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Es ist für mich eine große Ehre und Freude, heute hier zu Ihnen sprechen zu können. Gerne bin ich der Einladung Ihres Instituts gefolgt.

Es trägt den Namen eines der bedeutendsten jüdischen Theologen und Philosophen des 20. Jahrhunderts. Rabbiner Leo Baeck, Überlebender des Konzentrationslagers Theresienstadt, hat es vermocht, nach dem Krieg und dem Horror der Shoah dem entstehenden demokratischen Deutschland die Hand zu reichen. Sein Blick auf die junge Bundesrepublik war von Verständnis geprägt, ja, schloss gar Versöhnung nicht aus. Mit seinen Forschungen und Schriften zur Geschichte der deutschen Juden hat er einen entscheidenden Beitrag zur Bewahrung dieses wichtigen Erbes unseres Landes geleistet, ein Erbe, das die Nationalsozialisten mit den verbrecherischsten Mitteln auslöschen wollten. Wir sind voller Dankbarkeit, dass das Leo Baeck-Institut und seine Forschungseinrichtungen in den USA, Israel und in Deutschland dieses Erbe und diesen Geist wach und lebendig halten.

Es ist mir eine ganz besondere Ehre und Freude, heute mit Professor Fritz Stern einen großen Historiker mit der Leo-Baeck-Medaille auszeichnen zu dürfen. Auch er, der buchstäblich in der letzten Minute mit seiner Familie aus Nazi-Deutschland fliehen konnte, hat eine tiefe Verbundenheit zum Land seiner Kindheit bewahrt - obwohl dieses Land ihn und seine Familie entwürdigt, enteignet und schließlich vertrieben hat. Auch seine Haltung zum demokratischen Deutschland ist von Zuversicht und Verständnis geprägt. In gewisser Hinsicht also folgt er Leo Baeck.

Auf der Flucht vor den Nazis kommt Fritz Stern im Alter von zwölf Jahren 1938 in New York an. Hier in dieser großartigen Stadt wurde er mit offenen Armen aufgenommen. Hier ist er aufgewachsen. Seine glänzende wissenschaftliche Karriere ist eng mit der Columbia Universität verbunden.

Dass es heute in Amerika eine exzellente, differenzierte Forschung zu Deutschland und zur deutschen Geschichte gibt, dass es heute in den USA viel Verständnis für mein Land gibt, ist nicht zuletzt dem Wirken Fritz Sterns zu verdanken. Das liegt nicht nur an seinen hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen - es liegt auch an seiner Überzeugungskraft und seiner Fähigkeit zu vermitteln. Fritz Stern gehört nicht zu den Historikern, die im Elfenbeinturm forschen und die sich ausschließlich an die eigene Zunft wenden. Im Gegenteil: Stern wendet sich an die ganze Gesellschaft. Viele seiner Studien richten sich bewusst an ein breites Publikum. Dies entspricht seiner Vorstellung einer verantwortlichen Geschichtswissenschaft.

Diese Verantwortung ist ihm umso wichtiger vor dem Hintergrund seiner Beobachtung: "Historiker sind nicht mehr die Hauptverwalter der Vergangenheit. Sie teilen die Verantwortung mit den Regisseuren neuer Medien, die jetzt die Vergangenheit - oft in notgedrungener Verkürzung und oft auch in vermeidbarer Verzerrung - in Beschlag nehmen."

Fritz Stern trifft diese Feststellung mit einer gewissen Sorge. Er trifft sie 1999, am "Ende des grausamsten Jahrhunderts in der Geschichte Europas". Und er trifft sie in Deutschland - genauer gesagt in Frankfurt - anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Diese Äußerung fällt mit Bedacht in meinem Land, in Deutschland. Auch wenn das Bild der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts heute klarer ist und genauer erforscht als jemals zuvor - wenn die unmittelbare Erinnerung mehr und mehr verblasst, dann wächst die Gefahr, zu vereinfachen, zu verzerren, zu vergessen.

Stern sieht die Geschichtswissenschaft hier in der Pflicht. Eine Vergangenheit, die so entsetzlich ist, dass sie "nicht vergeht", wie er es formuliert, muss präsent sein - und zwar nicht etwa, um Schuld zuzuweisen, sondern um Verantwortung für die Gegenwart zu entwickeln, aus der Geschichte zu lernen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Das genau ist Fritz Sterns Anliegen. Daher will er das Gedenken und Erinnern lebendig halten und es gleichzeitig in einen größeren historischen Kontext einbetten.

Es ist ein sehr persönliches Anliegen, denn es ist stark durch seine eigene Biographie geprägt. Deutschland ist das Land seiner Kindheit. Deutschland hat ihn und seine Familie brutal vertrieben. Und es hätte ihn, wie Millionen andere deutscher und europäischer Juden in den Vernichtungslagern ermordet, wenn er und seine Familie den Mördern nicht entkommen wäre. Deshalb gilt sein Interesse zuallererst Deutschland und seiner Geschichte.

Fritz Stern wurde 1926 in Breslau in eine Familie des weltoffenen deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums geboren. Man könnte die Sterns jener Geisteselite zurechnen, die Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem "Land der Spitzenleistungen" machte, wie er es selbst ausdrückt; ein Land zahlreicher Nobelpreisträger, weltberühmter Künstler, innovativer Forscher und unabhängiger Denker.

Diese Geisteselite war für eine Zeit blühender Kreativität verantwortlich - kulturell, wissenschaftlich und wirtschaftlich. Vorbildliche Universitäten, eine wachsende Industrie, ein vielfältiges Kulturschaffen und eine sich dynamisch entwickelnde Gesellschaft sorgten für große internationale Ausstrahlung Deutschlands, seiner Kultur und Sprache. Ja, das Land hätte mit dieser Kreativität weltweit prägend sein können. Das 20. Jahrhundert hätte ein deutsches Jahrhundert im besten Sinne werden können, wenn Deutschland auf seine "sanfte Macht" gesetzt hätte und nicht auf militärische Stärke.

Stern zeigt aber gleichzeitig die fatalen Schwächen des damaligen Systems des deutschen Kaiserreichs: Aggressive Außenpolitik, übersteigerter Nationalismus, sinnlose Aufrüstung, konfrontative und verbitterte Innenpolitik - all das verdrängte die großen gesellschaftlichen und intellektuellen Leistungen, ließ sie in den Hintergrund treten und in ihrer Bedeutung verblassen. Deutschland verließ sich lieber auf "hard power", als auf sein großes Potenzial an "soft power" zurückzugreifen. Die Chance eines friedlichen, vorbildlichen Deutschlands war vertan - sie scheiterte im Ersten Weltkrieg.

Dieses Scheitern, diese "vertane Chance", wie er selbst sagt, ist einer der Schwerpunkte von Sterns wissenschaftlicher Arbeit. Er vermittelt uns ein sehr differenziertes Bild dieser Epoche, vor allem mittels Biographien und biographischer Skizzen. Sein Ansatz ist der der psychologischen Erkenntnis des Gewesenen; für eine rein materialistische Deutung der Vergangenheit hat er wenig übrig. So beleuchtet er zum Beispiel die Persönlichkeiten von Paul Ehrlich, Max Planck, Albert Einstein, aber auch Walter Rathenau und Thomas Mann in ihrem zeithistorischen Zusammenhang.

Am bekanntesten ist sein Buch über Otto von Bismarck und seinen Bankier Gerson Bleichröder mit dem Titel: "Gold and Iron. Bismarck, Bleichröder and the Building of the German Empire." In diesem Werk wird die Verbindung von Geld und Staatsmacht im Kaiserreich auf eindrucksvolle Weise dargelegt. Stern schildert hier auch den bedrohlich wachsenden Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert, der selbst dem gesellschaftlich so anerkannten Bleichröder zunehmend zum existenziellen Problem wurde. Der wachsende Antisemitismus in den deutschen Eliten erwies sich aus heutiger Sicht als Vorbote der kommenden Katastrophe.

So haben die Themen, die Fritz Stern interessieren, immer auch etwas mit seiner eigenen Lebenserfahrung zu tun. Der ehemalige polnische Außenminister Bronislaw Geremek sagte einmal, Stern untersuche das Schicksal Deutschlands "nicht mit der atlantischen Distanz eines außenstehenden Beobachters oder objektiven Richters". Er sah in Stern sogar jemanden, der sich aufgrund seiner Biographie psychologisch hineinversetzen kann in die Zeiten über die er schreibt. "Stern ist ein Historiker, der auf eine besondere Weise teilnimmt. Er möchte verstehen, nicht aber rechtfertigen."

Dies gilt in besonderem Maße für den zweiten Forschungsschwerpunkt von Fritz Stern: die Geschichte des Nationalsozialismus. Es reichte ihm nicht, die Katastrophe des Dritten Reiches zu verurteilen - Stern wollte schon sehr früh verstehen, wie es dazu kommen konnte. "Nationalsozialismus als Versuchung" lautet eine seiner kleinen Schriften, in der er die Entstehung des Dritten Reiches aus der psychischen Situation der Deutschen heraus erklärte.

Besonders hier zeigt sich, dass Stern niemals nur ein außenstehender Beobachter ist. Er scheut sich nicht, dabei auch sich selbst zu reflektieren. Ihm sei diese Versuchung erspart geblieben, denn, so stellt er fest, sie war ihm als "Nichtarier" verboten. Stern wird nie zum Richter, verbirgt aber auch nicht seine große Sympathie für die Mutigen und Aufrichtigen, die sich dem Nationalsozialismus entgegenstellten. "Ein ausgewogenes Urteil über die eigene Vergangenheit zu gewinnen ist nicht leicht", so schreibt er. Aber es ist gerade sein Bezug zu dieser eigenen Vergangenheit, die Stern zu einem außergewöhnlichen Historiker macht. Sein Anliegen, aus der Geschichte zu lernen, wird dadurch besonders glaubwürdig.

Die Nazizeit bedeutete das Ende von Jahrhunderte alter Blüte und Kultur jüdischen Lebens in Europa. So auch das Ende der Breslauer Tradition der Familie Stern. Deutschland hat mit der Vertreibung und Ermordung der deutschen Juden auch wesentliche Teile seiner eigenen kulturellen Identität, wesentliche Teile von sich selbst, ja, seiner Seele unwiederbringlich zerstört. Es waren Deutsche, Landsleute, die durch den deutschen Staat und die damalige Mehrheit ausgegrenzt, entrechtet, gedemütigt, enteignet, vertrieben und schließlich ermordet wurden. Wissenschaftler wie Albert Einstein, Literaten wie Lion Feuchtwanger, Regisseure wie Ernst Lubitsch -, ihre bahnbrechenden Leistungen wurden von den eigenen Landsleuten missachtet, sie selbst aus ihrem Vaterland vertrieben.

Diese Vertreibung und Ermordung der deutschen Juden riss eine menschliche und kulturelle Lücke, die bis heute nicht wieder geschlossen werden konnte, eine Wunde, die bis heute schmerzt. Gerade in Berlin, einstmals Zentrum jüdischen Geisteslebens in Europa, ist dies für mich mehr als ein anderen deutschen Städten zu spüren.

Hitlers Schreckensherrschaft, der zweite Weltkrieg und Deutschlands Selbstzerstörung und das Menschheitsverbrechen des Holocaust waren der Kulminationspunkt jener deutschen Katastrophe, die mit der "vertanen Chance" ihren Anfang nahm.

Fritz Sterns Anliegen als Historiker führt ihn geradezu zwangsläufig zum dritten Schwerpunkt seiner Forschungen. Stern befasst sich seit langer Zeit schon mit den deutschen Entwicklungen nach 1945. Er hat die Geschichte der Bundesrepublik immer begleitet und analysiert. Und seine Stimme wurde in Deutschland immer gehört. Seine Rede am 17. Juni 1987, wo er als erster Ausländer vor dem Deutschen Bundestag zum Tag der deutschen Einheit sprach, ist unvergessen. Seine Freude über die Wiedervereinigung sind uns ebenso im Gedächtnis wie seine mahnenden Hinweise über das Zusammenwachsen von Ost und West.

Stern hat früh die Schwierigkeiten gesehen, die die Überwindung der deutschen Teilung mit sich bringen würden. Vieles von dem, was er Anfang der 90er Jahre über die Deutschen in Ost und West geschrieben hat, ist eingetreten. Er hat die Wiedererlangung der staatlichen Einheit Deutschlands gleichzeitig aber immer als die Verwirklichung eines Traumes gesehen - eines Traumes, der auch ihm kaum mehr erfüllbar schien.

In diesem Zusammenhang hat Fritz Stern den Begriff der "zweiten Chance" geprägt. Deutschland habe jetzt, am Ende des 20. Jahrhunderts, eine neue Chance bekommen. Sie bestehe darin, dass Deutschland "seine Kraft, seinen Reichtum, sein Streben für den Frieden und die Vernunft einsetzt, dass es nicht nur rhetorisch Europa beschwört, sondern auch hilft, es realistisch zu verwirklichen."

Wir wollen, ja wir müssen diese zweite Chance heute nutzen. Zu Recht beschreibt Stern sie als "etwas Seltenes für ein Volk wie für den einzelnen; zugleich Geschenk und Herausforderung..." Diese Herausforderung gilt es zu bestehen.

Außenpolitisch heißt dies, dass wir dafür sorgen, die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union zum Erfolg zu führen. Erst dann haben wir die Teilung unseres Kontinents endgültig überwunden. Wir müssen gemeinsam mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern dazu beitragen, dass die Menschheitsprobleme in einer globalisierten Welt auf friedliche Weise gelöst werden. Diese enormen Herausforderungen können wir nur noch multilateral bewältigen.

Unsere Freundschaft zu Amerika spielt hier eine maßgebliche Rolle. Das hat Fritz Stern schon 1991 in seinem Essay "Die zweite Chance" dargelegt. Mögen sich die Vorzeichen nach dem Ende des Kalten Krieges auch geändert haben - das Bündnis ist wichtiger denn je - es ist ein "Gebot der Geschichte", wie Stern es selbst beschreibt.

Aber die zweite Chance muss auch im Inneren genutzt werden. Dies gilt vor allem für einen besonders wichtigen und sensiblen Bereich: Nämlich für unseren Umgang mit der jüdischen Bevölkerung in Deutschland.

Nach dem Menschheitsverbrechen des Holocaust grenzt es fast an ein Wunder, dass wir heute wieder ein reges jüdisches Leben in Deutschland verzeichnen können. Auch wenn es unwahrscheinlich scheint, dass die jüdische Gemeinden wieder einmal zu ihrem früheren Glanz zurückfinden werden - der Bau von Synagogen, die Gründung jüdischer Institutionen, jüdischer Geschäfte und Restaurants stimmt hoffnungsvoll. Und die Zahl von deutschen Jüdinnen und Juden wächst.

Aber wir müssen anhaltend wachsam sein. Immer noch müssen jüdische Einrichtungen besonders geschützt werden. Immer noch und immer wieder gibt es antisemitische Übergriffe. Sie müssen mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft werden. Regierung und Justiz in Deutschland müssen hier beweisen, wie ernst sie die zweite Chance nehmen. Erst wenn sich deutsche Juden, Juden in Deutschland, in unserer Demokratie sicher und in unserem Lande zu Hause fühlen können, erst dann dürfen wir sagen, dass wir die zweite Chance genutzt haben.

Lassen Sie mich abschließend noch einmal nach Berlin zurückkehren: Eine der meist besuchten Sehenswürdigkeiten ist das neue jüdische Museum der Stadt. Gebaut wurde es von Daniel Libeskind, dem Architekten, der im letzten Jahr die Leo-Baeck-Medaille erhielt. Geleitet wird es von Ihnen, lieber Michael Blumenthal. Auch Sie hat das Leo-Baeck-Institut mit seiner Medaille ausgezeichnet.

Die zerrissene Museumsarchitektur verdeutlicht eindrucksvoll das schwierige Verhältnis zwischen Deutschland und seinen Juden. Auf seinem Weg durch das Gebäude, der gleichzeitig ein Weg durch die tausendjährige jüdische Geschichte Deutschlands ist, stößt der Besucher unweigerlich auf Ecken und schroffe Kanten. Es ist ein lehrreicher, ein ernster Gang.

Unterlegt hat Libeskind die gebrochene Struktur des Baus mit einem breiten, schnurgeraden Korridor. Er nennt ihn die Achse der Kontinuität, die Fortdauer und Bestand des deutschen Judentums trotz aller Verfolgungen und Vertreibungen symbolisieren soll.

An dieser Achse müssen und werden wir weiterarbeiten - mit aller Kraft. Es ist auch Menschen wie Leo Baeck, wie Ihnen, verehrter Fritz Stern, und ihrer versöhnlichen und zuversichtlichen Botschaft zu verdanken, dass wir nach und trotz der unvorstellbarsten Barbarei des Nationalsozialismus und der Shoah wieder berechtigte Hoffnung haben, auch im heutigen, demokratischen Deutschland zu dieser Kontinuität beitragen zu können.

Lieber Professor Stern, bei uns in Deutschland wird Ihre Stimme mit großer Aufmerksamkeit gehört. Wir sind Ihnen dankbar für Ihre Analysen, Ihre Darlegungen, nicht zuletzt für Ihre Zuversicht.

Die Lehren aus der Geschichte - und besonders aus der deutschen Geschichte - zu ziehen, die Verantwortung auch als jüngere Generation auf uns zu nehmen, die diese schwierige Vergangenheit uns hinterlässt, dieses Anliegen von Ihnen teile ich von ganzem Herzen. Unsere "zweite Chance" muss genutzt werden.

Ich freue mich, dass das Leo-Baeck-Institut Ihnen die Leo-Baeck-Medaille für dieses Jahr zugedacht hat und gratuliere Ihnen zu dieser Auszeichnung.