Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

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Sehr geehrter Herr Premierminister,
sehr geehrter Herr Chandrashekhar,
sehr geehrter Herr Reddy,
sehr geehrter Herr Professor Otto,
meine Damen und Herren,

dass wir in Bangalore zu diesem Wirtschaftsforum zusammenkommen, um über deutsch-indische Wirtschafts- und Wissenschaftskooperation zu sprechen, ist eine hervorragende Idee. Ich möchte den Organisatoren ganz herzlich danken. Hier im asiatischen Silicon Valley, wie Bangalore auch genannt wird, ist die enge Zusammen-arbeit unserer Länder mit Händen zu greifen. Hier finden deutsche Ingenieurkompetenz und indische IT-Brillanz zueinander und ergänzen sich perfekt.

Davon konnten wir uns während unseres Besuchs im Innovationszentrum von Bosch überzeugen. Insgesamt sind rund 170 deutsche Unternehmen in Bangalore vertreten. Sie erweisen sich als wichtiger und verlässlicher Motor der wirtschaftlichen Entwicklung in dieser Region. In diesem Engagement spiegelt sich zugleich die hohe Bedeutung der deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen wider.

Deutschland ist Indiens wichtigster Handelspartner in der Europäischen Union. Unser bilaterales Handelsvolumen lag im vergangenen Jahr bei rund 16 Milliarden Euro. Nach eher verhaltenen Jahren verspricht 2015 wieder ein Jahr der Zuwächse zu wer-den: In den ersten sieben Monaten nahmen die deutschen Importe um über acht Pro-zent zu, unsere Exporte nach Indien sogar um fast 18 Prozent gegenüber dem Vor-jahreszeitraum.

Indien ist für Deutschland nicht nur als Handelspartner, sondern auch als Investitions-partner sehr gefragt. Mehr als 1.600 deutsche Unternehmen sind hierzulande aktiv – manche sind es sogar länger als 100 Jahre. Mit einem Bestand von insgesamt fast zehn Milliarden Euro zählt Deutschland zu den wichtigsten Direktinvestoren in Indien. Unsere Unternehmen wissen die Standortvorteile hier in Indien zu schätzen: ein großer Markt, ein hohes Wachstumspotenzial und eine beeindruckende Innovationsfähigkeit. Dass das Interesse am weiteren Ausbau unserer Wirtschaftsbeziehungen groß ist, unterstreichen die Spitzenvertreter namhafter deutscher Unternehmen, die mich auf dieser Reise begleiten.

Es kommt auch nicht von ungefähr, dass Indien nach 2006 auch 2015 wieder Partner-land der weltweit bedeutendsten Industriemesse in Hannover war. Dies bringt die her-vorragenden Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit in den Branchen zum Ausdruck, für die auch Bangalore steht: Branchen, die mit Digitalisierung, Vernetzung und Industrie 4.0 zu tun haben.

Der Wertschöpfungsanteil der Industrie in Deutschland ist mit über 22 Prozent nicht nur seit vielen Jahren stabil, sondern im weltweiten Vergleich auch relativ hoch. Der Erfolg der deutschen Industrie war und ist nur möglich durch die ausgeprägte Internationalisierung. Diese setzt eine entsprechend hohe Innovationsfähigkeit voraus. Wir müssen unsere Produkte und Verfahren immer wieder auf den neuesten technologischen Stand bringen oder – noch besser – immer wieder Vorreiter sein.

Schon allein im Begriff „Vernetzte Industrie“ klingt die Aufgabe an, dass wir verschiedene Kompetenzen bündeln müssen. Genau dem dient unsere Plattform Industrie 4.0. Sie bringt alle maßgeblichen Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gewerkschaften und Politik in Deutschland zusammen, um die Industrie 4.0 zu einer Erfolgsgeschichte zu machen. Das erfordert natürlich nicht nur überzeugende Antworten auf technologische Fragen, sondern genauso auf Fragen der Sicherheit und der Standardisierung, auf Fragen der rechtlichen Rahmenbedingungen und auf Fragen der Veränderungen in der Arbeitswelt.

Indien verfügt bekanntermaßen über hohe IT-Kompetenzen und viel Erfahrung. Lassen Sie uns daher das Know-how und die Stärken unserer beiden Länder noch mehr zusammenführen, um uns gemeinsam neue Türen zum Erfolg im digitalen Zeitalter zu öffnen.

Aber auch über IT und Industrie 4.0 hinaus bieten sich unseren beiden Ländern weitere gute Kooperationsmöglichkeiten. Ich denke dabei auch an große Infrastrukturprojekte, zum Beispiel im Bahnbereich, zur Stadtentwicklung und Energieversorgung. Ob es etwa um Mobilität insgesamt oder auch um Dienstleistungen und Berufsbildung geht – von einer engen Zusammenarbeit können wir gleichermaßen profitieren, egal ob es um Digitalisierung oder eben um die zuletzt genannten Bereiche geht.

Daher ist es gut, dass die KfW Bankengruppe Investitionen in Indien unterstützt. Ich will hinzufügen: Wir werden weiter darüber nachdenken müssen, wie wir Investitions-bedingungen auch seitens der Finanzinstitutionen in Deutschland verbessern können. Unser Engagement zielt insbesondere auf eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Dafür stehen in den nächsten vier Jahren bis zu fünf Milliarden Euro bereit.

Wie in jedem Land hängt natürlich auch in Indien die weitere Wirtschaftsentwicklung wesentlich davon ab, welche Rahmenbedingungen die Unternehmen vorfinden. Wir verfolgen daher mit großem Interesse den Reformkurs, den Sie, Herr Premierminister, und die indische Regierung eingeschlagen haben. Es sind verschiedene Dinge neu geregelt worden, zum Beispiel das Vergabewesen von Kohle-Lizenzen. Die Beteiligungsgrenzen für ausländische Direktinvestitionen in einigen Branchen sind erhöht worden. Wenn diese Liberalisierungsmaßnahmen der Auftakt für weitere Reformvor-haben sind, dann ist dies auch ein Startschuss für weitere Vorhaben deutscher Unter-nehmen in Indien.

Deutschen wie auch europäischen Unternehmen ist an einer möglichst umfassenden Gleichbehandlung mit indischen Unternehmen gelegen. Von fairen Markt- und Wettbewerbsbedingungen profitieren immer beide Seiten. Und darauf kommt es an. Von daher würden wir es sehr begrüßen, wenn die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Indien bald wieder aufgenommen werden könnten. Wir haben darüber gestern gesprochen, und ich hoffe, dass es auch gelingen wird. Dabei sind viele schwierige Detailfragen zu klären. Dennoch sollten wir dabei das Ganze nicht aus dem Blick verlieren, und das ist, dass ein umfassendes Abkommen für die Wirtschaftspartnerschaft zwischen Indien und der Europäischen Union insgesamt von großer Bedeutung wäre.

Für Deutschland kann ich sagen: Uns sind indische Investoren herzlich willkommen. Ich möchte sie ausdrücklich ermutigen, sich noch stärker als bisher in Deutschland zu engagieren. Das heißt, ein solches Freihandelsabkommen würde nicht nur den Weg für deutsche Unternehmen einfacher machen, nach Indien zu kommen, sondern auch die umgekehrte Richtung stärken.

Sie finden als indische Unternehmen bei uns ausgezeichnete Rahmenbedingungen vor. Wir haben eine zentrale Lage in Europa. Wir haben leistungsstarke Infrastrukturen. Wir haben gut qualifizierte Fachkräfte und ein exzellentes Netz von Forschungs-einrichtungen, das auch einer der Innovationstreiber in Deutschland ist.

Auf einen ertragreichen Austausch zwischen Wirtschaft und Wissenschaft legt man nicht nur in Deutschland, sondern auch in Bangalore ein besonderes Augenmerk. Deshalb ist es kein Wunder, dass sich auch namhafte Forschungsinstitute aus Deutschland hier angesiedelt haben. Ein Beispiel ist die Repräsentanz der Fraunhofer-Gesellschaft, einer Vorzeige-Institution für anwendungsorientierte Forschung. Wir konnten uns gestern Abend noch davon überzeugen, dass gerade die Verbindung von Industrieunternehmen und anwendungsorientierter Forschung in Bangalore schon recht gut klappt, obwohl die Tradition dafür in Indien noch nicht so lang ist.

Bangalore steht also beispielhaft für die Zusammenarbeit unserer beiden Länder, so-wohl in Forschung als auch in Entwicklung. Aber natürlich kann Gutes immer auch noch besser werden. Gerade dem dienen unsere Regierungskonsultationen. Wir haben jetzt vereinbart, dass wir gerade im Bereich der Wissenschaft noch intensiver kooperieren. So werden wir die Arbeit am deutsch-indischen Wissenschaftszentrum weiter stärken.

Ich kann es auch nur begrüßen, dass bereits viele deutsche und indische Universitäten bilaterale Abkommen eingegangen sind. Immer mehr indische Studenten entdecken, dass man in Deutschland auf Spitzenniveau studieren kann, insbesondere auch German engineering. Knapp 12.000 indische Studenten sind an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Damit zählen indische Studenten zu den größten Gruppen ausländischer Studierender.

Ich würde mich freuen, wenn viele von ihnen auch nach Studienabschluss den Lebensmittelpunkt in unserem Land finden oder zumindest einige Jahre bei uns bleiben, gerade auch, weil Indien und Deutschland vor demografischen Herausforderungen stehen – und zwar unter genau entgegengesetzten Vorzeichen. Das heißt, Indien braucht hochwertige Arbeitsplätze, und Deutschland braucht hochqualifizierte Arbeits-kräfte. Auch deswegen ist die Präsenz deutscher Institute und Organisationen – wie Fraunhofer, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes oder der Außenhandelskammer – in Indien deutlich stärker geworden. Wir haben in Deutschland neue Regelungen für den Zuzug geschaffen. Sie erleichtern es qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland, zu uns zu kommen und in unserem Land Fuß zu fassen.

Deutschland genießt nicht nur einen guten Ruf als Hochschulstandort, sondern ist auch bekannt für seine Stärke in der dualen Berufsausbildung. Ich bin sicher, dass wir unsere Erfahrungen im Rahmen der „Skill-India“-Initiative hervorragend einbringen können.

Ob in Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik – vielfältige Kontakte beleben unsere Partnerschaft zwischen Indien und Deutschland. Wir bauen dabei auf einem gleichen Werteverständnis auf. Wir wissen um den Stellenwert von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit, von Marktwirtschaft. Gemeinsam teilen wir auch eine immer größer werdende internationale Verantwortung. In den Vereinten Nationen setzen wir uns für Frieden, Sicherheit und nachhaltige Entwicklung ein.

Wir sind bereit, in Zukunft weltweit noch mehr Verantwortung zu übernehmen. Wir treten für eine Reform des Sicherheitsrates ein, in der sich die veränderte Weltlage im 21. Jahrhundert widerspiegelt. Wir sind gemeinsam der Überzeugung, dass 70 Jahre nach Gründung der Vereinten Nationen die Zeit dafür reif ist. Premierminister Modi und ich haben vor einer Woche in New York mit unseren Partnern Japan und Brasilien genau darüber beraten und auch Vorschläge dazu gemacht.

Im November werden wir beide uns in der Türkei beim G20-Gipfel wiedersehen. Dieses Forum hat in den vergangenen Jahren erheblich an Gewicht gewonnen. Es kommt ja in der Tat darauf an, dass Schwellenländer und Industrieländer an einem Strang ziehen. Nur dann können wir uns wirklich dem Ziel nähern, nachhaltige und faire Wachstumsbedingungen für die Weltwirtschaft insgesamt zu schaffen. Es kann nur als gemeinsames globales Werk gelingen, die kürzlich beschlossene Agenda 2030 umzusetzen. Sie ist der Leitfaden dafür, dass viele Millionen Menschen in den nächsten 15 Jahren eine bessere Perspektive für ihr Leben gewinnen können. Eines der großen Ziele ist es, 2030 eine Welt ohne Hunger zu haben.

Wir tragen auch gemeinsam Verantwortung für das Weltklima. Deutschland und Indien sind sich einig in dem Ziel, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Das ist notwendig, um die schlimmsten Folgen des Klimawandels abzumildern. Deshalb müssen wir in Paris Ende des Jahres ein ehrgeiziges und für alle verbindliches Abkommen beschließen. Wir müssen auf einen Entwicklungspfad einschwenken, der auf eine Dekarbonisierung im Laufe dieses Jahrhunderts zielt. Das gelingt uns nur, wenn alle Staaten ihren Beitrag dazu leisten und wenn wir uns gegenseitig unterstützen – wohl wissend, dass die Industrieländer hier eine höhere Verantwortung haben.

Ein Kernelement ist dabei der zugesagte Beitrag der Industrieländer zur Klimafinanzierung. Diese Klimafinanzierung ist für ärmere Staaten von besonderer Bedeutung. Wir haben unsere Bereitschaft dazu auf dem G7-Gipfel in Deutschland nochmals bekräftigt. Wir haben versprochen, ab 2020 jedes Jahr weltweit 100 Milliarden Dollar aus staatlichen und privaten Quellen zur Verfügung zu stellen.

Deutschland steht auch gerne bereit, Indien auf seinem Weg zu mehr Energieeffizienz und zu mehr erneuerbaren Energien zu begleiten. Wir können gemeinsam moderne Technologien für klimafreundliche Entwicklungen vorantreiben.

In Deutschland selbst wollen wir bis zum Jahr 2050 unseren Anteil an Strom aus erneuerbaren Energien Schritt für Schritt auf 80 Prozent steigern. Damit leisten wir einen wichtigen nationalen Beitrag zum Klimaschutz. Wir setzen auch international Maßstäbe, indem wir zeigen: Ökonomische und ökologische Ziele lassen sich gut miteinander vereinbaren. Wir verzichten nicht auf Wohlstand, sondern erwirtschaften ihn nur auf andere Weise.

Mit zunehmendem wirtschaftlichen Gewicht kommt den Ländern der Asien-Pazifik-Region natürlich mehr internationale Verantwortung zu, gerade auch, was die entscheidenden Voraussetzungen für nachhaltige Entwicklung anbelangt: Frieden, Sicherheit und Stabilität. Leider lässt die sicherheitspolitische Lage auch in der asiatischen Region zu wünschen übrig. Ich erinnere an die Lage auf der koreanischen Halbinsel und an die Territorialkonflikte im Ost- und Südchinesischen Meer.

Freie und sichere See- und Handelswege in der Asien-Pazifik-Region berühren auch unsere Kerninteressen in Europa. Daher ist es wichtig, dass sich die EU als sicherheitspolitischer Partner besser einbringen kann. Ausgehend von ASEAN als einem Stabilitätsanker entwickelt sich nun eine regionale Sicherheitsarchitektur, an der sich auch Indien beteiligt. Darüber hinaus Europa einzubinden, kann aus meiner Sicht nur hilfreich sein.

Die sicherheitspolitische Verantwortung Indiens kommt auch in seinem verstärkten Engagement in den Exportkontroll-Regimen zum Ausdruck, die unter anderem der Nichtverbreitung von Kernwaffen dienen. Dass sich das Land nun auch als Mitglied in alle vier internationale Exportkontroll-Regime einbringen will, wird von deutscher Seite ausdrücklich unterstützt. Denn darin sehen wir einen Ansatzpunkt, in sicherheitsrelevanten Bereichen enger zusammenzuarbeiten.

Diese Beispiele, dieses Wirtschaftsforum und die deutsch-indischen Regierungskonsultationen – all dies macht deutlich: Unsere beiden Länder haben vielfältige Beziehungen, und uns eint der feste Wille, diese Beziehungen noch weiter auszubauen.

Ich erinnere mich noch gut an den virtuellen Löwen während der Eröffnung der Hannover Messe. Heute haben wir auch einen zum Anfassen von den Bosch-Auszubildenden bekommen. Dieser virtuelle Löwe war das aussagekräftige Symbol für Indiens Anspruch und Selbstverständnis, sich als starke Wirtschaftsnation zu präsentieren. Während meines Besuchs in Indien ist mir zwar kein Löwe über den Weg gelaufen. Der Premierminister hat allerdings gesagt, wo sie zu finden sein könnten. Und er hat auch gesagt, man müsse keine Angst haben. Aber sinnbildlich gesprochen, war die Präsenz des Löwen doch deutlich zu spüren.

Passenderweise dient der Löwe auch vielen Städten, Landkreisen und Bundesländern in Deutschland als Wappentier. Daher nehme ich das Symbol des Löwen auch als Ausdruck der deutsch-indischen Partnerschaft, die weiter an Stärke gewinnen möge – zum Wohle unserer beiden Länder.