Rede der Bundesministerin des Innern und für Heimat, Nancy Faeser,

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Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren!

Sehr geehrter Herr Dainow, sehr geehrter Herr Botschafter, schön, dass Sie heute dieser Debatte hier folgen. Heute vor 84 Jahren setzten staatlich organisierte Schlägertrupps jüdische Gotteshäuser und Geschäfte in Brand. Tausende von Jüdinnen und Juden wurden aus ihren Wohnungen gezerrt, öffentlich gequält und gedemütigt, verhaftet, getötet. Es war der Beginn des größten Massen- und Völkermords in unserer Geschichte.

Diese barbarischen Taten fanden in ganz Deutschland für alle sichtbar statt, unter dem Gejohle von Anwohnern und Nachbarn. Es gab, bis auf Einzelfälle, keine Gegenwehr oder Unterstützung für die jüdischen Nachbarn. Sie waren der Gewalt schutzlos ausgeliefert. Familien, die über Generationen geschätzte und verdiente Bürgerinnen und Bürger waren, wurden ausgestoßen, misshandelt, ermordet. Die Nacht des 9. November 1938 bleibt für immer eine Nacht der Schande für unser Land. Sie war der Beginn des größten Zivilisationsbruchs. Die Erinnerung daran darf niemals verblassen. Sie ist der Auftrag, dass sich so etwas niemals wiederholen darf. Sie mahnt uns, dass wir Antisemitismus immer und mit aller Kraft überall entgegentreten müssen.

Der Antisemitismus ist aber weder 1945 verschwunden, noch ist er, wie manche behaupten, erst durch Zuwanderung wieder hierhergekommen. Nein, er war immer da, und zwar nicht nur an den Rändern, sondern leider auch mitten in unserer Gesellschaft. Das zeigen uns Studien und Erhebungen immer wieder sehr klar.

Seit Jahren verzeichnen wir einen kontinuierlichen Anstieg antisemitischer Straftaten. Oft sind es sogenannte Volksverhetzungsdelikte. Aber dass aus Worten Taten folgen können, hat uns der furchtbare Anschlag auf die Synagoge in Halle sehr bitter vor Augen geführt. Ich will persönlich hinzufügen: Ich schäme mich dafür, dass in diesem Land jüdische Kindertagesstätten und Schulen noch immer polizeilich bewacht werden müssen. Wir müssen alles dafür tun, dass das nicht mehr nötig ist.

Der antisemitische Verschwörungswahn hat während der Coronapandemie leider Zulauf bekommen, und antisemitische Stereotype tauchen auch in vermeintlich aufgeklärten Milieus immer wieder auf. Das konnten wir gerade erst auf der Documenta in Kassel schmerzvoll beobachten.

Klar ist: Antisemitismus bedroht nicht allein Juden, er bedroht uns alle. Dieser Satz kann schnell wie eine Plattitüde wirken, aber er bringt es auf den Punkt; denn der Antisemitismus ist ein Feind aller Jüdinnen und Juden und zugleich der Feind aller Demokratinnen und Demokraten in unserem Land.

Die Bekämpfung von Antisemitismus muss uns allen ein Anliegen sein; denn Antisemitismus ist niemals harmlos, egal ob er aus dem rechtsextremen, dem linksextremen oder dem islamistischen Milieu stammt, egal ob er an einem Stammtisch oder in einer Moschee verbreitet wird oder ob es sich um israelfeindlichen Antisemitismus handelt. Hier möchte ich, weil er 50 Jahre her ist, an den furchtbaren Anschlag bei den Olympischen Spielen 1972 erinnern, dessen wir dieses Jahr gedacht haben. Ich denke, dass es ganz wichtig ist, auch dieses herausragend schlimme Ereignis für Jüdinnen und Juden an einem solchen Tag in Erinnerung zu rufen.

Wir werden deshalb nicht müde, jede Form von Antisemitismus entschlossen zu bekämpfen. Dabei gehören an erster Stelle die politische Bildung, die Präventionsarbeit, die von klein auf passieren muss, und das entschlossene Handeln unserer Sicherheitsbehörden eng verzahnt zusammen. Alle diese drei Maßnahmen müssen immer ineinandergreifen, und das ist auch der Kern unseres Aktionsplans gegen Rechtsextremismus. Zusätzlich erarbeiten wir gerade die erste nationale Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Diese Strategie wird ein Werkzeug sein, um Antisemitismus noch besser und zielgerichteter zu bekämpfen.

Glücklicherweise gibt es in Deutschland eine starke und lebendige Zivilgesellschaft, die mit Engagement und Beharrlichkeit die Arbeit gegen Antisemitismus unterstützt. All den engagierten Menschen gilt dafür mein ausdrücklicher Dank; denn sie leisten wirklich Hervorragendes in der Bekämpfung dieses furchtbaren, judenfeindlichen Handelns und von Hass und Hetze. Diese Menschen, von denen viele das in ihrer Freizeit tun, aber auch die NGOs, die da engagiert sind, brauchen dafür eine verlässliche Unterstützung und Finanzierung des Staates. Deshalb werden wir noch dieses Jahr das Demokratiefördergesetz auf den Weg bringen.

Heute geht es zuallererst darum, dass wir der Millionen Opfer gedenken und uns ihrer erinnern. Und doch hört man immer wieder, das sei doch gar nicht mehr nötig. Bei einem Drittel der Bevölkerung hören wir das in Umfragen. Das erschüttert mich sehr, und es muss uns wachrütteln, dass wir etwas für das aktive Erinnern tun müssen. Wer so argumentiert hat den Sinn und Zweck von Erinnern nämlich nicht verstanden. Es geht darum – so hat es Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, gesagt –, „dass auch die nachfolgenden Generationen lernen, wozu Menschen fähig sind. Sie sollen verstehen, warum in unserem Staat die Achtung der Menschenwürde und der Schutz von Minderheiten so wichtig genommen werden“. Das darf ich auch sagen: Wer in diesem Zusammenhang von einem „Vogelschiss“ oder einer „Auschwitz-Keule“ spricht, verhöhnt die Opfer der Shoah. Das werden wir in diesem Land nicht zulassen.

Wir werden nie vergessen, und wir werden alles tun, damit so etwas, was sich in diesem Land so furchtbar durch Menschen ereignet hat, durch Menschen, die das bewusst getan haben, nie wieder in unserem Land passieren kann. Dazu gehört aktives Handeln des Rechtsstaates, aber auch eine herausragende Erinnerungskultur. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.