Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

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Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Fast 500 Milliarden Euro umfasst der Bundeshaushalt 2021, über den wir ja seit gestern sprechen. Nach einer Neuverschuldung im Jahre 2020 von 218 Milliarden Euro haben wir 2021 neue Schulden in Höhe von fast 180 Milliarden Euro veranschlagt. Eine Entscheidung über die Aufnahme von Schulden in dieser Größenordnung ist alles andere als leicht. Das fühlt und spürt jeder hier.

Wir hatten viele Jahre, in denen wir nicht mehr über neue Schulden sprechen mussten, sondern einen ausgeglichenen Haushalt hatten. Wir müssen uns auch immer wieder vergegenwärtigen, was öffentliche Schulden bedeuten. Es bedeutet natürlich die Belastung künftiger Haushalte, es bedeutet die Notwendigkeit, das zurückzuzahlen, und es bedeutet Einschränkungen für künftige Ausgaben und für künftige Generationen.

Aber − das ist das, was für uns wichtig ist, und ich bin sehr dankbar, dass die Mehrheit dieses Hauses das genauso sieht −: Wir leben in einer Pandemie. Wir leben damit in einer Ausnahmesituation. Wir leben mit einer Herausforderung, wie sie die Bundesrepublik Deutschland noch nicht in dieser Art gekannt hat. Wir müssen etwas dafür tun, dass wir in dieser besonderen Situation auch besonders handeln, und das drückt dieser Haushalt aus.

Was leitet uns dabei? Uns leitet dabei, dass Deutschland ein starkes Land ist, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, ein wichtiger Partner in der Europäischen Union, der Nato, bei den Vereinten Nationen, ein weltweit anerkanntes, freies, offenes, demokratisches Land und ein Land mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und einer starken Zivilgesellschaft. Diese Stärke − das ist das, was uns leitet in diesem Haushalt − wollen wir auch in dieser Ausnahmesituation erhalten und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir nach Überwindung der Pandemie da wieder anknüpfen und diese Rolle auch weiterspielen können. Das ist das, was uns leitet.

Es macht ja niemand für uns. Dass wir das früher waren und heute sind, das reicht ja nicht aus, sondern wir müssen dafür arbeiten, dass das auch für die Zukunft gesichert ist. Ich habe es schon mehrfach hier gesagt: Diese Pandemie ist ja etwas, was die Kräfteverhältnisse auf der Welt durchaus erst einmal ökonomisch, aber vielleicht auch gesellschaftspolitisch neu ordnet. Das heißt, wir müssen schauen, wie wir eingebettet sind in die globalen Zusammenhänge.

Wenn wir uns die Wirtschaftsprognosen des Internationalen Währungsfonds anschauen, dann sehen wir, dass viele Länder sehr, sehr starke Wirtschaftseinbrüche haben, schon nach den heutigen Prognosen, die sich ja immer wieder ändern können. Darunter sind auch viele europäische Länder – Italien, Frankreich, Großbritannien –, die alle einen Wirtschaftseinbruch von circa minus zehn Prozent für dieses Jahr verzeichnen. Dann gibt es eine Mittelgruppe – USA, Deutschland gehört im Augenblick laut Prognosen dazu, Australien –, die bei einem Wirtschaftseinbruch von minus vier bis minus sechs Prozent liegt. Und dann gibt es Länder wie zum Beispiel China, die aus diesen Jahren mit einem Plus von 1,9 Prozent herauskommen werden, und zwar im Kampf gegen das gleiche Virus.

Das heißt: Wir müssen also alles tun, damit der Weg der Erholung, auf den wir im dritten Quartal nach einem massiven Einbruch im zweiten Quartal gekommen sind, auch fortgesetzt werden kann, und wir müssen alles dafür tun, dass die Prognosen, die besagen, dass wir 2022 wieder das Vorkrisenniveau erreichen können, auch wirklich Realität werden.

Was wir immer wieder beachten müssen, ist, dass sich weltweit zeigt: Die Wirtschaft ist genau dort vor allem widerstandsfähig, wo die Pandemie unter Kontrolle ist. Es geht eben nicht um Kampf für die Gesundheit gegen Kampf für Wirtschaft und Bildung und Kultur und anderes, sondern beides miteinander in Einklang zu bringen, das ist die komplizierte Aufgabe, die wir täglich neu austarieren müssen. Wir wissen zwar immer mehr über das Virus; aber wir wissen nicht alles, zum Beispiel natürlich auch nicht, wie wir jetzt im Winter reagieren müssen. Das heißt also: Wir müssen sehen, dass Deutschland zu denjenigen Ländern zählt, die diese Zeit erfolgreich bewältigen, und ich bin der Meinung, der Bundeshaushalt schafft damit die richtigen Voraussetzungen.

Danke auch an die Haushälter, die ja diesmal irgendwie etwas mehr zu tun hatten, um die Regierungsvorlage in ein Gesetzeswerk zu bringen, als das in normalen Zeiten der Fall ist. Deshalb ein ganz besonderer Dank!

Wir haben die Aufgabe, die Folgen der Pandemie abzufedern und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt so gut wie möglich zu sichern. Und wir müssen belastbare Grundlagen schaffen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum in der Zukunft. Deshalb haben wir auch Rekordinvestitionen in den Haushalten 2020 und 2021. Ich habe sehr wohl gestern in der Debatte gehört, dass man sagt: "Regierung, jetzt habt ihr Geld; nun gebt es aber bitte auch aus." Das nehmen wir sehr ernst. Ich sage ganz offen: An manchen Stellen müssen wir sicherlich auch etwas schneller handeln, auch manchmal in den Absprachen mit den Ländern schneller handeln. Das Geld ist da, und jetzt muss es eingesetzt werden. Denn von der Planung im Haushalt allein entsteht noch kein Wirtschaftswachstum, sondern nur, wenn das Geld auch fließt.

Aber wir investieren klug in die Zukunft. So ist es zum Beispiel richtig, dass wir 750 Millionen Euro für Impfstoffforschung und -entwicklung ausgeben. Wir können ja auch alle miteinander stolz sein, dass wir zwei Firmen in Deutschland haben, und zwar BioNTech, die jetzt schon mit Pfizer zusammen in der Zulassungsphase sind, und CureVac, die auf der gleichen Basis einen Impfstoff entwickeln. Wir geben neun Milliarden Euro in den nächsten Jahren für eine Nationale Wasserstoffstrategie aus, zwei Milliarden Euro für künstliche Intelligenz, zwei Milliarden Euro für Quantentechnologie, zwei Milliarden Euro für die zukünftigen Kommunikationstechnologien 5G und 6G.

Aber das Geld muss eingesetzt werden und dahin kommen, wo es gebraucht wird. Deutsche Unternehmen sollen im internationalen Wettbewerb mithalten können. Aber mir ist natürlich bewusst, dass viele Unternehmen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Coronasituation tiefe Einschnitte hinnehmen müssen. Da denke ich natürlich wie viele andere hier auch als Allererstes daran, wie viele Menschen das in ihrer persönlichen Lebensgestaltung betrifft.

Wir hatten im November 2020 2,7 Millionen Arbeitslose. Das sind 519.000 mehr als im November 2019: Das sind 519.000 Familien, die heute Sorge haben, riesige Sorge haben. Andere haben Sorge um ihren Arbeitsplatz. Deshalb war es natürlich als Erstes richtig, das Kurzarbeitergeld einzusetzen.

Dieses Kurzarbeitergeld ist für sehr viele eine Brücke. Gerade nach den Einschränkungen, die wir jetzt im November und Dezember vornehmen müssen, haben wir wieder 537.000 neue Anmeldungen allein im November gehabt. Das zeigt: Diese Brücke funktioniert, und sie muss deshalb auch fortgesetzt werden. Dafür haben wir ja die richtigen Rahmenentscheidungen getroffen.

Es geht darum, den Betroffenen schnell zu helfen; auch darüber ist gesprochen worden. Das ist natürlich eine gigantische Summe von Anträgen, die behandelt werden müssen. Vielen geht es zu langsam, aber ich weiß, dass hier die Regierung sehr hart arbeitet. Ich bin sehr froh, dass die Abschlagszahlungen jetzt auf 50.000 Euro erhöht werden konnten, sodass die Hilfe da besser ankommt.

Es waren schwere und schmerzhafte Entscheidungen, die wir bis hierher mit den Einschränkungen im November schon treffen mussten und die wir dann am 2. Dezember noch einmal verlängert haben, aber sie waren absolut notwendig. Wir müssen jetzt alles daransetzen, dass wir die deutsche Stärke nicht nur im wirtschaftlichen Bereich erhalten. Es geht nicht nur um ökonomische Daten, sondern es geht eben auch um einen weltweiten Systemwettbewerb, den wir ja spüren, um unterschiedliche politische und gesellschaftliche Systeme. Unser Handeln ist anders als das Handeln in Ländern, die stärker einer Diktatur gleichen; das ist vollkommen klar.

Deshalb wird die Wahrnehmung von uns natürlich auch durch die Frage bestimmt: Wie seid ihr denn durch diese schwierigen Monate gekommen? − Wir werden anerkannt als freiheitliche Demokratie mit offener und stark individualisierter Gesellschaft; darauf sind wir stolz. Der wichtigste Schlüssel, den wir haben, sind nicht die Verbote und Schließungen und Kontrollen; diese müssen an vielen Stellen sein. Der wichtigste Schlüssel zur erfolgreichen Bekämpfung des Virus bei uns ist das verantwortliche Verhalten jedes Einzelnen und die Bereitschaft zum Mitmachen.

Wir wissen, dass wir verbindliche Regeln brauchen. Wir wissen auch, dass sich nicht alle daran halten. Aber die große Mehrheit der Bevölkerung hat gezeigt, dass sie bereit ist, Rücksicht zu nehmen, eigene Interessen zurückzustellen, mitzuziehen. Ich bin davon überzeugt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung dazu auch weiter bereit ist, weil sie die Dinge so sieht, dass wir hier mit einer außergewöhnlichen Situation konfrontiert werden. Dafür bin ich von Herzen dankbar, und das sollten wir alle miteinander sein.

Aber dieser Dank darf natürlich keine Sonntagsrede sein; im Gegenzug erwarten die Bürgerinnen und Bürger, dass wir ihre Sorgen und ihre Bedürfnisse in der Gemeinschaft auch ernst nehmen. Das heißt ganz konkret: Wir müssen jetzt bei der Verabschiedung dieses Bundeshaushalts an möglichst viele Gruppen in der Gesellschaft denken, die alle Einschnitte und Rückschritte im Zusammenhang mit dieser Pandemie hinnehmen müssen.

Lassen Sie mich mit den Älteren beginnen. Wir alle haben den Älteren und den ganz Alten in unserem Land viel zu verdanken. Die Pandemie macht das Leben in Heimen und Einrichtungen einsamer − wir haben oft darüber gesprochen −, und die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte sind noch belastender, als man sich das eigentlich wünschen würde. Wir haben 800.000 Menschen in Deutschland, die in Pflegeeinrichtungen leben. Aber wir haben auch Millionen Menschen, die ambulante Pflege in Anspruch nehmen oder durch Familienangehörige gepflegt werden; auch an die sollten wir denken.

Ich habe vor drei Wochen Gespräche mit Pflegebedürftigen und Pflegekräften geführt. Und ich habe gespürt, unter welch unglaublichem Druck gerade die Pflegekräfte, aber auch die zu Pflegenden stehen. Die Zahl der Infektionen in den Alters- und Pflegeheimen nimmt besorgniserregend zu. Deshalb müssen wir alles tun: Wir haben dafür auch Vorsorge mit Schnelltests getroffen, die leider oft nicht so schnell zur Verfügung stehen, wie wir uns das wünschen würden, und mit besserer Ausstattung der Pflegeheime. Aber wir haben hier eine noch wirklich große Aufgabe vor uns.

Der Hoffnungsschimmer, den wir alle haben, ist, dass die zügige Impfung von Risikogruppen jetzt Anfang des Jahres auch beginnen wird. Ich will an der Stelle allerdings sagen: Wir sollten hier an die Dinge sehr realistisch herangehen. Wir werden im ersten Quartal 2021 − das ist das Winterquartal − noch nicht so viele Impfungen durchführen können, dass wir sozusagen eine signifikante Veränderung in der Bevölkerung sehen werden. Aber wir haben die Chance, gerade Hochbetagte zu impfen, Pflegekräfte zu impfen und damit da, wo im Augenblick die meisten Todesfälle auftreten, wirklich schon einen Effekt zu erreichen. Damit wäre schon mal viel gewonnen. Ich bin den Ländern für die Vorbereitung der Impfzentren und die vorbereitenden Arbeiten sehr dankbar und natürlich auch dem Bundesgesundheitsminister.

Neben den Älteren müssen wir natürlich auch auf die Jüngeren achten. Wir haben als Lehre aus dem Frühjahr gesagt: Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Kitas und Schulen offen zu halten. Wir werden alles tun, um Kitas und Schulen offen zu halten. Allerdings gehört in den Wintermonaten auch das Lüften dazu. Das ist einfach so, weil wir besondere Bedingungen haben.

Die Pandemie hat manche Defizite offengelegt, an deren Überwindung wir jetzt arbeiten; ich denke an die Digitalisierung. Auch da ist es so: Von der Entscheidung, dass zum Beispiel jeder Lehrer einen Laptop bekommt, bis zu der Umsetzung, dass jeder Lehrer einen Laptop in der Hand hält, dauert es in Deutschland immer Monate. Wir können an allen Stellen schneller werden, aber genügend Geld ist da.

Wir werden das nächste Jahr zu einer Bildungsoffensive im digitalen Bereich nutzen. Wir werden mit den Ländern Kompetenzzentren für digitale Bildung entwickeln. Wir werden eine digitale Bildungsplattform schaffen, und zwar nicht nur für Schulen, sondern auch für Berufsschulen und für andere Bildungsbereiche.

Wir müssen auf die Familien achten. Die Familien stehen unter einem besonderen Stress und einer besonderen Herausforderung in diesen Zeiten. Da war es absolut richtig, dass wir den Anspruch auf jeweils 15 Kinderkrankentage pro Kind pro Jahr für jedes Elternteil beschlossen haben und für Alleinerziehende 30 Tage. Jeder ahnt, was jetzt in den Familien los ist, wenn man morgens nicht weiß: Hat das Kind Schnupfen? Kann es in die Schule gehen? Was ist in der Schule los? Was wartet auf uns?

Diesen Stress, der jetzt gerade in der kalten Jahreszeit da ist, müssen wir uns wirklich immer wieder vor Augen halten. Aber ich glaube, wir haben für Familien vieles getan, was sich in diesem Haushalt auch widerspiegelt: Wir werden das Kindergeld erhöhen. Wir werden den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende verdoppeln. Der Solidaritätszuschlag fällt ab 1. Januar weg. Das sind Spielräume für Familien, die absolut wichtig sind. Und deshalb ist dieser Schwerpunkt im Haushalt von großer Bedeutung.

Die Pandemie ist ja nichts, was sich auf Deutschland beschränkt, sondern wir sind als Mitglied in der Europäischen Union in die Gesamtherausforderung eingebettet. Deutschlands Stärke ist ja gerade auch die Verankerung in starken europäischen und internationalen Partnerschaften. Deshalb hat uns das natürlich auch in unserer EU-Ratspräsidentschaft beschäftigt. Wir alle hatten uns diese Ratspräsidentschaft wirklich anders vorgestellt. Vieles konnte dabei nicht umgesetzt werden; das ist schade.

Das bestimmende Thema war natürlich die Pandemie. Deshalb kann ich sagen, dass wir hier in den letzten Monaten besser geworden sind, was die Koordinierung anbelangt: Wir haben jetzt mehrere Videoschalten mit allen Staats- und Regierungschefs gehabt, wo wir uns immer wieder koordiniert haben.

Ich will nur daran erinnern, dass unsere Betrachtung der Zahl der Inzidenzen, zum Beispiel mit 50 als Zielmarke, inzwischen in Europa weitestgehend akzeptiert wird, auch von der ECDC, der Europäischen Gesundheitsbehörde, dass wir mehr Harmonisierung, wenn auch noch keine vollständige, bei Quarantäneregelungen haben, dass es uns jetzt in der zweiten Welle weitestgehend gelungen ist, den freien Warenverkehr doch aufrechtzuerhalten. Das hat uns ja in der ersten Welle der Epidemie sehr geschadet.

Es ist eine gute Sache, dass zusammen mit den Mitgliedstaaten die Europäische Kommission auch die Impfstoffe beschafft hat. Für uns ist manchmal gar nicht so ersichtlich, dass das so wichtig ist. Aber für die vielen kleineren europäischen Länder ist es ganz, ganz wichtig, dass wir nicht 27-mal die Vertragsverhandlungen mit jedem Impfstoffhersteller führen, sondern dass wir hier zu einer fairen Verteilung kommen, dass wir bereits mit sechs Partnern, mit sechs Unternehmen solche Verträge abgeschlossen haben und dass auch keine Neiddiskussion zumindest innerhalb der Europäischen Union aufkommen wird bezüglich der Verfügbarkeit dieser Impfstoffe.

Morgen wird der Europäische Rat stattfinden. Ich würde Ihnen gerne mehr erzählen, was wir auf diesem Europäischen Rat am Ende, am Freitag, herausbekommen werden. Aber fast alles ist noch im Fluss. Wir werden natürlich über die Frage des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union und die vertraglichen Grundlagen sprechen. Der britische Premierminister wird heute Abend bei der Kommissionspräsidentin sein. Die Kommission führt für uns die Verhandlungen. Wir haben da volles Vertrauen. Es gibt nach wie vor die Chance eines Abkommens. Ich glaube nicht, dass wir schon morgen wissen, ob das gelingt oder nicht; das kann ich jedenfalls nicht versprechen. Wir arbeiten jedenfalls weiter daran. Aber wir sind auch vorbereitet auf Bedingungen, die wir nicht akzeptieren können, also wenn es Bedingungen von britischer Seite, die wir nicht akzeptieren können, gibt, einen Weg ohne Austrittsabkommen zu gehen. Eines ist klar: Die Integrität des Binnenmarktes muss gewahrt werden können.

Da gibt es eine Reihe komplizierter Fragen, die vor allen Dingen darin bestehen, wie man die Dynamik behandelt. Wir starten jetzt von einem mehr oder weniger gleichen, harmonisierten Rechtssystem. Aber über die Jahre werden sich die Rechtssysteme natürlich überall − im Umweltrecht, im Arbeitsrecht, im Gesundheitsrecht − auseinanderentwickeln. Wie reagiert die jeweils andere Seite darauf, wenn sich die Rechtssituation − entweder in der Europäischen Union oder in Großbritannien − ändert? Wir können nicht einfach sagen: "Darüber sprechen wir nicht", sondern wir müssen ein Level Playing Field nicht nur für heute haben, sondern auch für morgen und übermorgen. Dafür muss man Absprachen treffen, die festlegen, wie wer reagieren kann, wenn der andere seine Rechtssituation verändert. Ansonsten kommt es zu unfairen Wettbewerbsbedingungen, die wir unseren Unternehmen nicht zumuten können. Das ist die große, schwierige Frage, die noch im Raum steht neben Fragen der Fischquoten und Ähnlichem. Aber die Frage des fairen Wettbewerbs in sich auseinanderentwickelnden Rechtssystemen ist die eigentlich große Frage, auf die wir befriedigende Antworten brauchen.

Wir werden beim Europäischen Rat über die Beziehung der Europäischen Union zur Türkei sprechen. Leider ist das Angebot, das wir zu Beginn unserer Präsidentschaft sehr intensiv gemacht haben, mit der Türkei in einen intensiven Dialog zu kommen, nicht in dem Maße aufgegriffen worden, wie ich mir das gewünscht hätte. Die Aktivitäten im südlichen Mittelmeer sind nach wie vor da. Zypern hat darunter besonders zu leiden. So werden wir darüber entscheiden müssen, wie wir weiter vorgehen.

Und da liegt natürlich die Aufgabe des europäischen Finanzrahmens und Aufbaufonds vor uns. Sie wissen, dass es hier schon im Juli schwierige Verhandlungen gab. Es war schon damals absehbar, dass die Geldsummen alleine nicht das Problem sind, sondern auch die Frage der Rechtsstaatlichkeit, der Konditionalität eine große Rolle spielt; sie hat uns schon im Juli sehr beschäftigt. Das Ganze musste jetzt in einem Rechtsakt umgesetzt werden. Ungarn und Polen haben daraufhin gesagt, dass sie dem so nicht zustimmen können. Wir suchen jetzt unter Beibehaltung des Rechtsstaatsmechanismus nach Lösungen, um diese Blockade aufzuheben. Auch da kann ich Ihnen leider noch nicht sagen, ob das gelingen wird oder nicht. Die deutsche Präsidentschaft arbeitet sehr eng zusammen mit dem Rat daran.

Das wiederum liegt als Problem vor einer anderen, eigentlich bestimmenden Frage für den morgigen Europäischen Rat, nämlich der Frage: Wie verpflichtet sich die Europäische Union zu ambitionierteren Klimazielen? Am Sonnabend findet eine außerordentliche UN-Konferenz statt. Eigentlich haben wir alle gesagt: "Wir wollen im Jahre 2020 unsere Ziele erhöhen", und die Europäische Union steht hier unter Druck. Ich will nur daran erinnern: China hat gesagt, es werde 2060 CO2-frei sein und vor 2030 den Peak bei den CO2-Emissionen erreichen. Das sind sehr ambitionierte Vorhaben. Wir wissen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Wechsel der Administration wahrscheinlich wieder zurückkehren werden zum Pariser Abkommen. Das heißt, es lasten große Erwartungen auf Europa. Unser Ziel ist, hier mindestens 55 Prozent für alle Mitgliedstaaten zu vereinbaren. Die jeweiligen rechtlichen Regelungen werden ja dann erst 2021 erarbeitet. Ob uns das gelingt, hängt sehr stark auch davon ab, wie weit wir kommen bei den finanziellen Fragen.

Wir wissen leider schon jetzt mit Blick auf die Finanzen für den Haushalt 2021, dass wir nicht pünktlich starten können mit der mittelfristigen finanziellen Vorausschau und dass die Ausgangssituation, wenn wir keinen Haushalt haben, dann monatlich ein Zwölftel des vergangenen Haushaltes bedeutet, der aber geringer wird, weil Großbritannien ausgetreten ist. Das bedeutet für viele Programme, die auch hier in Deutschland eine große Rolle spielen, die Sozialprogramme, die Kohäsionsprogramme, dass erst einmal sehr große Unsicherheit sein wird. Deshalb müssen wir uns da auf eine schwierige Zeit einstellen.

Die Notwendigkeit, international zusammenzuarbeiten, hat sich während der Pandemie ja noch einmal verstärkt; wir sehen das. Ein Beispiel, wo uns der Wert globaler Partnerschaften noch mal richtig vor Augen geführt wurde, sind sicherlich die Entwicklung wirksamer Impfstoffe und ihrer fairen Verteilung. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass wir in den G20-Staaten schon im März vereinbaren konnten, dass wir eine globale Initiative für die faire Verteilung von Impfstoffen starten werden, den sogenannten ACT-Accelerator mit der Plattform Covax. Wir werden jetzt darauf achten, dass hier auch wirklich genügend Geld ist. Es ist noch nicht genügend Geld da. Deutschland hat sich allerdings stark beteiligt, damit eben Impfstoffe beschafft werden können, nicht nur für Europa, nicht nur für Großbritannien, nicht nur für die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern genauso für die Entwicklungsländer.

Wir erleben − das spüren wir alle − ganz besondere Wochen. Wir sind in einer entscheidenden, vielleicht in der entscheidenden Phase der Pandemiebekämpfung, und alle historischen Erfahrungen lehren, dass gerade die zweite Welle einer Pandemie weitaus anspruchsvoller ist als die erste. Sie lehren auch, dass eine solche zweite Welle sehr schmerzhaft sein kann. Deshalb denken wir auch an die Menschen, die Tag für Tag an oder mit dem Virus sterben. Wir denken an die, die zu dieser Stunde in den Krankenhäusern um ihr Leben kämpfen, an die, die alles für sie geben, die Ärzte und Pfleger. Und ich sage Ihnen ganz offen: Das kommt mir in diesen Tagen manchmal etwas zu kurz. Was sich da abspielt, was da geleistet wird, dafür ein herzliches Dankeschön!

Daran sehen wir, dass die zweite Welle dieser Pandemie es in sich hat; das zeigen auch die historischen Erfahrungen, und es ist jetzt nicht anders, als es früher war. Wir erleben dabei ja so etwas wie ein Wechselbad der Gefühle. Auf der einen Seite, finde ich, können wir durchaus stolz darauf sein, wozu wir in den letzten zehn Monaten seit Beginn der Pandemie in der Lage waren, jeder und jede Einzelne von uns, aber auch wir als Gemeinschaft. Wir haben schon ein sehr großes Stück des Weges zurückgelegt. Wir hatten es am Anfang des Jahres mit einem ganz unbekannten Virus zu tun. Wir wissen heute sehr viel mehr über die Wege der Infektion, über die Möglichkeiten, sich zu schützen, über Symptome und Behandlungswege. Wir konnten zu Beginn des Jahres niemandem sagen, wie schnell es gelingen würde, einen Impfstoff zu entwickeln. Dass heute in Deutschland an vielen Orten Impfzentren errichtet werden − und zwar mit der begründeten Hoffnung, dass dafür auch ein Impfstoff da ist −, das ist etwas, was es in einer so kurzen Zeit in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben hat. Das müssen wir uns vor Augen führen.

Also: Wir sehen Licht am Ende des Tunnels. Warum ist das so? Das ist so, weil wir Menschen kreativ sind und weil wir einen unglaublichen Forschergeist haben, weil weltweit die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler uns gezeigt haben, was im Menschen steckt. Ich bin überzeugt: Wenn diese Pandemie überhaupt irgendetwas Gutes hat, dann zeigt sie uns, wozu wir Menschen imstande sind, wenn wir unser Herz in die Hand nehmen, wenn wir mit Ausdauer und Kreativität handeln und wenn wir über Grenzen hinweg zusammenarbeiten. Aber ich habe eben von einem Wechselbad der Gefühle gesprochen. Das heißt, dass zu dem gesamten Bild auf der anderen Seite eben leider auch gehört, dass die seit dem 2. November geltenden Kontaktbeschränkungen zwar das dramatische, exponentielle Wachstum der Neuinfektionen in den letzten Wochen stoppen konnten, dass aber die Trendumkehr ausgeblieben ist. Die Fallzahlen liegen auf einem viel zu hohen Niveau, und ganz alarmierend ist, wie stark die Zahl der Menschen, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, und die Zahl der Menschen wachsen, die an dem Virus sterben. Ich will es uns noch mal vor Augen führen: Die erste Lesung dieses Haushalts begann am Dienstag − da wurde er eingebracht –, dem 29. September. Da hatten wir 1.827 Fälle an einem Tag, 352 belegte Intensivbetten und 12 Tote. Heute haben wir 20.815 Fälle – 3.500 mehr als vor einer Woche −, 4.257 belegte Intensivbetten − das ist die Zahl von gestern; die von heute ist noch nicht da − und 590 Tote. Die Konklusion heißt einfach: Die Zahl der Kontakte ist zu hoch. Die Reduktion der Kontakte ist nicht ausreichend. Wissen Sie, das ist der Unterschied; das ist ja auch nicht so schlimm. Es ist schade, aber es ist nicht so schlimm. Ich glaube an die Kraft der Aufklärung. Dass Europa heute dort steht, wo es steht, hat es der Aufklärung zu verdanken und dem Glauben daran, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte. Und da bin ich ganz sicher. Ich habe mich in der DDR für das Physikstudium entschieden − das hätte ich in der alten Bundesrepublik wahrscheinlich nicht getan −, weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten auch nicht. Und das wird auch weiter gelten. Da brauchen wir uns gar keine Sorgen zu machen.

Weil die Zahlen so sind, wie sie sind, müssen wir etwas tun, und zwar Bund und Länder gemeinsam. Ich kenne die Zuständigkeiten der Länder beim Infektionsschutzgesetz − wir haben hier viel darüber gesprochen −, und ich achte diese Zuständigkeiten auch. Ich weiß aus den vielen Runden, die wir miteinander hatten: Wir können es nur gemeinsam machen. Aber ich kenne natürlich auch meine besondere Verantwortung, auch die Verantwortung der Bundesregierung, und deshalb halte ich es schon für geboten, dass Sie wissen, was mich leitet. Da will ich sagen, dass ich glaube, dass wir gut daran tun, das, was uns die Wissenschaft sagt, nämlich gestern die Leopoldina, wirklich ernst zu nehmen.

Wir freuen uns, wenn die Wissenschaft einen Impfstoff entwickelt. Wir freuen uns, wenn wir Menschen haben, die bei uns den PCR-Test entwickelt haben. Wenn uns die Wissenschaftler aber etwas sagen, dann fangen wir an, zu überlegen: Na ja, könnte sein, kann aber auch nicht sein. Ich kann nur sagen: Nehmen wir das ernst!

Die Leopoldina hat uns gestern in drei Stufen genannt, was jetzt notwendig ist. Da gibt es eine Entwicklung, über die ich mich sehr freue, und die betrifft die Stufe zwei: Was tun wir ab dem 24. Dezember? Es scheint doch weitgehend unstrittiger zu werden, dass wir danach eine Phase brauchen, vielleicht bis zum 10. Januar. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Ziel heißt: Runter auf 50 Fälle pro 100.000 in sieben Tagen! Das Ziel heißt nicht, nach Tagen zu rechnen. Das Ziel heißt, nach Resultat zu rechnen; sonst entgleitet uns die Pandemie wieder und wieder. Wir können den Menschen nicht zumuten, sie immer wieder darüber im Unklaren zu lassen. Das ist ganz, ganz wichtig. Deshalb sind die Empfehlungen meiner Meinung nach richtig, dann die Geschäfte zu schließen und die Zahl der Menschen, die sich treffen, so klein wie möglich zu halten. Wir haben Regelungen getroffen, dass zu Weihnachten Familienfeste möglich sein sollen; aber ich appelliere an jeden, hier wirklich vorsichtig zu sein. Und ich sage es noch einmal − ich habe es schon öffentlich gesagt, aber ich sage es auch hier noch mal −: Ich halte die Öffnung von Hotels für die Übernachtung von Verwandten für falsch, weil sie wieder Anreize schafft, die vielleicht nicht notwendig sind. Aber das ist jetzt etwas, was wir nicht mehr überwinden werden. Ich halte es auch für richtig, die Schulen in dieser Zeit entweder durch Verlängerung der Ferien bis zum 10. Januar zu schließen oder aber Digitalunterricht zu machen, was auch immer − das ist egal. Wir brauchen aber Kontaktreduzierungen.

Ich sage Ihnen, was mir jetzt Sorge macht − darüber müssen wir sehr schnell in den nächsten Tagen sprechen –, und das ist die Entwicklung im Augenblick: 3.500 Fälle mehr als vor einer Woche. Ich weiß, dass wir Bundesländer haben − Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt −, in denen wir einen ziemlich freien Anstieg der Fälle sehen. Aber selbst wenn wir die herausrechnen, haben wir immer noch Anstiege. Und bis Weihnachten sind es von heute an noch genau 14 Tage − 14 Tage! Wir müssen alles tun, dass wir nicht wieder in ein exponentielles Wachstum kommen.

Nun hat uns die Leopoldina gesagt, für diese Zeit sollten wir wirklich alle Kontakte, die nicht absolut notwendig sind, reduzieren und meiden. So hart das ist − und ich weiß, wie viel Liebe dahintersteckt, wenn Glühweinstände oder Waffelbäckereien aufgebaut werden −: Das verträgt sich nicht mit der Vereinbarung, dass wir zum Beispiel Essen nur zum Mitnehmen für den Verzehr zu Hause einkaufen. Es tut mir leid, es tut mir wirklich im Herzen leid, aber wenn wir als Preis dafür Todeszahlen von 590 Menschen am Tag in Kauf nehmen sollen, dann ist das nicht akzeptabel aus meiner Sicht. Und deshalb müssen wir da ran!

Wenn die Wissenschaft uns geradezu anfleht, vor Weihnachten, also bevor man Oma und Opa und andere ältere Menschen sieht, eine Woche der Kontaktreduzierung zu ermöglichen, dann sollten wir vielleicht doch noch mal nachdenken, ob wir nicht irgendeinen Weg finden, die Ferien nicht erst am 19. Dezember beginnen zu lassen, sondern vielleicht schon am 16. Dezember. Was wird man denn im Rückblick auf ein Jahrhundertereignis einmal sagen, wenn wir nicht in der Lage waren, für diese drei Tage noch irgendeine Lösung zu finden? Es mag ja sein, dass die Aufhebung der Schulpflicht das Falsche ist; dann muss es eben der Digitalunterricht oder sonst etwas sein. Ich weiß es nicht; das ist auch nicht meine Kompetenz, da will ich mich nicht einmischen. Ich will nur sagen: Wenn wir vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und es anschließend die letzten Weihnachten mit den Großeltern waren, dann werden wir etwas versäumt haben. Das sollten wir nicht tun!

Die Leopoldina hat auch recht, wenn sie uns mahnt, nach der Zeit des Zurückfahrens die möglichst höchste Berechenbarkeit für die weiteren Maßnahmen aufzuzeigen. Wenn wir ganz realistisch sind, dann sehen wir: Die Winterzeit geht bis Mitte März. Das ist eine überschaubare Zeit von Anfang Januar bis Mitte März, und das kriegen wir hin. Wir werden dann nach menschlichem Ermessen einen Impfstoff haben, und dann wird sich die Lage von Monat zu Monat verbessern.

Wir müssen uns jetzt noch einmal anstrengen. Wir haben jetzt schon so viele Monate mit diesem Virus verbracht, und wir haben doch gelernt: Wir können etwas dagegen tun! Es ist ein bisschen unmenschlich, dass ich immer auf Distanz gehen muss, dass ich niemanden treffen soll, und wenn, dann nur mit Schutzvorrichtung − das ist richtig −, mit dem Mund-Nasen-Schutz. Aber das ist ja auch nichts, was unser Leben total zerstört. Deshalb sollten wir schauen, dass wir nicht zu viele Menschenleben zerstören und gleichzeitig − das wissen wir ja − auch die Wirtschaft am Laufen halten. In diesem Sinne bitte ich Sie, auch die nächsten, nicht einfachen Tage mit uns gemeinsam durchzustehen.

Herzlichen Dank.