auf dem fünften Ordentlichen Kongress der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie am 16. Oktober 2013 in Hannover:
- Bulletin 94-1
- 16. Oktober 2013
Sehr geehrter, lieber Herr Vassiliadis,
sehr geehrte Delegierte,
sehr verehrtes Präsidium,
meine Damen und Herren,
ich möchte damit beginnen, dass ich zunächst der Bergleute gedenke, die vor etwas mehr als zwei Wochen im Kalibergwerk Unterbreizbach ihr Leben gelassen haben. Wir alle trauern um die Bergleute. Wir trauern mit ihren Angehörigen, Familien und Freunden. Ihnen gilt unser Beileid und unser Mitgefühl. Das Grubenunglück hat uns schmerzhaft vor Augen geführt, dass Bergbau unter Tage auch heute noch mit Risiken verbunden ist. Es ist – ich denke, darin bin ich mit Ihnen einig – eine Mahnung, die Fragen des Arbeitsschutzes sehr ernst zu nehmen. Das muss uns eine Lehre sein.
Nun möchte ich Ihrem frisch gewählten Vorsitzenden ganz herzlich zu seiner Wiederwahl gratulieren. Ich hatte als CDU-Vorsitzende eigentlich auch ein gutes Ergebnis, aber Sie haben das noch besser hinbekommen. Herzlichen Glückwunsch und auf weitere gute Zusammenarbeit.
Vor vier Jahren war ich auch bei Ihnen. Der Kongress fand ebenfalls kurz nach der Bundestagswahl statt. Ich weiß nicht, ob das System hat – vielleicht, da Sie ja vorausdenken. Morgen werden wir die Gespräche mit der Sozialdemokratischen Partei zur Bildung einer Großen Koalition fortsetzen. Dass wir uns in einer solch wichtigen Phase hier treffen, gibt mir Gelegenheit, zu einigen Fragen, die in den nächsten vier Jahren eine Rolle spielen werden, Stellung zu nehmen. Wir stellen die Weichen für die nächsten vier Jahre. Ich sage ganz offen: Ich habe es als müßig empfunden, in den jetzigen Gesprächen wie auf einer Checkliste all die Themen aufzuzählen, die CDU, CSU, SPD und auch Grüne trennen. Das kann jeder von uns sicherlich innerhalb weniger Minuten leisten, aber das führt uns ja nicht weiter. Viel lohnender ist es aus meiner Sicht hingegen, darüber zu beraten, wie wir jetzt den Auftrag der Wählerinnen und Wähler umsetzen und in einer wirtschaftlich und politisch außerordentlich anspruchsvollen Zeit die Zukunft unseres Landes gestalten wollen. Das ist es, was mich auch in den Gesprächen zur Bildung der nächsten Bundesregierung, zur Bildung einer Großen Koalition, leitet. Und davon möchte ich Ihnen heute berichten.
Ich möchte vier zentrale Handlungsschwerpunkte nennen.
Erstens: Ich will einen stabilen Euroraum. Europa soll aus der Krise gestärkt hervorgehen, genauso wie es uns in Deutschland in der Krise 2008/2009 gelungen ist. Deutschland ist aus dieser Krise gestärkt hervorgegangen. Genauso muss auch Europa stärker aus der Krise hervorgehen, als es in sie hineingegangen ist.
Der zweite Punkt: Ich will, dass die Energiewende gelingt. – Herr Vassiliadis hat schon darüber gesprochen. – Wir brauchen saubere, sichere, aber eben auch bezahlbare Energie. Wir wollen die erneuerbaren Energien ausbauen. Aber das muss so geschehen, dass der Industriestandort Deutschland nicht in Gefahr gerät.
Drittens: Ich will die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern neu ordnen. Wir brauchen eine Föderalismusreform III.
Viertens: Ich will die Demografiestrategie der Bundesregierung weiterentwickeln. Wir haben damit begonnen, aber die Aufgabe des demografischen Wandels, der sich die IG BCE auch immer gestellt hat, ist noch nicht gelöst. Wir brauchen dazu eine intensive Zusammenarbeit von Bund, Ländern, Kommunen, Sozialpartnern und Verbänden.
Zum ersten Punkt. Unser Land und Europa fit für die Zukunft zu machen, das ist und bleibt ein großes Gemeinschaftsprojekt. Dabei geht Deutschland an die Arbeit so heran, dass wir ökonomische Erfolge und soziale Verantwortung als eine Einheit begreifen. Das ist das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft. Wenn wir den Blick auf andere Regionen der Welt richten, dann sehen wir: Vieles, was für uns in Deutschland selbstverständlich ist, findet anderswo längst nicht die gleiche Wertschätzung. Denken wir zum Beispiel an Arbeitsbedingungen, an Sozialstandards, an Umweltstandards. Hierbei ist Europa ein Kontinent, auf dem vieles schon verwirklicht ist. Aber auch in Europa gibt es noch große Unterschiede. Doch für Europa gilt auch insgesamt, dass wir uns mit unserer Art zu arbeiten und zu leben, mit unseren Wertevorstellungen, auch in Zukunft in der Welt behaupten können. Ich spreche hier zu Menschen, die täglich in ihrer Arbeit mit einem weltweiten Wettbewerb konfrontiert werden. Deshalb brauche ich das nicht weiter auszuführen.
Sie wissen, dass der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung sinkt. Wir sind noch etwa sieben Prozent der Weltbevölkerung, wir haben 25 Prozent, also ein Viertel der Wertschöpfung der Welt, des Bruttoinlandsprodukts der Welt, und wir haben weit über 40 Prozent der Sozialleistungen der Welt. Wenn wir dies weiter in einer Balance halten und für sieben Prozent der Bevölkerung ein Viertel der Wertschöpfung fast die Hälfte der Sozialleistungen in Anspruch nehmen wollen, dann bedarf das einer großen Bereitschaft zur Innovation und eines hohen Anspruchs, wirklich zu den Besten auf der Welt zu gehören.
Das heißt, wir müssen versuchen, auch an den Wachstumschancen anderer Regionen teilzuhaben. Denn 90 Prozent des weltweiten Wirtschaftswachstums werden heute außerhalb Europas erwirtschaftet. Und das wird auch im Wesentlichen so bleiben. Das bedeutet, erfolgreich in Europa zu produzieren. Immer noch fließen fast 40 Prozent unserer Exporte in die Eurozone, knapp 60 Prozent in die Europäische Union. Bei allem Gewicht der Schwellenländer dürfen wir das nicht übersehen. Deshalb gilt für uns in Deutschland auch: Deutschland wird es auf Dauer nur gut gehen, wenn es auch Europa gut geht. Alles andere würde nicht stimmen.
Bei unserer Arbeit in Europa geht es um verschiedene Aspekte. Der erste ist der Aspekt der soliden Finanzen, der Haushaltskonsolidierung. Oft wird alles, was wir tun, darauf verkürzt. Das ist falsch.
Es geht als Zweites um die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit sowohl der Staaten als auch der Unternehmen. Und wir brauchen natürlich auch entsprechende Möglichkeiten – die entstehen nur durch Wachstum –, dass Arbeitsplätze entstehen. Dafür brauchen wir in den europäischen Ländern auch die richtigen Ausbildungen.
Wir haben viel über die duale Ausbildung gesprochen, die eine unserer Stärken in Deutschland ist. In vielen europäischen Ländern gibt es einen Hang zur Akademisierung. Ich will an dieser Stelle einflechten, dass auch in Deutschland die Entwicklung in diese Richtung geht, aber dass wir uns in den nächsten vier Jahren gleichrangig um die Fortentwicklung des dualen Ausbildungssystems und um die Weiterentwicklung bei den Studienplätzen kümmern müssen. Als ich im Jahr 2005 Bundeskanzlerin wurde, haben etwa 37 Prozent eines Jahrgangs ein Studium begonnen. Jetzt liegen wir bei über 50 Prozent. Wir müssen schauen, dass die zweite Säule, die berufliche Ausbildung, stark bleibt. Ich würde mich freuen – Herr Vassiliadis weiß das –, wenn es uns gelänge, dass im nächsten Ausbildungspakt auch der DGB und die Einzelgewerkschaften wieder vertreten sind. Wir sollten versuchen, so miteinander zu verhandeln.
Ich will das gleich mit einem ausdrücklichen Dank an all jene verbinden, die sich für die Berufsausbildung in den Betrieben einsetzen und sich um Auszubildende kümmern. – Ich bin jetzt vom Thema Europa abgewichen, aber ich komme gleich wieder darauf zurück. – Ein Schwerpunkt wird auch sein, jungen Menschen, die heute 25 bis 35 Jahre alt sind und die vor acht oder zehn Jahren keine Berufsausbildung bekommen haben, eine zweite Chance zu geben. Und wir haben eine zweite Aufgabe: Nach wie vor gibt es sehr viele Studienabbrecher, die oft nicht den Weg in eine berufliche Ausbildung finden. Hier sollte man versuchen, so wie es eine Durchlässigkeit von der Facharbeiterausbildung in den Hochschulbereich gibt, sozusagen auch einen Weg der Rückkehr zu finden, sodass jemandem, der merkt, dass er an der Uni nicht gut aufgehoben ist, der Weg zu einer beruflichen Ausbildung ebenfalls offensteht.
Aber zurück zu Europa. Wir haben große Aufgaben, insbesondere im Euroraum: Haushaltskonsolidierung, Wachstumsinitiativen, Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit, bessere wirtschaftspolitische Koordinierung, ohne dass Kompetenzen immer auf Brüssel übergehen, und natürlich auch eine Ausrichtung aller europäischen Institutionen, auch der Kommission, auf Wachstum, auf Beschäftigung und, wo immer möglich, auf Abbau von nicht notwendiger Bürokratie.
Um sich in der Welt zu behaupten, ist ganz wesentlich für Europa und auch für Ihre Branche natürlich das Thema Forschung, Innovation und Entwicklung. Deutschland hat sich in den letzten Jahren dem Drei-Prozent-Ziel genähert. Das heißt, wir geben nahezu drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aus – zwei Drittel die Wirtschaft, ein Drittel der Bund und die Länder. Wir sollten dieses Niveau halten. Auch die sogenannte Agenda 2020 der Europäischen Union besagt: Alle Länder sollten drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung investieren. Dies ist zunehmend eine europäische Aufgabe.
Aber ich sage auch, und dies auch mit Blick auf die im nächsten Jahr anstehenden Europawahlen: Europa ist mehr als nur ein Binnenmarkt, Europa ist mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, Europa ist auch eine Schicksalsgemeinschaft. Wer sich den globalen Wettbewerb anschaut, wer sich unsere Wertevorstellungen anschaut, der kann sagen: Als 80 Millionen Deutsche, selbst als größte Volkswirtschaft in Europa, werden wir uns in der Welt nicht behaupten können, wenn wir nicht Verbündete haben. Unsere europäischen Nachbarn sind, was unsere Wertevorstellungen anbelangt, unsere Verbündeten – selbst wenn ich nach Griechenland reise, selbst wenn ich nach Portugal reise und nicht immer freundlich in Empfang genommen werde. Ich werde dann oft gefragt: Wie geht es Ihnen? Dann sage ich immer wieder: Wissen Sie, es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass in ganz Europa Menschen Meinungsfreiheit haben, Demonstrationsfreiheit haben, dass ich mir, auch wenn ich dann wieder zurück in Berlin bin, keine Sorgen machen muss, dass jemand dafür ins Gefängnis kommt, dass er seine Meinung sagt. Darauf können wir stolz sein in Europa – von der Tatsache, dass wir in Frieden leben, will ich gar nicht erst sprechen –; und dafür lohnt es sich zu kämpfen.
Ich möchte auch ein Wort des Dankes sagen. Die Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren immer wieder in die Gespräche mit unseren europäischen Nachbarn, Freunden und Partnern eingebracht. Ich glaube, gerade von der Tarifpartnerschaft, von der Sozialpartnerschaft in Deutschland kann man an einigen Stellen noch einiges lernen, weil dies ein Erfolgsmodell ist. Wenn man sich anschaut, wie wir nach 2008/2009 aus der Krise gekommen sind, so ist das nicht nur auf Papier geschrieben, sondern hat sich auch in der Praxis bewährt.
Natürlich spielt die soziale Dimension auch in Europa eine wichtige Rolle. Ich sage ganz ausdrücklich: Sie ist auch eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit. Wettbewerbsfähigkeit ohne Sozialpartnerschaft und ohne soziale Dimension wird es nicht geben.
Ich komme zum zweiten Punkt, zu der Frage: Wie managen, wie meistern wir die Energiewende? Ich weiß, dass das für Ihre Gewerkschaft ein zentrales Anliegen ist. Herr Vassiliadis und andere haben sich hier immer wieder in die Diskussion eingebracht. Wir haben nun eine Situation, wie es sie in Deutschland über Jahrzehnte hinweg nicht gab: Es gibt im Grundsatz einen breiten gesellschaftlichen Konsens in der Frage, was wir nicht wollen, und auch in der Frage, was wir wollen. Aber wir haben die einzelnen Komponenten noch nicht so miteinander verzahnt, dass wir davon sprechen können, dass uns das auch wirklich gelingen wird. Die EEG-Umlage wird nun auf über sechs Cent pro Kilowattstunde steigen. Bei uns steigen die Energiepreise, wohingegen wir andernorts auf der Welt – ich denke an die Vereinigten Staaten von Amerika – sinkende Energiepreise zu verzeichnen haben. Das hat Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit. Sie in Ihren Unternehmen können eher und schneller als wir in der Politik schleichende Verlagerungen verfolgen oder feststellen, dass Entscheidungen für Zukunftsinvestitionen nicht mehr für Deutschland fallen.
Die Berechenbarkeit in der Frage der Energiepreise ist von absoluter Notwendigkeit. Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Verfügbarkeit der grundlastfähigen Energien und den Ausbau der Netze besser aufeinander abstimmen. Sie alle wissen, dass wir beim Netzausbau an vielen Stellen hinterherhinken – insbesondere bei den EnLAG-Projekten, die wiederum die Grundlage dafür sind, dass wir die großen Gleichspannungsübertragungsleitungen von Nord nach Süd bauen können. Erneuerbare Energien werden nur dann vernünftig marktfähig, wenn sie auch eingespeist und wirklich genutzt werden können. Wir haben hierbei ein Akzeptanzproblem. Deshalb auch meine Bitte an Sie, immer wieder bei den Bürgerinnen und Bürgern für den Netzausbau zu werben. Ohne eine neue Infrastruktur kann eine Energiewende nicht gelingen.
Inzwischen besteht ein hohes Maß des Ausbaus von Solarenergie und Windenergie. Wenn Sie sich überlegen, dass an einem durchschnittlichen Tag über 70 Gigawatt Energie verfügbar sein müssen und dass wir bei der Sonnenenergie fast 30 Gigawatt erreicht haben und beim Wind bei über 25 Gigawatt liegen, dann wissen Sie, was auf dem Energiemarkt los ist, wenn es um den Einspeisevorrang für erneuerbare Energien und gleichzeitig um Stabilität und Versorgungssicherheit, das heißt, um hohe Flexibilität, geht. Deshalb werden wir jetzt in den Koalitionsgesprächen auch darüber sprechen, dass wir erstens eine Novelle des EEG brauchen; und zwar sehr schnell.
Das alleine reicht aber noch nicht. Denn die Börsenstrompreise fallen, womit der Anstieg der EEG-Umlage im Augenblick keineswegs nur durch den Ausbau der erneuerbaren Energien getrieben ist.
Was muss man insoweit machen? Wir brauchen ein gewisses Backloading von CO2-Emissionen, damit der Zertifikatepreis wieder ein vernünftiges Niveau erreicht. Das ist auch in Ordnung, weil die der Menge der Zertifikate zugrunde liegenden Wachstumsraten in den letzten Jahren überhaupt nicht eingetreten sind. Wenn die Zertifikatepreise wieder höher sind, dann wird sich sozusagen die Rangfolge der Kraftwerke, die wettbewerbsfähig sind, wieder ändern. Und dann haben moderne, sehr flexible Gaskraftwerke, die im Augenblick gegenüber den Kohlekraftwerken nahezu keine Chance haben, wieder eine bessere Chance.
Wir brauchen für die Energiewirtschaft ein CO2-Reduktionsziel für 2030. Ohne ein solches europäisches Ziel wird es keine Investitionen in die Zukunft von Kraftwerken geben, weil niemand genau weiß, wie das abläuft. Und wir brauchen natürlich ein System der strategischen Reserven, also von Kraftwerken, die zur Verfügung stehen, wenn Engpässe eintreten. Dieses System der strategischen Reserven muss schrittweise mit Kapazitätsmechanismen ausgestattet werden.
Das alles ist Aufgabe einer nächsten Bundesregierung. Unsere Sondierungsgespräche haben gezeigt, dass das Bewusstsein für die Dringlichkeit der Aufgabe und die Bereitschaft zur Lösung dieser Aufgabe vorhanden sind, wenngleich ich Ihnen nichts Besonderes verrate, wenn ich sage: Die Tücke liegt auch hier im Detail. Es geht auch darum, dass wir erhebliche Interessenunterschiede haben. Denn die Investition in erneuerbare Energien ist ja nicht für alle, die sich daran beteiligen, ein Zuschussgeschäft, sondern eine 20-jährige sichere Rendite, die man anderswo nicht so schnell findet. Deshalb kann es schnell passieren, dass mehr Menschen von erneuerbaren Energien profitieren, als die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmacht. Das heißt: Sie finden kaum noch eine demokratische Mehrheit dafür, Subventionen abzuschaffen. Aber das müssen wir schaffen, sonst hat die Politik ihre Aufgabe nicht erfüllt.
Es gibt den besonderen Bereich der energieintensiven Industrie. Bei einer EEG-Novelle werden wir uns auch deshalb auf diejenigen konzentrieren, die im internationalen Wettbewerb stehen, weil uns ein Beihilfeverfahren in Brüssel droht. Deutsche haben in Europa die große Fähigkeit, sich untereinander selbst anzuklagen und anzuzeigen, worauf die Kommission dann natürlich willig reagiert. Wir sind in Gesprächen mit dem zuständigen Kommissar, der auch versprochen hat, ein „gutes“ Auge auf die EEG-Novelle zu werfen. Jedenfalls ergibt sich die große Dringlichkeit einer Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, denn wenn wir ein Beihilfeverfahren für die Ausnahmeregelungen in der energieintensiven Industrie bekommen, dann haben wir ein echtes Problem. Wir haben also eine große Aufgabe vor uns. Politik und Wirtschaft, aber vor allen Dingen die Politik, müssen sehr engagiert daran arbeiten.
Die nächste Aufgabe, die ich nennen will, ist die Neugestaltung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Diese Frage ist von ebenso großer Brisanz. Sie beschäftigt Sie in der Industrie nicht ganz so stark wie uns in der Politik, aber ich darf Ihnen verraten, dass es keine einfachen Verhandlungen werden. Die rechtlichen Grundlagen des Länderfinanzausgleichs laufen Ende 2019 aus. Das heißt, in der Teilperiode von 2015 bis 2017 müssen wir hier vorankommen. Es gibt verschiedene Aspekte. Der eine ist der Solidarpakt II, die Unterstützung der neuen Bundesländer. Wir müssen darüber reden, wie es nach 2019 weitergehen soll. Der andere ist der Finanzausgleich zwischen den Ländern, wobei die Länder, die sehr viel in den Länderfinanzausgleich einzahlen, den Eindruck haben, dass sie sich manche Dinge nicht leisten können, die sich die Länder, die Empfängerländer sind, leisten können. Das führt naturgemäß zu gewissen Problemen. Auch darüber muss natürlich gesprochen werden.
Wir werden über verstärkte Kooperationen in bestimmten Bereichen reden müssen, insbesondere im Bereich der Bildung. Wir haben den Hochschulpakt, mit dem sich der Bund an der Finanzierung von zusätzlichen Studienplätzen beteiligt. Es gibt die verschiedensten Forschungsförderungsinitiativen und Exzellenzinitiativen. Wir haben uns als Bund am Ausbau der Kita-Plätze beteiligt. Und jetzt wird natürlich auch darüber gesprochen, wie es weitergeht. Es gibt das Ansinnen der Länder, dass es im Bereich der Ganztagsschulen ebenfalls eine stärkere Kooperation geben soll. Hierzu wurden aber noch keine Entscheidungen getroffen. Auf jeden Fall brauchen wir auch eine verstärkte und verbesserte Kooperation im Forschungsbereich, hier insbesondere zwischen den Großforschungseinrichtungen, die sozusagen auch in der Bundeskompetenz liegen, und den Universitäten, die in der Länderkompetenz liegen. Auch hierfür brauchen wir eine Grundgesetzänderung.
Wir müssen der Bildung, gerade auch der Bildung in den Schulen, einen hohen Stellenwert einräumen. Die Zahl der Schulabbrecher sinkt. Die Niveaus der Schulabschlüsse in den einzelnen Bundesländern haben sich inzwischen angenähert. Es gibt Absprachen zwischen den Kultusministern. Das alles ist ein Riesenfortschritt. Und wobei wir noch längst nicht am Ende angelangt, aber auch einen Riesenschritt vorangekommen sind: Die Bildungsbeteiligung der Migrantinnen und Migranten nimmt zu. Angesichts der demografischen Herausforderung wird es in den nächsten Jahren von zentraler Bedeutung sein, dass junge Menschen mit Migrationshintergrund die gleiche Qualität der Bildungsabschlüsse schaffen wie diejenigen, die schon viele Jahre in Deutschland leben.
Damit bin ich beim Thema des demografischen Wandels, der uns alle sehr stark beschäftigen wird. Die Unternehmen haben sehr klare Vorstellungen davon, wie sich das Durchschnittsalter ihrer Belegschaften in den nächsten Jahren verändern wird. Wir haben sicherlich darauf zu achten, dass der Fachkräftemangel in Deutschland nicht überhandnimmt. Ich sage: Wenn wir uns anschauen, dass wir, unter anderem im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit, immer noch über vier Millionen Bezieher von Hartz-IV-Leistungen haben – dazu zählen etwa auch Kinder und Angehörige von Langzeitarbeitslosen –, dass wir von einem Bundeshaushalt von rund 300 Milliarden Euro über zehn Prozent für Hartz-IV-Leistungen, für Leistungen für Empfänger von Arbeitslosengeld II ausgeben, dann müssen wir gerade auch angesichts eines drohenden Fachkräftemangels und der demografischen Veränderungen alles daransetzen, jedem und jeder, die noch in den Arbeitsmarkt zu integrieren sind, jungen und auch älteren Menschen, wirklich eine Chance zu geben. Denn was nicht passieren darf, ist, dass sich Unternehmen immer wieder nach ausländischen Fachkräften umsehen und wir in Deutschland unseren eigenen Bewohnern keine Chance geben. Ich weiß, dass das die Wirtschaft nicht einfach durch Einstellungen schaffen kann, sondern dass vielerlei Brücken notwendig sind. Aber wenn man sich überlegt, dass es heute 30-, 35-, 40-Jährige gibt, die noch ein mögliches Arbeitsleben von 20, 25 und mehr Jahren vor sich haben, dann darf man dem nicht tatenlos zusehen.
Wir haben eine weitere Aufgabe. Ich weiß, dass sich die Rente mit 67 nicht nur bei Ihnen keiner großen Popularität erfreut. Aber wir haben Fortschritte erreicht, was die Erwerbstätigenquote der 60- bis 64-Jährigen anbelangt. Sie hat sich in den letzten zehn Jahren von 22,7 Prozent auf 46,4 Prozent mehr als verdoppelt. Bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen ist der Zuwachs schwieriger; natürlich stehen wir hierbei auf dem Arbeitsmarkt noch vor großen Herausforderungen. Aber wir werden, wenn wir wissen, dass wir in Deutschland in spätestens 15 Jahren rund sechs Millionen Menschen weniger im erwerbsfähigen Alter, aber rund fünf Millionen mehr Rentner haben werden, bedenken müssen, dass wir die junge Generation nicht überbelasten dürfen, sondern dass wir einen fairen Ausgleich zwischen den Generationen finden müssen. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns auch mit der Erwerbstätigkeit von Älteren beschäftigen.
Der demografische Wandel bringt vielerlei Veränderungen mit sich. Wir können diese Veränderungen im Augenblick relativ gut angehen, weil unsere Erwerbstätigenquote auf einem Rekordniveau liegt. Wir haben außerdem über 29 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahl der Arbeitslosen ist unter drei Millionen gesunken. Besonders abgenommen hat die Jugenderwerbslosigkeit – darauf können wir stolz sein. Deshalb geht es auch unseren Sozialversicherungssystemen im Augenblick finanziell recht gut. Und deshalb müssen wir auch bei allen Neuregelungen mit Blick auf die Flexibilität der Arbeitswelt darauf achten, dass zum Schluss die Erwerbstätigkeit nicht wieder zurückgeht und wir nicht wieder mehr Arbeitslose und damit dann auch riesige finanzielle Probleme in den Sozialversicherungssystemen haben werden.
Hinsichtlich der Fragen zur Veränderung der sozialen Sicherungssysteme noch ein Wort zur Rente. Wir werden im Hinblick auf eine verbesserte Erwerbsminderungsrente unbedingt etwas tun müssen. Es hat sich erwiesen, dass die Gefahr der Altersarmut hier sehr hoch ist. Wir sind uns einig, ganz gleich, wie die Parteien die Rente jeweils nennen – bei den Grünen ist es die Garantierente, bei der SPD die Solidarrente, bei uns die Lebensleistungsrente –, dass wir etwas brauchen, das nach langjähriger Erwerbstätigkeit den Menschen die Sicherheit gibt, dass sie nicht in die Bedürftigkeit und damit in die Grundsicherung fallen. Sie wissen, dass wir von der Christlich Demokratischen Union die Rente für die Erziehungsleistung der Mütter, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, verbessern wollen. Das ist für Frauen auch ein Beitrag zur Verhinderung von Altersarmut.
Für uns steht auch ein flexibler Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand auf der Tagesordnung. Hierzu gibt es auf betrieblicher Ebene ja schon eine Reihe innovativer Konzepte. Der von Ihnen mit den Chemie-Arbeitgebern vereinbarte „Tarifvertrag Demografie“ ist ein herausragendes Beispiel dafür.
Wir werden uns auch mit den Hinzuverdiensten beschäftigen. Wir werden in den Koalitionsverhandlungen natürlich darüber reden, was bei der Leiharbeit getan werden muss. Sie wissen, dass wir 2011 bei der Leiharbeit bereits den Begriff einer „vorübergehenden“ Beschäftigung in den Gesetzestext eingeführt haben. Es gab jüngst höchstrichterliche Entscheidungen. Jetzt warten wir auf die Urteilsbegründungen, um dann gegebenenfalls eine Konkretisierung festzulegen, was „vorübergehend“ bedeutet. Man wird sicherlich eine Frist festlegen können. Darüber sind wir seit langem im Gespräch.
Wir haben den sogenannten Drehtüreffekt beseitigt, den es bei der Zeitarbeit gab. Sie haben Tarifverträge für die Leiharbeit abgeschlossen. Und wir haben das Thema Werkverträge verstärkt im Fokus. Wir glauben – ich bin jetzt einmal vorsichtig; wir haben uns noch auf nichts geeinigt –, dass es mindestens die Kenntnis, die Information der Betriebsräte geben muss, was hierbei in einem Unternehmen stattfindet. Denn dass an Ihnen vorbei Dinge geschehen, die Sie gar nicht verfolgen können, ist, glaube ich, nicht richtig. Inwieweit man darüber hinausgehen kann, ist noch Gegenstand von Verhandlungen. Sie werden uns sicherlich Ihre Position dazu auch weiterhin mitteilen.
Das Letzte, das ich ansprechen möchte, ist das Thema Mindestlohn. Die Christlich Demokratische Union hat gemeinsam mit der CSU in den Wahlauseinandersetzungen einen tariflichen Mindestlohn, andere haben einen flächendeckenden einheitlichen Mindestlohn propagiert. Wir sind in intensiven Gesprächen darüber. Ich habe als Ansinnen allerdings ganz klar eine Stärkung der Tarifautonomie. Denn die Gefahr, dass die Tarifautonomie geschwächt wird, ist ja nicht nur theoretisch vorhanden, sondern wir haben sie gesehen. Daraus ist ja auch die gewerkschaftliche Position entstanden: Wir können das flächendeckend gar nicht mehr sicherstellen. Ich würde mir trotzdem wünschen, dass wir das können. Aber wir werden weiter mit den Sozialdemokraten darüber zu sprechen haben, wie wir das machen. Meine herzliche Bitte ist nur: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Arbeitsplätze vernichten.
Ich bin der Ansicht, dass jeder Mensch, der vollzeiterwerbstätig ist, von seiner Arbeit leben können muss und dass sich Arbeiten lohnen muss. Ich sage allerdings auch: Wir haben über 29 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Wir haben aber auch 350.000 Aufstocker in Deutschland, die in Vollzeit tätig sind. 350.000 – sicherlich haben viele davon Familien. Das heißt, wir müssen gerade mit Blick auf die neuen Bundesländer aufpassen, dass wir nicht Festlegungen treffen, mit denen wir später zwar keine Aufstocker mehr haben, dafür aber in bestimmten Regionen wieder vermehrt Arbeitslose. Ansonsten sind wir sehr wohl dafür, dass wir Lösungen finden. Und wie diese aussehen, verraten wir Ihnen nicht erst zum nächsten IG BCE-Kongress, sondern früher.
Eine letzte Bemerkung, die auch etwas mit der Bewältigung des demografischen Wandels zu tun hat, die Ihre Branche in ganz besonderer Weise betrifft. In der Chemiebranche gibt es rund 430.000 Beschäftigte. Deren Wettbewerbsfähigkeit ist natürlich ihrer Innovationskraft zu verdanken. Das heißt, wir müssen, ähnlich wie in der letzten Legislaturperiode, vermehrt in Forschung und Entwicklung investieren. Von Bedeutung ist zum Beispiel die Pharmaforschung. Jeder weiß um die Bedeutung medizinischer Forschung. Es gibt das große Thema Elektromobilität, die wir gemeinsam, auch in einer nationalen Plattform, weiter voranbringen wollen, etwa auch mit Blick auf neue Speichertechnologien. Oder nehmen Sie die Entwicklung neuer Werkstoffe als Beispiel. Das ist auch etwas, bei dem gerade auch Unternehmen aus Deutschland zu den Weltmarktführern zählen.
In der Chemie, aber auch in den anderen von Ihnen vertretenen Branchen nimmt man den Blick über den Tellerrand sehr ernst. Im Chemiebereich gibt es die Initiative „Chemie hoch drei“, die Nachhaltigkeit zu einem festen Bestandteil der Unternehmensstrategien erklärt. Ich begrüße es ausdrücklich, dass die IG BCE im Schulterschluss mit dem VCI und dem Bundesarbeitgeberverband Chemie zwölf Leitlinien für nachhaltiges Wirtschaften entwickelt hat, was mit Sicherheit auch dazu beitragen wird, die Innovationsfähigkeit zu stärken. Herr Vassiliadis hat als Mitglied des Rates für Nachhaltige Entwicklung besondere Verantwortung übernommen und hat sich immer wieder für den Nachhaltigkeitskodex eingesetzt. Auch dafür möchte ich recht herzlich danken.
Ich habe in der vergangenen Legislaturperiode einen Bürgerdialog zu drei Fragen geführt: Wie wollen wir in Zukunft zusammenleben? Wovon wollen wir leben? Wie wollen wir gemeinsam lernen? – Ihr Kongressmotto „Zeit, weiter zu denken“ beinhaltet ja auch diese Fragen. – Ich persönlich war erfreut darüber, dass es eine große Beteiligung der Bevölkerung an diesem Dialog gab. Aber die schwächste Ausprägung hatte die Antwort auf die Frage: Wovon wollen wir in Zukunft leben? Wenn man Schülerinnen und Schüler fragt, „glaubt ihr, dass wir auch in 20 Jahren das größte Chemieunternehmen der Welt haben werden; glaubt ihr, dass wir in 20 Jahren die modernsten Autos der Welt bauen?“, dann gilt das für die Jugend unseres Landes als gegeben, sozusagen fast wie eine Naturgegebenheit, die wie die Alpen und die Ostsee zu Deutschland dazugehört. Dass wir dafür aber immer wieder arbeiten müssen, das wissen diejenigen, die die Belegschaften, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben vertreten, zu denen die IG BCE gehört. Das wissen viele außerhalb der Betriebe anscheinend nicht in diesem Maße. Es ist uns in Deutschland bisher immer gelungen, Soziale Marktwirtschaft so zu leben, dass zukunftsträchtige Arbeit möglich war. Es ist unser politischer Anspruch und auch Ihr Anspruch, das auch für die Zukunft sicherzustellen. Aber wir werden uns dafür anstrengen müssen. Wir können das schaffen, wenn wir die richtigen Prioritäten setzen – bei Bildung, bei Forschung, bei vernünftigen Rahmenbedingungen.
Aber wir können auch zurückfallen. Deshalb ist es wichtig, dass dieses Motto „Zeit, weiter zu denken“ von Ihnen jeden Tag verfolgt wird. Ich weiß, das tun Sie; nicht nur hier auf diesem Kongress. Sie hatten vor vier Jahren das Motto „Vorwärts denken. Verantwortlich handeln“. Das Denken spielt also bei der IG BCE eine große Rolle. Mitdenker, Vordenker, Querdenker – all das brauchen wir in Deutschland. Dass Sie dabei sind, dafür ein herzliches Dankeschön. Auf weitere gute Zusammenarbeit. Wir werden in der Politik versuchen, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Sie erfolgreich arbeiten können. Wir wissen, dass wir als Politiker nicht erfolgreich für Deutschland tätig sein können, wenn Sie als Gewerkschafter nicht auch Ihren Beitrag dazu leisten. Solange ich Verantwortung trage, habe ich das immer wieder erlebt. Deshalb ein herzliches Dankeschön. Und nochmals danke für die Einladung.