Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Ursula von der Leyen,

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Zum 125. Jubiläum des Deutschen Vereins überbringe ich Ihnen herzliche Glückwünsche der Bundesregierung. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge ist meinem Ministerium wie auch der Bundesregierung stets ein engagierter, aber durchaus auch kritischer Begleiter gewesen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Sie haben mir deshalb mit Ihren klugen Worten aus der Seele gesprochen. Erlauben Sie mir, drei Aspekte, die Sie angesprochen haben, in diesem kurzen Grußwort zu vertiefen.

Erstens die Kinderlosigkeit in Deutschland.

Zweitens die Ausgrenzung der älteren Generation.

Drittens die wachsende Zahl der Kinder in unserem Land, die am Lebensanfang verkümmern.

Deutschland war unter anderem so lange eine so erfolgreiche Gesellschaft, weil Quellen da waren, von denen alle meinten, dass sie nie versiegen: die Familie, die Nachbarschaft und das Vereinsleben. Heute sorgen sich viele Menschen, dass wir unseren sozialen Zusammenhalt verlieren. Es ist die kostbare Balance zwischen Emanzipation und Hingabe, zwischen Selbstverwirklichung und Solidarität, zwischen Rechten und Pflichten, die aus dem Gleichgewicht gerät. In Bezug auf die junge Familie heißt das: das Gleichgewicht zwischen der Entfaltung der eigenen Talente in der Arbeitswelt und der Hingabe an Kinder. In Bezug auf die Generationen bedeutet es: Keine Generation darf der nächsten mehr zumuten, als sie selbst bereit ist zu tragen.

Diese Balance ist nicht Gott gegeben, sie muss täglich erneuert werden, und wenn sich die Welt ändert, dann müssen wir die politischen Rahmenbedingungen dahingehend ändern, dass wir dieses Gleichgewicht bewahren. Wie kann es möglich sein, dass wir hinnehmen, dass ein Drittel des Jahrganges 1965 kinderlos ist und die Hälfte aller jungen Menschen mit Hochschulabschluss?

Die Arbeitswelt verändert sich. Die klassische männliche Berufsbiographie, in der der junge Mann am Berufsanfang sicher weiß, dass er ein Leben lang ein steigendes Einkommen für sich und seine Familie verdienen wird, gibt es nicht mehr. Das mag man beklagen, aber es ist eine Tatsache. Frauen sind so gut ausgebildet wie nie zuvor. Sie haben freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Dies wird wohl keiner beklagen. Schließlich: Kinder brauchen die Mutter, aber sie brauchen auch den Vater. Und sie brauchen von beiden verlässlich Zuwendung, Zeit und Zärtlichkeit.

Wenn wir jungen Menschen signalisieren, dass sie wählen müssen zwischen Eltern sein oder einen Beruf haben, dann wählen sie zunehmend letzteres. Und dies ist nachvollziehbar. Wer hat schon den Mut, Kinder in die Welt zu setzen, wenn ihm gleichzeitig die Grundlage entzogen wird, diese Kinder zu ernähren und sie auszubilden? Mut zu Kindern, das setzt voraus, dass die Wirtschaft ihre Angst vor Erziehenden verliert und stattdessen erkennt, dass 70 Prozent der sozialen und emotionalen Kompetenzen, die gerade die Wirtschaft braucht, in Familie und Ehrenamt erworben werden. Ich spreche von Empathie, mehrdimensionalem Denken, Belastbarkeit, Organisationsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft. Kinder, die mit zufriedenen, motivierten Eltern aufwachsen, werden diese Welt eher als vertrauenswürdig und als Entdeckerwerkstatt erleben.

Investitionen in Kinder und Familien sind Investitionen für einen leistungs- und innovationsfähigen Wirtschaftsstandort. Dies liegt in der Verantwortung der Wirtschaft. Familien brauchen, wenn sie einmal da sind, vor allem drei Dinge: Zeit, eine unterstützende Infrastruktur und Geld. Und hier liegt die Verantwortung der Politik. Deshalb hat die neue Bundesregierung einen Schwerpunkt gesetzt. Der Ausbau der Kinderbetreuung wird auf einer gesicherten finanziellen Basis vorangetrieben und ein Elterngeld wird eingeführt, um den Einkommenseinbruch nach der Geburt eines Kindes aufzufangen.

  • Zum ersten Mal ist dann eine junge Frau, die sich für ein Kind entscheidet, auch wenn der Kindsvater sie deswegen verlässt, nicht mehr mittellos im ersten Lebensjahr des Kindes, sondern sie hat zwei Drittel ihres Einkommens.
  • Zum ersten Mal steht das Ehepaar – er Malergeselle, sie Arzthelferin – bei der Geburt eines Kindes nicht mehr in der Situation, dass ein Einkommen wegfällt, obwohl die Familie wächst.
  • Zum ersten Mal hat ein Vater in der Elternzeit weiterhin ein Einkommen. Gleiches gilt für die Mutter. Dies ist unsere soziale Verantwortung für die junge Familie. Der Deutsche Verein hat hier so manche Bresche geschlagen. Dafür danke ich Ihnen.

Der zweite Gedanke, den ich hier vertiefen möchte und der eng mit der Arbeit des Deutschen Vereins verwoben ist, ist der älteren Generation gewidmet. Wenn Familie da ist, umfasst sie Kinder und Eltern und Großeltern. Der familienpolitische Horizont muss auf die Mehrgenerationenfamilie ausgeweitet. Die Öffnung des Horizontes geschieht nicht nur aus menschlichen und emotionalen Gründen, sondern weil sich nur mit diesem Blick ganz handfeste Chancen nutzen und Probleme lösen lassen. Es gab noch nie so viele alte Menschen, die über so einen Reichtum an Erfahrung, Gesundheit, Zeit und Bildung verfügen. Dennoch scheint es, als hätten diese Gesellschaft keine Erwartungen oder Angebote mehr an diese älteren Menschen. Diesem Vakuum möchte mit dem Gedanken der Mehrgenerationenhäuser entgegentreten. Familie ist ja der Ort, wo Alltagssolidaritäten gelebt werden.

Das Geben und Empfangen von Alltagssolidaritäten kann sich aber heute nicht mehr alleine auf die genetische Familien beschränken. Alltagssolidaritäten können vielmehr, richtig bedacht und sorgfältig gestaltet, jene verbinden, die Kinder haben, und jene, die keine Kinder haben. Die Beziehungen zwischen beiden Gruppen sollten dabei nicht nur auf finanzielle Dinge verkürzt werden. Jeder Mensch hat doch Familie, alle haben zumindest eine Herkunfts- und viele eine eigene Zukunftsfamilie.

Wenn Familie aber bunter, kleiner, mit verschiedenen Vätern und Müttern und räumlich stärker voneinander getrennt ist, dann müssen wir Räume schaffen, in denen Erziehungswissen, Alltagssolidaritäten und Kulturtechniken zwischen den Generationen gegeben und genommen werden können. Die Mehrgenerationenhäuser werden ein Angebot sein, wie sich Familien und entsprechende Einrichtungen, zum Beispiel Mütterzentren, Altentreffs oder Krabbelgruppen unter einem Dach in die Nachbarschaft hinein öffnen können und wie aus der lokalen Gesellschaft auch jene „eingeladen“ werden können, sich für Familienwelten zu engagieren, die keine Kinder haben oder deren Kinder weit entfernt leben. Es ist neu, dass mehr Außenwelt in den Binnenraum der Familie kommt. Diese Entwicklung wird dann kein Schaden, sondern ein Gewinn für alle sein, wenn gleichsam im Gegenzug mehr Familienwerte in die Gesellschaft kommen.

Schließlich möchte ich unsere gemeinsame Verantwortung für die Kinder ansprechen, die auf der Schattenseite des Lebens geboren werden. Es wachsen zunehmend Kinder in seelischer und körperlicher Vernachlässigung auf. Hier müssen wir am Anfang des Lebens dieser Kinder uns viel stärker kümmern. Denn wir wissen inzwischen aus der modernen Hirnforschung, dass ein Kind in den ersten Lebensjahren die Grundlage dafür erwirbt, welche Strategien ihm zur Bewältigung der vielfältigen Anforderungen des Lebens zur Verfügung stehen. Entscheidend ist dabei die Erfahrung einer verlässlichen Beziehung, die Entwicklung von Vertrauen. Dann kennt das Kind seinen sicheren Hafen und kann über sich hinauswachsen.

Wenn Kinder in einem Raum der Erziehungsohnmacht, der Vernachlässigung und der emotionalen Kälte geboren werden, dann dürfen wir nicht länger wegschauen, sondern müssen uns kümmern. Wir werden ein Bundesmodellprojekt zur Frühförderung sozial stark benachteiligter Kinder schaffen. Die einzelnen Schritte dazu aufzuzeigen, dafür fehlt mir heute die Zeit. Aber die Instrumente, die Erfahrung und die Strukturen dafür liegen in weiten Teilen im originären Arbeitsfeld des Deutschen Vereins. Hier bitte ich Sie um Ihre Hilfe. Wohlwissend, dass man bei einem Geburtstag eigentlich mit Geschenken und nicht als Nehmende kommen sollte.

Verantwortung wird zum Schlüsselbegriff für die Zukunft: Gemeint ist die Verantwortung für einander, die Verantwortung für diejenigen, die uns den Weg ins Leben geebnet haben und die Verantwortung für das Wohl der kommenden Generationen. Diese gemeinsame Verantwortung lege ich Ihnen heute ans Herz, weil ich sie bei Ihnen gut aufgehoben weiß.