Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz

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Schönen Dank für die Einladung, schönen Dank für die Gelegenheit, wieder einmal hier zu sprechen. Es war für mich beeindruckend, zu sehen, wie lang die Tradition hier schon anhält. 1958, als Sie am zehnten Gespräch teilgenommen haben, war das mein Geburtsjahr. Insofern kann ich dazu nur sagen: Das ist schon eine ganz lange Geschichte, die hier stattgefunden hat. Ich habe heute gelernt, dass man sich in den Saal, in dem gesprochen wird, erst vorarbeiten muss. Das finde ich auch bemerkenswert. Ich grüße alle in den oberen Sälen.

Man kann über das, was vor uns liegt, nicht sprechen, ohne über die große, bedrohliche Herausforderung zu reden, mit der wir alle jetzt konfrontiert sind – dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und den ganzen Konsequenzen, die das hat.

Ich will die sicherheitspolitischen Konsequenzen hier nicht allzu ausführlich besprechen. Das habe ich bei anderen Gelegenheiten getan, auf die Sie verwiesen haben. Aber ich will schon sagen: Das ist eine Zeitwende, weil eine der ganz entscheidenden Verständigungen der letzten Jahrzehnte über die Sicherheits- und Friedensordnung in Europa aufgekündigt worden ist, nämlich dass man nicht mit Gewalt Grenzen verschiebt. Das ist aber genau das, was Putin vorhat: Er will sein Nachbarland ganz oder teilweise erobern. Wer ihm bei seinen Reden zuhört und liest, was er schon lange geschrieben hat, der weiß, dass er eigentlich findet, dass Belarus und die Ukraine mehr oder weniger komplett zu Russland gehören sollten. Und sein Krieg zeigt, dass er das sehr ernst meint.

Insofern ist klar, dass wir alles tun, was wir unternehmen können, um die Ukraine bei ihrem Kampf um Integrität und Souveränität zu unterstützen. Wir haben das in großem Umfang gemacht, in Abkehr von vielen Traditionen der Sicherheitspolitik Deutschlands in den letzten Jahrzehnten. Wir unterstützen die Ukraine mit Waffen – also nicht nur finanziell und humanitär – und tun das in einem ganz großen Umfang.

Wir haben dafür Sorge getragen, dass wir selber im Rahmen der Nato einen größeren Beitrag dazu leisten können, dass unsere Sicherheit gewährleistet ist. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, das wir auf den Weg bringen, ist ja nur das Instrument, das Vehikel, mit dem wir dann insgesamt auf einen Pfad einbiegen, auf dem wir mehr Geld für Sicherheit und Verteidigung aufwenden. Das Ziel ist dann eben nicht mehr, fähig zu sein, irgendwo in der Welt bei kleineren oder größeren Out-of-area-Einsätzen im Rahmen eines Auftrags der Vereinten Nationen zu bestehen, sondern da geht es um Landes- und Bündnisverteidigung. Das hat ganz andere Konsequenzen für das, was wir können müssen.

Heute will ich aber über die ökonomischen Herausforderungen sprechen, die damit verbunden sind und was wir deswegen tun müssen und tun. Ich will es ganz bewusst machen, weil auch der russische Präsident, über den ich eben gesprochen habe, darüber redet, auf sogenannten internationalen Wirtschaftskonferenzen in Sankt Petersburg und Wladiwostok, wo nicht so viele Internationale dabei sind. Aber natürlich sollten wir alle weltweit zuhören bei dem, was er da sagt.

Sein Szenario ist gut beschrieben. Er stellt sich vor, das geht jetzt so aus: explodierende Staatsschuldenkrise in unseren Ländern, dem globalen Westen, wie er uns zusammen immer nennt, eine steigende Inflation, wachsende Arbeitslosigkeit, viele Betriebe, die ihre Tätigkeit einstellen müssen, große Unzufriedenheit und Unruhen in unseren Ländern. Ich glaube, dass wir nicht falschliegen, wenn wir sagen, er hofft auch darauf. Noch mehr: Wir dürfen uns auch keine Illusionen machen. Was er dazu beitragen kann, dass das so kommt, hat er getan, und das wird er tun. Aber er hat sich verrechnet.

Für mich als neu gewählter Kanzler dieser Republik war beim Blick auf die Gefahr, die da auf uns zukommen kann, klar, dass wir uns darauf vorbereiten müssen, dass all die Dinge passieren, die möglich sind. Mit dem Kriegsausbruch ist noch klarer geworden, dass wir das tun müssen. Deshalb haben wir schon Anfang des Jahres Entscheidungen getroffen, von denen wir heute als Land sehr umfassend profitieren.

Wir haben zum Beispiel gesagt, wir müssen technisch in der Lage sein, all das, was wir an fossilen Ressourcen in diesen Jahren noch brauchen, auch tatsächlich nach Deutschland zu bekommen – und manchmal darüber hinaus, in unsere Nachbarländer –, auch wenn es keine Versorgung aus Russland gibt. Deshalb haben wir geklärt: Wie geht das mit der Kohle? Das ist nicht so schwer; es wird verschifft. Die Kohle kommt jetzt nur woanders her. Wir haben geklärt: Wie geht das mit dem Öl? Das ist auch nicht so schwer; das wird verschifft. Wir haben eine Pipeline, die zwei Raffinerien im Osten Deutschlands erreicht. Wir arbeiten hart daran, dass wir deren Betrieb sichern können, auch die Beschäftigung und die Perspektiven dort. Wir haben die Frage gestellt: Was ist, wenn das Gas aus Russland nicht mehr fließt? Wir hatten ja in den letzten Jahren eine Diskussion über die Frage, ob es drei oder vier Pipelines sein sollen. Aber auch drei sind, wenn sie nicht benutzt werden, leer.

Deshalb ist es ganz entscheidend, dass wir das nachholen, was unser Land, wie ich finde, fehlerhafterweise in den letzten Jahren nicht gemacht hat – nämlich sicherzustellen, dass man von einem Tag auf den anderen den Lieferanten wechseln kann. Viele von Ihnen als Unternehmerinnen und Unternehmer werden die Frage für sich im Betrieb auch oft erörtern: Was passiert eigentlich, wenn da oder dort etwas schiefgeht, weil ein Unfall geschieht oder weil man sich zerstreitet, was auch immer passieren kann? Wir als Land haben das nicht in ausreichendem Maße gemacht.

Aber deshalb war mir sehr klar, dass wir jetzt mit dem größten Tempo, zu dem unsere Nation fähig ist, an den norddeutschen Küsten dafür sorgen müssen, dass Flüssiggasterminals gebaut werden; dass unsere großen Handelsunternehmen darüber Gas nach Deutschland transportieren; dass wir Pipelines bauen. Es wird jetzt auch in diesem Tempo geschehen. Die ersten werden im Januar des nächsten Jahres aufmachen, und es werden weitere folgen – in Wilhelmshaven, in Stade, in Brunsbüttel, in Lubmin an der Ostsee – und dann in das Pipelinenetz einspeisen, das wir in Deutschland haben.

Wir haben mit unseren Freunden im Westen Europas gesprochen, den Niederländern, den Belgiern, den Franzosen, dass über ihre westeuropäischen Häfen Gas nach Deutschland kommen kann. Auch Frankreich liefert jetzt zum ersten Mal Gas nach Deutschland. Das ist – das muss gesagt werden – ein Bruch mit Traditionen, aber etwas, was uns in dieser Situation sehr hilft.

Wir haben entschieden, Gas einzuspeichern. In merkwürdiger Unbesorgtheit hat niemand etwas getan, als festgestellt wurde, dass die Speicher leerer und leerer werden, dass aus deutschen Speichern nach Polen Gas geliefert wird und nicht über die Pipeline, die nach Polen führt. Wir haben ein Gesetz gemacht, und jetzt sind wir bei weit über 85 Prozent und werden unsere ehrgeizigen Ziele erreichen. Andere haben das auch gemacht. Das ist eine früh getroffene Entscheidung, die jetzt wirksam ist. Denn wir mussten, als noch niemand wirklich besorgt war, im Sommer in großen Mengen Gas kaufen, um es da einzuspeisen, und das haben wir gemacht.

Wir haben gesagt, wir lassen die Kohlekraftwerke wieder laufen. Keines soll vom Netz gehen. Alle, die vom Netz sind, sollen wieder angeschaltet werden, um Strom zu produzieren, damit wir ihn einspeisen können.

Wir haben jetzt Gesetze gemacht, die es Ihnen ermöglichen, auf andere Energieträger auszuweichen. Manchmal steht ja der alte Ölkessel oder das, was Sie da benutzt haben, noch im Betrieb. Es ging darum, das schnell zu machen – Stichwort „fuel switch“ –, mit erleichterten Regelungen, was die Geschwindigkeit und die Genehmigungsprozesse betrifft, ohne dass die Standards dabei abgesenkt werden.

Wir haben auch entschieden, dass es möglich sein soll, dass wir, wenn es erforderlich ist, im Januar, Februar, März, April auch die Atomkraftwerke, die im Süden Deutschlands sind, weiterlaufen lassen. Das sind alles Vorbereitungen für diese Situation.

Ich finde, wir können schon sagen: Die Lage, in der wir uns befinden, ist jetzt schon ziemlich schwierig, aber wir haben uns in so kurzer Zeit so intensiv darauf vorbereitet, dass wir sagen können, wir kommen wohl durch. Das hätte ohne all diese Maßnahmen niemand jetzt zu diesem Zeitpunkt sagen können.

Klar ist, dass damit noch nicht alle Probleme gelöst sind. Zum Beispiel – Sie haben es angesprochen – die großen Probleme, die sich mit den Preisen ergeben, für die Bürgerinnen und Bürger genauso wie für die Unternehmen. Denn viele Geschäftsprozesse sind auf ganz andere Preise ausgerichtet. Sie sind kalkuliert, und es wird nicht möglich sein, dies dann einfach auf seine Kunden abzuwälzen und die gleichen Mengen zu verkaufen. Insofern sind wir da in einer schwierigen Situation.

Deshalb ist das Nächste, was wir tun, dass wir dafür sorgen, dass wir die Frage beantworten: Wie kommen wir zu Bedingungen, die Wirtschaft und Produktion und das Leben weiter möglich machen im Hinblick auf die Preisentwicklung?

Erste klare Entscheidung: Wir werden versuchen, die Dysfunktionalitäten des Strommarktes zu bekämpfen. Das haben wir mit den Entscheidungen vom letzten Wochenende gemacht, die ziemlich übereinstimmen mit dem, was sich die Kommission in Europa ausgedacht hat. Und wir werden sicherstellen, dass nicht Sondergewinne gemacht werden können, wenn der eigentliche Preis von der Stromproduktion durch Gas bestimmt wird. Die werden wir abschöpfen und nutzen, um die Strompreise generell, die Netzentgelte und deren Anstieg abzufedern – aber auch, um sicherzustellen, dass es eine Strompreisbremse für die Haushalte gibt. Daran arbeiten wir jetzt intensiv. Wenn ich die europäischen Beratungen sehe: Das wird uns auch gelingen.

Dann kommen natürlich die Wärmepreise, insbesondere die Gaspreise, ins Spiel. Da ist die eine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir eine gute Versorgung haben, indem wir die Infrastrukturen bauen, damit das überhaupt passieren kann. Aber die andere ist, dafür zu sorgen, dass die Preise sich wieder in Größenordnungen bewegen, die dann auch bezahlt werden können. Das ist das, was wir jetzt in Deutschland, in Europa tun und mit vielen anderen diskutieren.

Aber jedem und jeder, die sich in dieser Sache auskennen, ist auch klar: Das ist jetzt nicht so einfach, wie das beim Strommarkt der Fall ist. Denn wir kaufen das Gas ja nicht in großen Mengen irgendwo in Deutschland, sondern wir kaufen es in Norwegen, in den Niederlanden – die sind noch nah –, in den USA, überall in der Welt. Das haben Sie verfolgt. Das wissen Sie genau. Denen können wir ja nicht einen Brief schreiben: „Ihr Preis ist der folgende.“ Das übersteigt unsere Gesetzgebungskompetenzen und den Ausbreitungsgrad unserer Jurisdiktion, um es mal so zu sagen.

In dieser Hinsicht geht es jetzt darum, dass uns das gelingt. Das wird aber eine große Anstrengung erfordern, damit wir das machen. Auch das bedeutet, dass wir mit allen fachlich zusammenarbeiten, die in der Wirtschaft viel von diesen Fragen verstehen. Das tun wir, das ist vorbereitet und wird auch weiter diskutiert. Und dass wir gleichzeitig bereit sind, alles dafür zu tun, dass wir auch wirtschaftlich und finanziell durchkommen.

Deshalb kann ich Ihnen hier an dieser Stelle erneut versichern, was ich nun schon seit einiger Zeit sage: Wir werden das hinbekommen. Man darf unser Land einfach nicht unterschätzen. Wenn wir zusammenhalten, wenn wir bereit sind, diese neue, ganz konkrete Herausforderung zu bestehen, dann wird und kann uns das auch gelingen. Wir werden genau diese Aufgabe anpacken. Niemand, kein Unternehmen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger nicht, wird alleingelassen. Wir machen das zusammen.

Für mich ist das jetzt die nächste Aufgabe, und – ich will das ausdrücklich sagen – das gehört zu den Sachen, die für diesen Winter und den nächsten erforderlich sind. Aber wir müssen uns eine Welt vorstellen, in der es sehr lange so sein wird, dass die Energielieferungen aus Russland für das Angebot auf den Weltmärkten und für die Preisbildung auf den Weltmärkten keine Rolle mehr spielen. Da kann man nicht irgendwie populistisch darum herumreden, sondern dann muss man einfach diese konkrete Aufgabe anpacken. Wir werden uns nicht drücken, sondern alles tun, was erforderlich ist.

Ich habe es bewusst an den Anfang gestellt, über diese Krise zu reden, weil sie einfach jetzt so elementar ist. Aber sie ist ein Anlass, über verschiedene Fragen miteinander zu diskutieren, die für die Rolle unseres Landes und für unsere Zukunft von allergrößter Bedeutung sind. Sie erledigen nicht all die anderen Herausforderungen, die die Fortschrittskoalition in Deutschland sich vorgenommen hat.

Das eine Thema, das ich hier gern ansprechen möchte – das hängt zusammen mit dem, was wir eben erörtert haben –, ist aus meiner Sicht die ganz entscheidende Frage: Wie stehen wir zur Globalisierung und zur weiteren Entwicklung der Welt?

Ich will mit einem klaren Bekenntnis beginnen: Ich halte nichts von Deglobalisierung. Ich halte nichts davon, dass wir das, was den Wohlstand und den Fortschritt der letzten Jahrzehnte in der ganzen Welt möglich gemacht hat, aufgeben und uns plötzlich wieder alleine auf uns selbst konzentrieren.

Hier ist ein guter Ort, um das zu sagen: Es ist der deutsche Mittelstand, der mit am meisten von der Globalisierung profitiert hat. Kleine Unternehmen mit 500, 1.000, 2.000, 3.000, manchmal auch noch ein paar mehr Beschäftigten, die aber mit einem oder zwei Produkten oder Dienstleistungen auf dem ganzen Weltmarkt der Wettbewerber von zwei, drei anderen sind – das sind diejenigen, die die Stärke unserer Volkswirtschaft ausmachen. Wenn die Rahmenbedingungen, wenn die Scales, wenn die Größenordnungen, in denen das entwickelt werden kann, sich plötzlich auf Europa oder Deutschland oder auf Europa und die USA beziehen, dann ist das definitiv zu klein für den Fortschritt, der da möglich gewesen ist. Deshalb, finde ich, müssen wir auch einmal sagen: Die Globalisierung hat viel Wohlstand gebracht. Sie hat Milliarden Menschen in der ganzen Welt in eine Art von Mittelschicht gebracht. Der Hunger ist zurückgegangen, die Bildung ist besser geworden. Viele Versorgungsfragen sind besser gelöst, als sie jahrzehntelang gelöst waren.

Was ganz viele völlig übersehen haben: Es ist in den letzten 30, 40 Jahren genau andersherum gegangen, als in den 200, 250 Jahren Industriegeschichte davor. Erinnern wir uns noch: Der britische Industrialismus hat mit der gewalttätigen Zerstörung indischer Webmaschinen begonnen. Jetzt kommen die Textilien wieder aus Asien – und zwar mit Maschinen, die oft auch hier in Deutschland gebaut werden. Aber ich will ausdrücklich sagen: Das ist doch der veränderte Vorgang. Da ist Arbeit entstanden. Da sind Städte neu entstanden. Da sind Infrastrukturen entstanden. Da ist Wohlstand.

Deshalb ist zum Beispiel auch für mich immer klar gewesen, dass diese ganz besondere Phase der Globalisierung, in der wir uns in den letzten Jahren befunden haben, allmählich zu Ende geht. Das Phänomen, das die Ökonomen – ich sehe da einen – nicht alle verwundert, aber das sie diskutiert haben, kann leicht aufgelöst und erklärt werden. Wie konnte es sein, dass wir Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und geringe Inflation haben? Weil eben diese Teile der Welt auf unsere Märkte bezogen etwas mitproduziert haben, in den Lieferketten Rohstoffe geliefert haben, Arbeitsprozesse begleitet haben und es dadurch bei uns sehr billig werden konnte.

Was aber wohl der eine oder die andere übersehen hat, ist: Indem das geschieht, entstehen dort ja auch neue Nachfragemärkte. Dort werden plötzlich in der Covid-19-Pandemie von Regierungen auch Konjunkturprogramme gemacht, die die Nachfragesituation in der Welt beeinflussen.

Alle wollen den Klimawandel bekämpfen – dazu komme ich noch –, und viele haben entschieden: Die Zwischentechnologie dazu ist Gas. Ich meine, das hat Folgen für die weltweite Nachfrage. Deshalb kommt jetzt durch die aktuelle Krise vielleicht etwas schneller, was im Laufe des jetzigen Jahrzehnts wahrscheinlich sowieso geschehen wäre – nämlich dass die Besonderheiten dieser Phase der Globalisierung zu Ende gehen, die letztendlich nur davon gelebt haben, dass es einen Weltmarkt gab, der nur einen Teil der Weltbevölkerung umfasst hat, und die anderen für ihn dazuproduziert haben. Jetzt wird es so sein, dass der Weltmarkt viel größer ist – nämlich wirklich die Welt umspannt, mit eigenen Nachfrage- und Investitionsstrategien vieler Länder auf der Welt.

So weit aus der wirtschaftlichen Perspektive. Aber auch aus der ökonomisch-politischen Perspektive ändert sich etwas. Deshalb will ich sagen: Ich bin nicht nur entschieden gegen die Idee der Deglobalisierung und das Verteufeln der Globalisierung als Wohlstandsmaschine, sondern ich bin auch entschieden dagegen, dass wir uns die Welt so denken, wie man sie sich, rückwärts betrachtet, immer vorstellt, dass es auf eine neue, bipolare Welt hinausläuft. In der Nachkriegsordnung war der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion und ist jetzt vielleicht zwischen den USA und China. Und Russland meldet sich mächtig zu Wort: „Ich bin auch noch da.“ Deshalb wird das, was vor uns liegt, vielmehr eine multipolare Welt sein.

In Asien gibt es viele stark werdende und schon jetzt starke Nationen. Die werden es sich nicht gefallen lassen, dass sie in einen solchen Konflikt eingeordnet werden. Südkorea, Japan, Vietnam, Indonesien, Malaysia, Thailand, Indien, um nur einige zu nennen, werden nicht akzeptieren, dass sie irgendwie das Randgeschehen ausmachen. Deshalb wird die Welt viel multipolarer werden. Da kann man nicht nur nach Asien gucken, was man aber unbedingt machen muss, wenn man China-Strategien diskutiert, sondern das ist auch der Fall, wenn wir nach Afrika oder in den Süden Amerikas gucken.

Meine feste Überzeugung ist: Da werden auch noch viele einflussreiche Nationen auf der Welt sein. Alles das wird schon um die Mitte dieses Jahrhunderts stattfinden, also in wenigen Jahrzehnten. Die Frage, was wir in dieser Welt wollen und was wir da als Zielperspektive verfolgen, muss jetzt beantwortet werden. Meine eine Antwort lautet also: keine Deglobalisierung. Die andere lautet: Wir sind sehr froh über diese Perspektive der Multipolarität.

Aber – das ist die Lehre, die uns Putin gerade erteilt – es ist ja nicht notwendigerweise eine gute Ordnung, wenn Macht und Gewalt gewissermaßen das Untereinander der Staaten bestimmen. Deshalb muss für uns klar sein: Wir wollen, dass diese Welt nicht nur multipolar ist, mit vielen einflussreichen Ländern, sondern wir wollen unbedingt erreichen, dass es eine Welt ist, die zusammenarbeitet, das, was man multilateral nennt. Das sollte unser Auftrag in Deutschland und in Europa sein.

Deshalb auch diese Aussage: Die Europäische Union ist für uns die Hoffnung, dass die Welt, die da entsteht und die eine ganz andere sein wird als die, die wir in den letzten 200, 250 Jahren gekannt haben, eine ist, in der wir mitzureden haben, in der wir unseren Wohlstand sichern und sichern können, dass wir zwar nicht mehr so große Anteile am Weltsozialprodukt haben, wie wir es über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte hatten, aber sicherstellen können, dass wir die modernsten Technologien, die fortschrittlichsten Technologien und den gleichen Wohlstand wie diejenigen, die vorne dabei sind, auch für Europa und für uns sichern.

Wir sind mit 80 Millionen Deutschen nicht in der Lage, das Weltgeschehen von dann 10 Milliarden Einwohnern um 2050 zu beeinflussen. Deshalb kann uns das nur mit der Europäischen Union gelingen. Diese Europäische Union ist entstanden als eine Gemeinschaft, die die Völker, die Kriege miteinander geführt haben, zusammenführen sollte. Aber sie muss jetzt eine neue Rolle kriegen, nachdem das jahrzehntelang sehr erfolgreich gelungen ist und neue dazugekommen sind: die Griechen, die Spanier, die Portugiesen, die ihre Diktaturen abgeschüttelt haben, die Länder in Mittel- und Osteuropa, die die kommunistischen Diktaturen abgeschüttelt haben und ihre Freiheit im Westen wiedergefunden haben, und all diejenigen auf dem westlichen Balkan, die noch dazukommen wollen und die wir eingeladen haben, die Ukraine, Moldau und Georgien in längerer Perspektive. Sie müssen alle diese Tatsache im Blick haben, dass wir nur gemeinschaftlich auf der Welt Einfluss haben können. Das ist dann die Perspektive einer geopolitischen Union, wie ich das genannt habe, in der wir zusammenarbeiten.

Für uns Deutsche hat das eine Konsequenz. Denn eigentlich haben sich ja in den letzten Jahrhunderten viele davor gefürchtet, dass dieses eine Land mit der größten Bevölkerung und der immer schon ziemlich großen Wirtschaftskraft zusammenfindet und in einer Art staatlichen Einheit seine ganze Macht ausspielt. Als es dann 1871 passiert war, haben wir gezeigt, dass diese Sorge auch berechtigt war – mit zwei Weltkriegen, die von Deutschland ausgegangen sind.

Dass wir wieder zusammenkommen durften, dass wir unsere Einheit jetzt wiederhaben als demokratisches Land mitten in Europa, das verdanken wir diesem Europa, aber auch dem Vertrauen, das viele in uns haben und der Art und Weise, wie sie auf uns setzen.

Aber es bleibt dabei: Wir sind das große Land mitten in der Europäischen Union mit der größten Wirtschaftskraft und der größten Bevölkerung. Deshalb müssen wir die Nation sein, die die europäischste ist, die sich fest vornimmt, dass die Zukunft Europas, der Fortschritt in Europa unsere eigene nationale Sache ist, und dass wir uns dafür einsetzen. Ich sage: Das ist das, was ich für mich als Kanzler unbedingt als Auftrag begreife. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Union so reformiert wird, dass sie als souveräner Player in der Welt eine Rolle spielt.

Weil alles mit allem zusammenhängt, noch diesen Satz zur Globalisierung, zur veränderten Welt, zur Rolle Europas und zu dem Krieg, den Putin gegen die Ukraine begonnen hat: Es gilt für uns alle und nicht nur im Hinblick auf Gas, Öl und Kohle, dass wir unsere Lieferbeziehungen diversifizieren müssen. Es gilt für uns alle, dass wir unsere Exportmärkte diversifizieren müssen, damit Schwierigkeiten an dem einen Ende der Welt nicht zu unseren Schwierigkeiten werden. Natürlich: Wenn etwas, was gut läuft, dann plötzlich nicht gut läuft, wird das immer Probleme machen. Aber wenn man abhängig davon ist, weil man gar nicht aushalten kann, dass es zehn, 15 Jahre schwierig wird, dann ist das ein Problem.

Deshalb wünsche ich mir, dass wir den Blick in das andere Asien, nach Afrika und in den Süden Amerikas viel stärker für Investitionen, für Importe und Exporte entwickeln. Das gilt nicht nur, aber natürlich auch für Rohstofflieferungen.

Für uns hat das aber eine Konsequenz: dass wir die Betulichkeit, die Bequemlichkeit ablegen, mit der wir manchmal die Prozesse begleitet haben, wenn es zum Beispiel um Lithium-Abbau irgendwo in der Welt geht, um nur dieses Beispiel zu nennen. Man muss es dann auch hinkriegen, das mit zu wollen, und darf das nicht Regimen überlassen, die nicht so viele Probleme mit ihrer Bevölkerung haben. Deshalb gehört dazu, dass wir auch ein positives Bekenntnis zu solchen Investitionen in diese Rohstoffproduktion, in die Rohstofferzeugung ablegen, damit wir die Diversifizierung hinkriegen. Da wird viel deutsches Kapital, öffentliches und viel, viel mehr privates, erforderlich sein, um das möglich zu machen. Aber auch das sollte eine Lehre aus der veränderten Zeit sein.

Das dritte Thema, das ich gern ansprechen möchte und für unsere Diskussion hier entwickeln will, ist: Weil die Probleme so sind und weil die Dinge sich so entwickelt haben, hören wir aber nicht auf, das zu tun, was wir für unsere Zukunft dringend tun müssen. Dazu gehört für mich, dass wir weiter das Ziel verfolgen, ein wirtschaftsstarkes Land zu werden, das 2045 klimaneutral wirtschaftet.

Das ist die große ökonomische Transformation unseres Landes, die Digitalisierung und die ökologische Transformation, im Übrigen in einer sehr fortschrittlichen Antwort: Es ist eben nicht so, wie uns der eine junge Mann gesagt hat, dass Verzicht die Lösung für die Herausforderungen ist, die wir jetzt haben, sondern es ist Wachstum und Fortschritt, technologischer Fortschritt, und zwar einer, bei dem wir in Deutschland eine ganz zentrale Rolle spielen. Wir sind nämlich das Land, das die Ingenieurinnen und Ingenieure, die Unternehmerinnen und Unternehmer und die finanzielle Kraft hat, solche Technologien so zu entwickeln, dass sie global wettbewerbsfähig sind, sodass andere sie auch nutzen wollen.

Wir werden die Bürgerinnen und Bürger Asiens, Afrikas und im Süden Amerikas nicht dazu überreden, dass sie nicht genauso viele Autos haben wollen wie wir, dass sie nicht genauso schön leben können wollen wie wir. Sie wollen das alles auch haben und werden es früher oder später kriegen. Wir werden sie nicht zum Verzicht bewegen.

Was wir können, ist, zu sagen: Wir haben Technologien, die so sind, dass die Welt diesen Wohlstand aushält, ohne dass das Klima und die Biodiversität darunter leiden. Genau das ist ein ganz wichtiger Auftrag an uns alle, denn wir in Deutschland können genau das bewerkstelligen. Deshalb gehören diese Dinge dazu.

Während wir uns also unabhängig machen, machen wir jetzt auch viele Gesetze fertig – einige sind sogar schon beschlossen, in diesem einen Jahr –, die zur Beschleunigung des Umbaus unserer Energieversorgung auf erneuerbare Energien, zur Beschleunigung des Netzausbaus, zur Beschleunigung des Einstiegs in eine Wasserstoffwirtschaft beitragen. Denn es sind milliardenschwere privatwirtschaftliche Investitionen, die dafür erforderlich sind, die in den Betrieben und den Unternehmen insgesamt erforderlich sind, die nur funktionieren, wenn jemand, der jetzt seinen Produktionsprozess für Stahl verändert und von der Hochofenroute weggeht, wenn jemand, der seine Chemiefabrik ändert und von der Nutzung fossiler Ressourcen weggeht und zur Elektrifizierung und zur Nutzung von Wasserstoff für viele Prozesse geht, auch sicher sein kann: Das wird er alles in rauer Menge und zu bezahlbaren Preisen haben.

Genau diese Aufgabe haben wir uns gestellt. Und das ist das, was wir unbedingt mit Ihnen zusammen erreichen wollen, damit Fortschritt in Deutschland möglich ist, damit wir an der Spitze bleiben, was unseren Wohlstand betrifft, und damit wir einen Beitrag dazu leisten können, dass die Welt klimaneutral wirtschaftet, aber den großen Wohlstand, den wir allen Bürgern dieser Welt wünschen, auch tatsächlich ertragen kann.

In diesem Sinne freue ich mich auf die Diskussion, auch auf die Diskussion der Thesen, die uns die jungen Leute am Anfang gesagt haben. Eigentlich fand ich es sehr berührend, was wir da gehört haben. Denn die wichtigste Botschaft, die dabei rüberkam, war doch: Man kann Hoffnung haben. Wir müssen nicht griesgrämig durch die Welt laufen. Wir wissen sogar, wie es besser werden wird. Dann sollten wir es auch tun.

Schönen Dank.