Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz

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Sehr geehrte Frau Ben-Ami,
sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin,
sehr geehrter Herr Botschafter Prosor,
sehr geehrter Herr Dr. Schuster,
sehr geehrter Herr Dr. Joffe,
sehr geehrter Herr Rabbiner Dr. Ehrenberg,
sehr geehrte Frau Ur,
sehr geehrter Herr Diekmann,
sehr geehrte Mitglieder des deutschen Freundeskreises Yad Vashem,
sehr geehrte Damen und Herren,

am 4. September 1931 brachte Hildegard Fuss in Berlin ihr erstes Kind zur Welt; es war ein Mädchen. Hildegard und ihr Mann Abraham zogen in eine Wohnung in der Fehrbelliner Straße; ein zweites Kind wurde geboren. Die Zukunft lag vor ihnen. Bis 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernahmen und damit begannen, ihre mörderische Absicht in die Tat umzusetzen: Alles jüdische Leben sollte ausgelöscht werden.

Am 13. September 1939, wenige Tage nach dem achten Geburtstag seiner Tochter, wurde Abraham verhaftet und nach Sachsenhausen deportiert. Hildegard war wieder schwanger. Sie ließ die Kinder beim Großvater und floh aus Nazi-Deutschland nach Schweden. Doch der Plan, die Familie zu sich zu holen, sobald sie in Sicherheit wäre, scheiterte. Am 19. Oktober 1942 deportierte die Gestapo die Tochter von Abraham und Hildegard nach Riga. Unmittelbar nach ihrer Ankunft wurde sie ermordet. Sie war elf Jahre alt. Ihr Name war Ruth.

Yad Vashem wurde geschaffen, um an jede Einzelne und jeden Einzelnen zu erinnern, den die Nationalsozialisten umgebracht haben. 4,7 Millionen Namen sind bislang aufgeschrieben worden und füllen ganze Regalwände der Ausstellung. Kein Name soll vergessen werden, auch die Dimension des millionenfachen Massenmordes nicht.

Als ich im März die Gedenkstätte besuchte, war ich tief berührt; das furchtbare Verbrechen, das Deutsche an sechs Millionen europäischen Juden begangen haben, wird spürbar. Die Namen der Ermordeten werden in die Gegenwart gerettet.

Die Nationalsozialisten und ihre Helfer haben tiefe Wunden geschlagen, die bis heute in den Familien der Überlebenden und der Toten schmerzen. Auch in unserem Land, unserer Kultur, unserer Gesellschaft klafft eine tiefe Lücke.

Umso glücklicher dürfen wir uns schätzen über Orte wie diese Synagoge im Herzen Berlins, über jüdische Kultur in Deutschland. Umso größer ist unsere Pflicht, jüdisches Leben zu fördern und zu schützen.

Wer die Zeitzeugen hört, der kann das Leid, das sie durchgemacht haben, nur erahnen. Umso dankbarer bin ich Ihnen, liebe Frau Ben-Ami, dass Sie uns heute teilhaben lassen an Ihren bedrückenden und auch beeindruckenden Geschichten und dass Sie uns von den Kindern erzählen. Es muss viel Kraft kosten, immer wieder von dem unvorstellbaren Verbrechen Zeugnis abzulegen. Ihre Berichte nehmen uns in die Pflicht.

Der deutsche Freundeskreis der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ist wichtig, damit wir dieser Verpflichtung gerecht werden. Sie widmen sich der Aufgabe, Verlust und Leid sichtbar zu machen, Erinnerung in die Gegenwart zu bringen, damit unser „Nie wieder!“ auch in Zukunft Bestand hat.

Immer weniger Überlebende können unmittelbar zu uns sprechen, und so bekommen Objekte und Bilder eine wichtigere Rolle. Vielen von Ihnen wird das eindrucksvolle Projekt „Licht zeigen“ zum diesjährigen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar präsent sein.

Wir haben eben schon davon gehört, dass zu Chanukka 1931 Rahel Posner, die Frau des letzten Rabbiners in Kiel vor der Shoah, den Chanukka-Leuchter ihrer Familie fotografiert hat und ihn bewusst ins Fenster gestellt hat.

70.000 Kopien dieses Bildes wurden im Januar dieses Jahres von Tausenden von Menschen in der ganzen Stadt ausgehängt. Eine ganze Region bekannte sich symbolisch zum Licht und wendete sich gegen das Dunkel von Ausmerzung, Gewalt und Vergessen.

Solche Momente sind wichtig, gerade auch für die jüngere Generation. Die Bundesregierung hat sich daher verpflichtet, das Programm „Jugend erinnert“ zu verstetigen und zu modernisieren. Eine Linie richtet sich gezielt an NS-Gedenkstätten und -Dokumentationszentren in Deutschland, die wir dabei unterstützen, innovative Bildungsformate mit und für junge Menschen zu entwickeln und weiter auszubauen.

Ein Projekt etwa beschäftigt sich mit der Wirkung von Hasssprache in Geschichte und Gegenwart. In einer anderen Initiative werden Bildungsformate für angehende Justiz, Notar- und Rechtsanwaltsfachangestellte angeboten. Wir wollen natürlich auch den internationalen Austausch unter Jugendlichen stärker fördern. Das Deutsch-Israelische Jugendwerk, das wir auf den Weg bringen wollen, wäre ein ganz großer Schritt.

All dies ist wichtiger denn je in Zeiten, in denen Antisemitismus und Rassismus zunehmen. Die Zahlen zeigen auf erschreckende Weise, wie dringend der Handlungsbedarf ist. Im vergangenen Jahr ist die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland auf 3.027 gestiegen, eine Steigerung von nahezu 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dagegen kommen wir nur an, wenn eine handlungsbereite Politik und eine engagierte Zivilgesellschaft zusammenwirken.

Deshalb bin ich dem Freundeskreis dankbar für seine wichtige Arbeit, die in die Gesellschaft ausstrahlt. Für die Bundesregierung kann ich sagen: Der Kampf gegen Antisemitismus, der Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus hat für uns allerhöchste Priorität.

Mit dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ haben wir ein bundesweit arbeitendes Kompetenznetzwerk gegen Antisemitismus aufgebaut und finanzieren zahlreiche Projekte zur Prävention von Antisemitismus, aber auch Beratungsstellen für Betroffene in den Landesdemokratiezentren in allen Bundesländern.

Antisemitismus – und dazu zählt die Relativierung des Holocausts – werden wir in Deutschland nicht dulden. Das werde ich auch in meinem Gespräch mit Präsident Herzog und Ministerpräsident Lapid noch einmal bekräftigen. Der Holocaust, die Tötung von sechs Millionen Menschen, ist singulär. Wer den Holocaust infrage stellt, wer falsche Vergleiche anstellt, der verharmlost und verfälscht Geschichte, der schürt Hass und Gewalt, der verhöhnt die Opfer. Das haben wir der Führung der Palästinenser nach Mahmud Abbas‘ empörender Entgleisung hier auf deutschem Boden unmissverständlich klargemacht.

Wir führen den Kampf gegen Holocaustrelativierung auch auf internationaler Ebene mit höchster Priorität. Zusammen mit Israel haben wir erst im Januar eine Resolution gegen das Leugnen und Trivialisieren des Holocausts in die UN-Generalversammlung eingebracht. Auch während der deutschen Präsidentschaft der International Holocaust Remembrance Alliance in den Jahren 2020 und 2021 war dies eines unserer zentralen Themen.

Noch einen weiteren Namen möchte ich heute Abend nennen, den Namen eines Mannes, der wie Sie, Frau Ben-Ami, nicht müde wurde, Zeugnis abzulegen von dem, was er als Zwangsarbeiter und Häftling in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten erlebt hatte. Es war der Ukrainer Boris Romantschenko. Am 18. März ist er in Charkiw gestorben. Er wurde Opfer russischer Bomben.

Romantschenko steht für zahlreiche Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in der Ukraine, die ihre jungen Lebensjahre in ständiger Furcht vor Terror und Tod durch die nationalsozialistischen Besatzer und ihre Schergen verbrachten und die sich heute, fast ein Menschenleben später, vor Krieg, Bomben und Besatzung fürchten müssen. Der Gedanke ist schwer zu ertragen.

Umso wichtiger ist mir, dass Holocaust-Überlebende aus der Ukraine hier in Deutschland Aufnahme finden und Schutz erhalten – ausgerechnet in Deutschland, muss man wohl hinzufügen. 94 Überlebende konnten wir bislang hierherholen, in Sicherheit, nach Deutschland. Das sagen zu dürfen, erfüllt mich mit großer Demut, weil darin mitschwingt, wie verändert diese Männer und Frauen unser Land sehen.

Das Fundament einer solchen Veränderung ist aber eben, das unfassbare Verbrechen des Holocausts niemals zu vergessen. Darum geht es, wenn wir die Namen von Boris Romantschenko, von Rahel Posner, von Hildegard, Abraham und Ruth Fuss nennen und an ihre Leben erinnern. Dafür steht Yad Vashem. Dafür steht der deutsche Freundeskreis Yad Vashem, und dafür bin ich Ihnen zutiefst dankbar.