrend der zeit des widerstandes gegen die besetzung
des ruhrgebiets machte er die erfahrung - und was mehr
ist, er zog daraus die konsequenzen -, dass es an der zeit
war, eine politik der verstaendigung und zusammenarbeit
einzuschlagen. sie wurde in den vertraegen von locarno
verwirklicht. ein neues sicherheitssystem wurde auf den
weg gebracht, das im voelkerbund seine verankerung finden
sollte.
in einer rundfunkansprache am 2. mai 1926 definierte
stresemann seine politische idee so:
"es war die ersetzung der methoden poincare's durch die
methode der friedlichen verstaendigung, war insbesondere
der verzicht auf kampf zwischen frankreich und
deutschland. sein sinn war, durch diesen verzicht auf den kampf
den frieden am rhein zu schaffen. seine zukuenftige
ausgestaltung war aufgebaut nicht nur auf verstaendigung,
sondern auf zusammenwirken der beteiligten maechte,
namentlich auch auf wirtschaftlichem gebiet.
als dringlichste europaeische friedensaufgabe erschien ihm
die umgestaltung des deutsch-franzoesisshen verhaeltnisses,
das er aus der konfrontation heraus - und in die kooperation
hinueberfuehren wollte. in seiner einleitung zu den reden
aristide briands (1928) formuliert er die aufgabe, vor die er
sich als aussenpolitiker gestellt sah: "schon damals (= bei
eintritt der waffenruhe -) war es allen einsichtigen klar, dass
. . . das deutsch-franzoesische verhaeltnis das kernproblem
der dauernden befriedung europas darstellte."
aeie noesung dieses problems war deshalb so schwer, weil
sich, nach stresemann, "in frankreich . . . die selbst fuer
die kuehnsten optimisten ueberraschend eingetretene situation
einer militaerischen kontinentaegemonie nach den jahren
schwerster pruefung eine an sich begreifliche, aber fuer die
entwicklung europas verhaengnisvolle machtpsychose
erzeugt hatte". (einleitung zu den reden briands s. 7.)
aus diesen worten geht hervor, dass es stresemann darum
ging, das denken in machtkategorien durch versoehnung,
gewaltverzicht und zusammenarbeit zu ueberwinden. die
vertraege und der "geist von locarno" waren hierfuer eine
entscheidende etappe.
die aussenpolitik der bundesrepublik deutschland von
konrad adenauer bis heute knuepfte hieran an und entwickelte
sie fort: die ersetzung der machtpolitik durch eine politik der
verstaendigung, in deren kernpunkt der gewaltverzicht als
bedingung des friedens steht, als folge dieser
notwendigen voraussetzung und als substanz der neuen politik ist
auch stresemanns "zusammenwirken" der voelker "nament-
lich auf . . . wirtschaftlichem gebiet" unvermindert gueltig.
dies sind methode und inhalt der deutschen aussenpolitik
seit konrad adenauer bis heute, die nach unserem
historisch besonders belasteten verhaeltnis zu frankreich in den
deutsch-franzoesischen freundschaftsvertrag muendete und
zur gruendung der europaeischen gemeinschaft fuehrte. der
beitritt grossbritanniens war ein in der geschichte europas
historischer eckstein.
der gewaltverzicht stand auch im mittelpunkt der
diskussion, als die regierung brandt/scheel daranging, einen
ausgleich mit den staaten des warschauer paktes zu
suchen. mit diesen staaten hatte die freie welt bis dahin in
einem spannungszustand gelebt, dessen friedensgefaehrdender
charakter eine "politik der staerke" erzeugte.
die atmosphaere zwischen deutschland und frankreich vor
locarno war durchaus mit dem klima des kalten krieges
nach dem zweiten weltkrieg zu vergleichen. nichts aber
gefaehrdet den frieden so wie die feindschaft, aber auch
das misstrauen zwischen den voelkern. sie erzeugen die
hochruestung, die wiederum das misstrauen vertieft. das hat
uns die europaeische geschichte, das hat uns insbesondere
die geschichte des zweiten weltkrieges gelehrt.
nach der veroeffentlichung seines nachlasses,
insbesondere des umstrittenen "kronprinzenbriefes", sind person
und politik gustav stresemanns in ein gewisses zwielicht
geraten. besonders hat man ihm den satz verdacht:
"deshalb wird die deutsche politik, wie metternich wohl nach
1809 sagte, . . . zunaechst darin bestehen muessen, zu
finassieren und den grossen entscheidungen auszuweichen."
man hat diesen satz dahin interpretiert, dass seine
friedenspolitik nichts weiter gewesen sei als eine besonders
raffinierte, ja sogar perfide methode mit dem ziel, das durch den
kriegsausgang geschwaechte deutsche reich bis zu dem
genuegend machtmittel verfuegte, um seine nationalen
interessen mit gewalt durchsetzen zu koennen. ich glaube nicht
daran.
man muss zunaechst bedenken, dass stresemann zwar
republikaner geworden war, sich im herzen aber eine
anhaenglichkeit an die monarchie bewahrt hatte.
einemuesolchen mann musste darin liegen, dass seine politik,
die heftigen angriffen insbesondere von konservativer seite
ausgesetzt war, von dem kronprinzen des angestammten
herrscherhauses verstanden, akzeptiert und womoeglich in
der oeffentlichkeit unterstuetzt wurde. und seien wir ehrlich,
meine damen und herren, wie oft bedienen wir politiker uns
alle der methode, das argument des politischen
opponenten, wenn wir ihn brauchen, fuer die verwirklichung unserer
eigenen ziele einzuspannen.
stresemann hatte bis ueber das eode des ersten weltkrieges
hinaus selbst in traditionellen machtkategorien gedacht. mit
eines unterstuetzung seiner politik durch den kronprinzen
und die konservativ denkenden bevoelkerungskreise konnte
er nur rechnen, wenn er sie in sprache und
gedankenfuehrung der vorstellungswelt des adressaten anpasste.
gleichwohl kann man nicht voellig qusschliessen, dass
stresemann selbst seine friedenspolitik zunaechst als einen ersatz
fuer machtpolitik betrachtete, zu der dem deutschen reich in
jener zeit ganz einfach die mittel fehlten.
aber waere das wirklich ein einwand gegen seine person?
ganz europa war damals doch noch in nationalem
machtdenken befangen. sollte man ausgerechnet dem mann,
dem es gelang, eine politische alternative zur hergebrachten
politik zu entwickeln, vorwerfen, dass er nicht nur als
idealist, sondern auch als taktiker gehandelt haette?
die leistung stresemanns muss sehr hoch eingeschaetzt
werden. um zu seiner neuen konzeption der aussenpolitik
durchzustossen, musste er sowohl innere wie aeussere
widerstaende ueberwinden. er musste sie gegenueber einem land
entwickeln, das sehr spuerbar militaerische machtmittel gegen
deutschland einsetzte.
stresemann hatte das grosse glueck, in aristide briand einen
franzoesischen partner zu finden, der sein leben dem
einsatz fuer den frieden verschrieben hatte, und der deshalb
sofort die zukunftstraechtigkeit der stresemannschen ideen
erfasste und als chance ergriff.
hitlers aussenpolitik von 1933 bis 1939 war das genaue
gegenteil von der stresemanns: austritt aus dem
voelkerbund, eine auf ueberkommene vorstellungen gegruendete
autarkistische wirtschaftspolitik - und vor allem: aufbau
militaerischer macht und einsatz militaerischer macht. der
friedensstaat deutschland, dem stresemann das vertrauen
der welt erworben hatte, wurde unter hitler zu einem
totalitaeren machtstaat, tessen wahnwitzige politik unsaegliches
neid heraufbeschwor und schliesslich zur teilung
deutschlands und europas fuehrte.
stresemanns aussenpolitik dagegen konnte sich auf die
besten geistigen traditionen deutschlands berufen. der
stimmungsumschwung, den sie in europa bewirkte, war
unglaublich. deutschland, eben noch gehasst und
gedemuetigt, wurde fast ueber nacht nicht nur ein akzeptiertes,
sondern ein hochgeachtetes mitglied der europaeischen
voelkerfamilie, dessen wort, weit ueber seine "machtmittel"
hinaus, entscheidendes gewicht hatte.
heute geht es in europa weniger darum, die gefqhren
nationalstaatlichen machtdenkens zu bannen. das
westost-verhaeltnis wurde nach dem zweiten weltkrieg von
gesellschaftspolitischen und ideologischen gegensaetzen
gepraegt, die sich vor die ausschliesslich nationalstaatlichen
interessen schoben. die dadurch entstandenen
konfrontativen elemente besitzen eine andere historische qualitaet.
um sie abzubauen, wird es eine grosse aufgabe der zukunft
sein, den ksze-prozess auf der grundlage der
kszeschlussakte und in der ganzen breite ihrer
programmatischen themenfelder fortzuentwickeln.
diese forderung liegt schon in der logik der
grenzueberschreitenden zivilisationsfolgen begruenfet.
umweltschaeden zum beispiel oder die auswirkungen der modernen
technologien und der wissenschaft verlangen nach kooperativen
strukturen.
auch die draengenden probleme in vielen staaten der dritten
welt verlangen von uns einen anderen einsatz der fuer hoch-
und ueberruestung zwischen west und ost gebundenen
ressourcun. kooperative strukturen und regionale
zusammenschluesse koennen auch in der dritten welt zu mehr
wirtschaftlicher stabilitaet und damit zur bewaeltigung der vor
allem durch soziale spannungen hervorgerufenen konflikte
fuehren.
wie immer auch historiker die motive der stresemannschen
politik beurteilen, es aendert nichts daran, dass der gedanke,
den frieden in europa und die sicherheit der europaeischen
voelkes nicht auf konfrontation und machtmechanismen,
sondern auf gewaltverzicht und zusammenarbeit gruenden,
unserem aussenpolitischen denken eine voellig neue
richtung gewiesen hat.
der idealzustand einer konfliktfreien welt liegt, wenn man
die probleme, vor denen wir stehen, nuechtern betrachtet, in
sehr weiter ferne, ja, er wird nie ganz zu erreichen sein.
aber nicht darauf kommt es an, dass wir das ideal erreichen,
sondern darauf, dass wir uns in die richtung des ideals
bewegen. lassen sie mich mit einem wort gustav
stresemanns schliessen:
"wir haben ein recht, von einer europaeischen idee zu
sprechen . . . eine schicksalsgemeinschaft kettet uns
aneinander. wenn wir in die hoehe kommen sollen, koennen wir es
nicht im kampf gegeneinander, sondern nur im
zusammenwirken miteinander."