Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Tief eingebrannt in unser aller Gedächtnis wird dieser 7. Oktober sein – auf ewig. Der Tag, nach dem für die Menschen in Israel, für alle Jüdinnen und Juden nichts mehr ist wie zuvor. Der Tag, an dem Terroristen der Hamas Israel mit grenzenloser Brutalität überfielen, unschuldige Zivilisten ermordeten, wehrlose Opfer grausam massakrierten, Alte wie Kinder hinrichteten, mehr als zweihundert Menschen verschleppten. Der Tag, an dem das Grauen in das Leben der Menschen in Israel einbrach. Die Angstschreie, die Verzweiflung, die Wut – welch unerträglicher Schmerz für die, die die Barbarei überlebten, Schmerz über die Toten, Schmerz über die Verletzten, Schmerz über die Verschleppten in ihrer Todesangst.

Die Geschehnisse in Israel, die Nachrichten und Bilder, die uns erreichen, schmerzen auch uns hier in Deutschland zutiefst. Deshalb kommen wir heute hier zusammen: um Solidarität zu zeigen, und ich bin Ihnen allen sehr dankbar dafür. Wir sagen unseren Freunden in Israel und allen Jüdinnen und Juden: Ihr seid nicht allein! Wir stehen in diesen furchtbaren Stunden an Eurer Seite. Euer Schmerz ist unser Schmerz.

Ich höre diesen Schmerz, wenn ich oft in diesen Tagen mit meinem Freund, dem israelischen Präsidenten Herzog telefoniere. Und ich habe ihn ganz besonders gespürt, als ich am Freitag mit Angehörigen der verschleppten Geiseln zusammensaß.

Einige von ihnen sind heute hier, Gilli, Roni, Yoni und viele andere. Ihnen, die seit zwei Wochen in quälender Ungewissheit leben, die nicht wissen, wohin ihre Freunde und Verwandten verschleppt worden sind, ob und unter welchen Umständen sie leben, die unvorstellbare Seelenqualen erleiden, ihnen sage ich: Wir Deutschen leiden, wir beten, wir flehen mit Euch. Und wir wollen tun, was in unserer Macht steht, damit Ihre Angehörigen so schnell wie möglich freikommen.

Den Terroristen, die die Geiseln als Schutzschild missbrauchen, rufe ich von hier, vom Brandenburger Tor aus zu: Die ganze Welt schaut auf dieses Verbrechen! Beenden Sie die Barbarei! Lassen Sie die Unschuldigen frei!

Ja, seit dem 7. Oktober ist nichts mehr, wie es war. Noch nie seit dem Ende der Shoah wurden so viele Jüdinnen und Juden ermordet. Israel hat das Recht, sich gegen diesen Terror zu verteidigen. Und Deutschland steht dabei fest an Israels Seite. Der Terror der Hamas richtet sich gegen Jüdinnen und Juden in Israel. Aber der Terror trifft auch Menschen im Gazastreifen, deren Interessen die Hamas nur vorgibt zu vertreten. Es sind die Terroristen, die Gaza in einen zerstörerischen, militärischen Krieg geführt haben. Einen Krieg, von dem wir alle fürchten, dass er zum regionalen Flächenbrand werden könnte. Alles muss versucht werden, um das zu verhindern.

Und vergessen dürfen wir auch die unschuldigen Menschen in Gaza nicht, die Terrorismus nicht unterstützen und jetzt trotzdem leiden. Wir müssen und werden uns für den Schutz von Zivilisten einsetzen; sie brauchen humanitäre Hilfe und humanitäre Korridore. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir alle spüren in diesen Tagen: Auch unser Land ist gefordert wie lange nicht! Es ist unerträglich, dass Jüdinnen und Juden heute wieder in Angst leben – ausgerechnet in unserem Land. Dass jüdische Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Schule schicken – ausgerechnet in unserem Land. Dass das Holocaust-Mahnmal hier nebenan von der Polizei geschützt werden muss – ausgerechnet in unserem Land. Jeder einzelne Angriff auf Jüdinnen und Juden, auf jüdische Einrichtungen ist eine Schande für Deutschland! Jeder einzelne Angriff erfüllt mich mit Scham und Zorn.

Wir alle in unserem Land sind gefordert. Antisemitismus ist die rote Linie: Wir dürfen keinen Antisemitismus dulden – keinen rechten, keinen linken, keinen alten und keinen neuen. Und wir dürfen keinen Israel-Hass, der sich auf unseren Straßen entlädt, dulden. Von niemandem!

Unsere Demokratie unterscheidet nicht nach Herkunft, Erfahrung und Religion. Jeder, der hier lebt, muss Ausschwitz kennen und die Verantwortung begreifen, die daraus für unser Land erwächst. Dass nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah jüdisches Leben in unserem Land wieder gewachsen ist, das ist ein Wunder. Und dieses Wunder müssen und wollen wir bewahren. Wie sehr wünschte ich mir, dass es nicht nötig wäre, aber wir verstärken den Schutz von jüdischen Einrichtungen. Jüdisches Leben zu schützen, auch das ist unsere besondere Verantwortung und unser Auftrag aus der Geschichte. Er ist eingeschrieben in das Fundament, auf dem unsere Demokratie gebaut ist. Der Schutz jüdischen Lebens ist Staatsaufgabe – aber er ist auch Bürgerpflicht!

Ich bitte alle Menschen in unserem Land, diese Bürgerpflicht anzunehmen. Wir leben in einer Demokratie, ja; die Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind ein hohes Gut, ja. Aber Gewalt setzt unseren Freiheiten Grenzen. Antisemitische Volksverhetzung, Attacken auf jüdische Synagogen, Angriffe auf Polizisten sind keine Wahrnehmung von Freiheit. Es sind Straftaten. Ich erwarte von allen, wo immer sie stehen, diese Regeln für ein friedliches Zusammenleben zu respektieren.

Wir sind ein vielfältiges und weltoffenes Land – und wir wollen es bleiben. Seien wir uns einig in der Ablehnung von Terrorismus und Barbarei! Verurteilen wir gemeinsam jede Form von Antisemitismus und Rassismus! Zeigen wir, dass in Deutschland Menschen mit jüdischen, christlichen, muslimischen, arabischen Wurzeln friedlich zusammenleben können und das auch wollen! Das und nicht weniger ist von uns verlangt. Gerade jetzt, in diesen Tagen! Danke, dass Sie gekommen sind.