Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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„Ich konnte es nicht glauben, dass so etwas nach dem Holocaust noch einmal geschieht. Diese Bitterkeit, die darin zum Ausdruck kommt. Dieser Hass.“

Liebe verehrte Margot Friedländer, so haben Sie Ihre Gefühle geschildert über das Grauen, das sich vor nun vier Wochen in Israel ereignet hat. Wir können nur erahnen, wie sehr gerade Sie die Ereignisse schmerzen müssen, liebe Frau Friedländer, Sie, die Sie den Holocaust überlebt haben. Umso dankbarer bin ich, Sie heute hier begrüßen zu dürfen. Und ich möchte Ihnen noch einmal ganz herzlich zu Ihrem Geburtstag gratulieren, den Sie gerade gefeiert haben. 102 Jahre, liebe Frau Friedländer, was für eine Lebensspanne! Herzlichen Glückwunsch von uns allen!

Ich freue mich, dass Sie alle, liebe Gäste, heute hier ins Schloss Bellevue zu diesem besonderen Gespräch gekommen sind. Ein erstes Gespräch über das Zusammenleben in Deutschland in Zeiten des Krieges im Nahen Osten, dem weitere Gespräche mit anderen Teilnehmern und anderen Schwerpunkten folgen werden. Sie alle, die Sie heute hier sind, Sie alle leben Zusammenhalt, und Sie alle machen uns mit Ihrem Beispiel Mut in diesen ernsten Zeiten. Mut, wie unser Zusammenleben gelingen kann. Seien Sie alle sehr herzlich willkommen!

Seit dem 7. Oktober ist in Israel nichts mehr wie zuvor. Für die Israelis ist der Terrorangriff der Hamas eine Zäsur und ein tiefes Trauma zugleich. Raketenangriffe, bestialische Morde, Verstümmelungen, Geiselnahmen haben zu einem neuen Krieg geführt. Das Bangen um die Geiseln hält an. Ein Krieg, den die Hamas auch gegen die eigene Bevölkerung führt, die selbst zur Geisel geworden ist. Tausende Unschuldige sind ihm bereits zum Opfer gefallen. Das Leid der Menschen berührt uns im Innersten.

Aber der Krieg hat auch Auswirkungen auf unser Land, auf unser Zusammenleben in Deutschland. Wir spüren es alle: Unser Land, unsere Gesellschaft ist gefordert wie lange nicht. Ich bin erfreut über die große Solidarität mit Israel. Aber ich bin besorgt, wie sehr die Gewalt im Nahen Osten auch den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland gefährdet. Und ich bin entsetzt über die Billigung des Terrors, die antisemitische Hetze auf unseren Straßen. Ich verurteile das scharf und entschieden.

Morgen ist der 9. November. Es ist unerträglich, dass Jüdinnen und Juden 85 Jahre nach den Pogromen des 9. November 1938 sich nicht sicher fühlen in unserem Land. Dass sie Angst haben, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Dass Hausfassaden mit dem Davidstern beschmiert werden.

Ich möchte mich an die jüdische Gemeinschaft in Deutschland wenden. Die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in Israel hat Sie bis ins Mark erschüttert. Es ist wie ein Alptraum, der Sie seit einem Monat gefangen hält. Ich kann Ihnen das Entsetzen über aggressive judenfeindliche Kundgebungen in Deutschland nicht nehmen. Aber ich will Ihnen versichern, dass dieses Land nicht ruhen wird, solange Sie um Ihre Sicherheit und die Sicherheit Ihrer Kinder fürchten müssen. Wir werden Antisemitismus in unserem Land nicht dulden – keinen alten und keinen neuen, keinen christlichen und keinen muslimischen, keinen linken und keinen von rechts!

Ich möchte mich an die palästinensische Gemeinschaft in unserem Land wenden. Sie alle sollen Raum haben, um Ihren Schmerz und Ihre Verzweiflung über die zivilen Opfer in Gaza zu zeigen, mit anderen zu teilen. Das Recht, das öffentlich und friedlich zu tun, ist von unserer Verfassung garantiert – und dieses Recht steht nicht in Frage. Und es darf keinen antimuslimischen Rassismus und auch keinen Generalverdacht gegen Muslime geben.

Aber Terrorismus, Volksverhetzung und der Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel sind nicht Teil dieser Garantie, und ich erwarte, dass wir gemeinsam dagegenhalten. Die Hamas spricht nicht für die Palästinenserinnen und Palästinenser. Im Gegenteil: Sie werden selbst zu Opfern des Hamas-Terrors. Ich bitte Sie, die Menschen mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln in Deutschland: Lassen Sie sich von den Helfershelfern der Hamas nicht instrumentalisieren! Sprechen Sie für sich selbst! Erteilen Sie dem Terror eine klare Absage!

Liebe Gäste, ich verstehe, dass viele Menschen auch in unserem Land bangen, hoffen, dass sie um Angehörige und Freunde fürchten, dass sie mitleiden mit den Menschen auf der einen oder auf der anderen Seite. Vieles spiegelt sich wider in Briefen und E-Mails, die mich in diesen Tagen in großer Zahl erreichen. Wir spüren die innere Zerrissenheit vieler, die auf die Straße gehen, und wir spüren auch die scheinbar unüberbrückbaren Differenzen zwischen einzelnen Gruppen. Dass wir auch in Zukunft friedlich zusammenleben können, das ist aktuelle Herausforderung und gleichzeitig die große Aufgabe, vor der wir jetzt stehen – und zwar alle. Es ist auch das, was sich die meisten Menschen in unserem Land wünschen – ganz gleich, woher sie kommen und an was sie glauben.

Das Deutschland von heute ist ein weltoffenes, vielfältiges Land. Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund, in dem Menschen mit ganz unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Erfahrungen, Religionen zusammenleben. In einem solchen Land hat gesellschaftlicher Friede Voraussetzungen.

Das Fundament unseres Zusammenlebens ist das Grundgesetz, das Freiheit für alle garantiert, Bedrohung und Diskriminierung aber ausschließt. Gerade die Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind hohe Güter, festgeschrieben in unserer Verfassung. Friedliche Proteste, Solidarität, Mitgefühl, all das ist legitim und Ausdruck verfassungsrechtlich geschützter Freiheit.

Aber die Freiheit hat dort ihre Grenzen, wo sie in Gewalt und Hass umschlägt. Antisemitische Volksverhetzung, Angriffe auf Synagogen, das Verbrennen israelischer Flaggen sind keine Wahrnehmung von Freiheit. Als Straftaten müssen sie strikt verfolgt und bestraft werden.

Wer in diesem Land lebt und leben will, der muss die Regeln für ein friedliches Zusammenleben respektieren. Der muss wissen um unsere Geschichte. Ich habe es kürzlich am Brandenburger Tor gesagt und wiederhole es heute: Wer in Deutschland lebt, muss Auschwitz kennen und die Verantwortung, die daraus für uns erwächst. Jüdisches Leben in Deutschland zu schützen, ist Staatsaufgabe, ja. Aber es ist auch Bürgerpflicht. Das gilt für alle, die in unserem Land leben. Ich bin überzeugt, wir müssen diesen Anspruch deutlicher formulieren als bisher. Bloße Lippenbekenntnisse reichen nicht in dieser Zeit des Terrors und des Hasses.

Ich weiß, dass der Krieg im Nahen Osten insbesondere an vielen Schulen zu heftigen Auseinandersetzungen führt und viele Lehrerinnen und Lehrer sich gefordert, überfordert oder gar allein gelassen fühlen. Ich erwarte von der Politik, dass sie Lehrerinnen und Lehrer in dieser schwierigen Lage mit aller Entschlossenheit unterstützt.

Liebe Gäste, der innere Frieden ist keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen ihn verteidigen, wo immer wir ihn verletzt und gefährdet sehen. Und jeder und jede muss jetzt diesen inneren Frieden zu seiner persönlichen Sache machen.

Sie alle, die Sie heute meiner Einladung gefolgt sind, haben dieses friedliche Zusammenleben zu Ihrer Sache gemacht. Sie alle setzen sich auf herausragende Weise ein: für Dialog und gegenseitigen Respekt, für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Muslimen in unserem Land. Sie leben religiöse Toleranz und Verständigung, in großartigen Projekten und mit sehr viel persönlichem Einsatz. Ich weiß, dass manche von Ihnen mit schweren Anfeindungen zu kämpfen haben und möchte Ihnen sagen: Ich bewundere Ihr Engagement und freue mich über Ihren Mut, dass Sie trotz alledem weitermachen. Sie alle sind leuchtende Vorbilder, wie wir sie gerade jetzt so dringend brauchen. Sie sind Vorbilder für viele andere Menschen in unserem Land, und dafür möchte ich Ihnen heute von ganzem Herzen danken!

Danke, dass Sie gekommen sind. Vielleicht haben Sie auf Ihrem Weg hierher auch bedrückende Gedanken begleitet. Was können wir jetzt sagen, wie können wir jetzt durch unser Beispiel etwas bewirken? Das sind keine leichten Fragen. Ich bin froh über das Gespräch mit Ihnen, und ich bin sicher, Ihre Erfahrungen, Ihre Sorgen, aber auch Ihre Hoffnungen und Ihre Wünsche für die Zukunft sind gerade jetzt für unser Land von großer Bedeutung.

Erlauben Sie mir, dass ich Sie kurz vorstelle, ehe wir unser Gespräch beginnen. Ich darf beginnen mit unserem Ehrengast, den ich eigentlich gar nicht vorstellen muss. Liebe Frau Friedländer, Ihre unglaubliche Lebensgeschichte ist für uns alle ein Wunder und Ihre Haltung eine, an der wir uns jeden Tag aufrichten. Sie haben miterlebt, wie ihre Eltern, ihr Bruder und viele Freunde und Verwandte von den Nationalsozialisten als Juden ermordet worden sind. Sie selbst haben das KZ Theresienstadt überlebt und sind dann in die USA ausgewandert. Erst mit 88 Jahren kamen Sie zurück in Ihre geliebte Heimatstadt Berlin. Seither setzen Sie sich als Zeitzeugin vor allem an Schulen unermüdlich für Versöhnung ein; dafür, dass junge Menschen erfahren, was damals geschehen ist, damit es nicht wieder geschieht. „Es ist für Euch“, für die jungen Menschen, das sagen Sie immer wieder. Welche Freude, dass Sie heute hier sind, liebe Frau Friedländer! Herzlichen Dank!

An Ihrer Seite begrüße ich ganz herzlich Derviş Hızarcı. Ein Berliner wie Margot Friedländer. Aufgewachsen in Neukölln als Sohn türkischer Einwanderer. Sie engagieren sich seit vielen Jahren leidenschaftlich und in vielen Ämtern und Initiativen gegen Antisemitismus, Diskriminierung und Rassismus. Sie sind Vorstandsvorsitzender der schon lange weit über Kreuzberg hinaus bekannten Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. Schön, dass Sie heute hier sind!

Unser nächstes Gästepaar, Sie, lieber Michael Fürst und Sie, lieber Yazid Shammout, verbindet als Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und als Vorsitzender der Palästinensischen Gemeinde in Hannover etwas, was alles andere als selbstverständlich ist: Sie beide verbindet eine tiefe Freundschaft und eine gemeinsame Vision vom friedlichen Zusammenleben. Ihnen beiden ist es gelungen, einen erfolgreichen Dialog zwischen Jüdinnen und Juden und Palästinenserinnen und Palästinensern in Hannover zu begründen. Gemeinsam haben Sie nach dem 7. Oktober dazu aufgerufen, Hass und Hetze entgegenzutreten. Ein herzliches Willkommen Ihnen beiden!

Unser nächstes Gästepaar ist hier in Berlin stadtbekannt. Sie, lieber Jalil Dabit und Sie, lieber Oz Ben David, hätten sich als Palästinenser und Israeli vermutlich nie träumen lassen, dass Sie einmal zusammen ein Restaurant betreiben würden, und das ausgerechnet in Berlin. Aber das tun Sie, allen Anfeindungen zum Trotz, und zwar sehr erfolgreich. Das „Kanaan“ ist bekannt für seine Küche und sein Motto „Uniting Cultures Through Food“, oder wie es in einem Film einst ironisch-optimistisch hieß: „Make Hummus Not War!“. Lieber Jalil Dabit, ich weiß, dass Sie gerade bei Ihrer Familie in Israel und der Westbank waren und eigens für diesen Runden Tisch zurückgekommen sind nach Berlin. Dafür herzlichen Dank! Mich hat das sehr berührt. Seien Sie uns beide herzlich willkommen!

Das nächste Gästepaar, Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun, lebt ebenfalls in Berlin. Als deutsch-israelischer Sozialunternehmer und als palästinensisch-stämmige Geschäftsführerin von Transaidency e.V. gehen Sie seit Jahren dorthin, wo es besonders wichtig ist, um Toleranz und Verständigung zu werben: in Berliner Schulen. Im Rahmen dieser Projekte schaffen Sie Räume für Schülerinnen und Schüler, um über den Nahostkonflikt zu sprechen. Wie wichtig ist das gerade in diesen Wochen. Ich freue mich, dass Sie beide hier sind!

Ganz herzlich begrüße ich auch Sie, lieber Dmitrij Belkin und lieber Akın Şimşek! Sie, lieber Herr Belkin, stammen aus der heutigen Ukraine und leiten die „Denkfabrik Schalom Aleikum“, eine Forschungseinrichtung des Zentralrats der Juden in Deutschland, in der Themen aus jüdischer, muslimischer und christlicher Perspektive diskutiert werden. Dort arbeiten auch Sie, lieber Herr Şimşek – außerdem sind Sie Mitglied im Vorstand der Alhambra Gesellschaft, deren Ziel es ist, jungen Musliminnen und Muslimen ein breites Angebot im Bereich der politischen Bildung, der Kunst und Kultur zu machen. Seien Sie uns beide auch herzlich willkommen!

Etwas ganz Besonderes verbindet auch Sie, lieber Elias Dray, lieber Ender Cetin. Sie beide engagieren sich als Rabbiner und als Imam in dem wunderbaren Projekt „Meet2Respect“ und besuchen Schulklassen, in denen Sie für interreligiösen Dialog und friedliches Zusammenleben eintreten. Sie vermitteln dabei einerseits Wissen über den Islam und betreiben andererseits Antisemitismusprävention. Wie wichtig ist das beides, gerade in diesen Zeiten! Schön, dass Sie heute hier sind!

Ich denke, wir alle sind gespannt auf dieses Gespräch. Ich freue mich darauf. Herzlichen Dank.