Rede der Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock,

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Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher!

Frauen, die im gnadenlosen Beschuss von Wasserwerfern stehen, die sich ihre Kopftücher abreißen, die singen: „Frauen, Leben, Freiheit“. Auch wenn das Internet jetzt abgeschaltet ist: Wir sehen und wir hören diese Frauen; Frauen, die sich mutig dem scheinbar so mächtigen iranischen Sicherheitsapparat entgegenstellen. Und all die Knüppel und das Tränengas sind alles andere als ein Ausdruck von Macht und Stärke. Aus dieser schieren Gewalt des iranischen Systems spricht pure Furcht. Denn nichts fürchten jene, die mit betäubender Gewalt regieren, mehr, als dass Frauen gemeinsam auf die Straße gehen und ihre Stimme erheben. Und diese Stimme lässt sich nicht einfach niederknüppeln. Sie lässt sich auch nicht abschalten, indem man den Zugang zum Internet kappt. Nein, diese Stimme schallt laut und weit über den Iran hinaus.

Es ist auch die Stimme von Mahsa Amini. Aminis Familie rief Mahsa bei ihrem kurdischen Namen „Jina“, das heißt: Leben. Auf ihren Grabstein haben ihre Eltern schreiben lassen – ich zitiere –: Du bist nicht gestorben, dein Name ist ein Aufruf. – Und diesem Aufruf folgen so viele: im Netz, auf der Straße gestern in Berlin. – Danke.

Und wir folgen ihm heute hier im Deutschen Bundestag mit den politischen Mitteln, die wir als Politikerinnen und Politiker, als Abgeordnete unseres Landes und auch als Bundesregierung haben. Ich habe daher den Botschafter einbestellt, und wir haben am Montag für die Bundesrepublik Deutschland im Menschenrechtsrat in Genf ganz klar deutlich gemacht: Die iranischen Behörden müssen ihr brutales Vorgehen gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten unverzüglich einstellen. Der Tod von Jina Mahsa Amini und der vielen weiteren Menschen, die bei den Demonstrationen getötet wurden, gehört dringend aufgeklärt.

Im Kreis der EU-Staaten tue ich gerade alles dafür, dass wir Sanktionen auf den Weg bringen können – gerade jetzt, wo wir weiter über den Joint Comprehensive Plan of Action verhandeln – gegen diejenigen im Iran, die ohne Rücksicht Frauen im Namen der Religion zu Tode prügeln, Demonstranten erschießen. Und ich sage hier auch ganz deutlich: Das ist keine Einmischung in die Belange eines anderen Landes. Nein, hierzu hat sich der Iran wie jedes Land auf der Welt verpflichtet, unter anderem im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte.

Bei allem Respekt vor kulturellen und religiösen Unterschieden: Wenn die Polizei, wie es scheint, eine Frau zu Tode prügelt, weil sie aus Sicht der Sittenwärter ihr Kopftuch nicht richtig trägt, dann hat das nichts, aber auch gar nichts mit Religion oder Kultur zu tun. Dann ist das schlicht ein entsetzliches Verbrechen.

Es ist wichtig, dass wir heute fraktionsübergreifend dieses Verbrechen so klar benennen. Denn ja, das ist deutsche Außenpolitik. Das ist deutsche wertegeleitete, feministische Außenpolitik. Ich möchte an dieser Stelle aber auch deutlich sagen: Eine wertegeleitete, feministische Außenpolitik bemisst sich für mich als Politikerin nicht daran, wie laut oder oft man twittert, sondern eine wertegeleitete Außenpolitik ist oftmals mühevolle, harte Arbeit hinter den Kulissen; denn es bedeutet vor allen Dingen, Strukturen – sexistische Machtstrukturen – aufzubrechen.

Der feige Mord an Jina Mahsa Amini ist kein Einzelfall, sondern er ist Ausdruck eines Systems, eines Machtsystems, das auf Gewalt gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern, auf Gewalt gegenüber seinen regionalen Nachbarn – im Zweifel auch mit Nuklearwaffen –, aber eben auch auf einem System der Erniedrigung und Gewalt gegenüber Frauen basiert. Und diese Machtsysteme, die auf sexuelle Gewalt und auf Erniedrigung aufgebaut sind, finden wir leider auch an anderen Orten dieser Welt. Diesen Machtsystemen ist inhärent, dass sie wissen: Wenn Frauen nicht sicher sind, dann weiß jeder im Land, dass niemand sicher ist. Und umgekehrt gilt: Wenn Frauen sicher sind, dann ist jeder sicher in einer Gesellschaft.

In diesem Sinne, liebe Unionskolleginnen, danke ich für Ihren Brief, den 19 von Ihnen an mich geschrieben haben und in dem Sie mich zu mehr Einsatz für Frauenrechte auffordern. Ich nehme ihn als Ausdruck dessen, liebe Frau Güler, liebe Frau Schön, liebe Frau Klöckner und die anderen, dass Ihr Parteivorsitzender seine Aussage zum „Sozialtourismus“ nicht nur korrigiert hat, sondern dass die Union uns alle aktiv dabei unterstützt, dass feministische Außenpolitik mehr ist als nur eine kurze emphatische Geste, dass wir gemeinsam, so wie mit dieser Aktuellen Stunde, bereit sind, Strukturen zu verändern, auch bei uns, dass sich die Frauen im Iran – ebenso wie die ukrainischen Frauen – darauf verlassen können, dass unsere Solidarität trägt, auch wenn sie uns selbst etwas abverlangt, dass sie sich darauf verlassen können, dass unsere Solidarität trägt, wenn diese Frauen nicht mehr überall in den Nachrichten sind, dass wir gemeinsam froh – ich würde für mich persönlich sagen: auch stolz darauf – sind, dass wir zu Beginn dieses furchtbaren Russland-Krieges „diese Flüchtlinge“, wie manche sie nennen, nicht nur aufgenommen, sondern dass wir sie mit offenen Armen empfangen haben, dass wir unsere Gesellschaft und auch unsere Sozialsysteme für Hunderttausende Europäerinnen und Europäer aus der Ukraine geöffnet haben. Denn nur so können und konnten Kommunen, Lehrer, Nachbarn, Familien von Tag eins an alles dafür tun, dass bis zum heutigen Tag 465.054 Frauen und 352.467 Kinder ein Stück Sicherheit, aber eben auch ein Stück Zuhause bekommen haben. Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich, weil feministische Außenpolitik mehr ist als Einzelfälle: Ja, es hilft all diesen Frauen und Kindern, so wie es allen anderen hilft, die Schutz bei uns suchen, Kontakt nach Hause zu halten.

Mich lässt ein Satz in diesem Krieg nicht mehr los, ein Satz eines Mädchens, das elf Jahre alt ist, aus einer Schule in Potsdam. Sie sagte bei einem der Schulbesuche zu mir: „Frau Baerbock, Sie kennen doch Herrn Selenskyj. Können Sie ihm bitte sagen, dass ich meinen Papa wiedersehen möchte?“ Und ich war so froh, als ich diesen Sommer hörte, dass sie für drei Wochen in die Ukraine fuhr, um ihren Vater nach 176 Tagen endlich wieder in die Arme zu nehmen. Aber nichts hat mich, ehrlich gesagt, mehr erleichtert als das, als ich gehört habe, dass sie mit ihrer Mutter und ihrem einjährigen Bruder zurückgekommen ist, denn ihr Zuhause ist die Oblast Saporischschja. Nicht alles ist derzeit besetzt, aber ihr Ort ist nahe an der Frontlinie.

Ja, Hundertausende werden hin- und herreisen zwischen der Ukraine und Deutschland, bis ihr Land wieder in Frieden leben kann. Und wir werden ihnen unsere Unterstützung geben, solange sie sie brauchen; denn für mich bedeutet feministische Außenpolitik, auch dann Solidarität zu zeigen, wenn einem der Wind entgegenbläst. Das gilt nicht nur für unsere ukrainischen Nachbarn. Nun fragen Sie, warum ich über die Ukraine rede. Auch die Frauen im Iran müssen sich darauf verlassen können, dass wir nicht nur jetzt an ihrer Seite stehen, sondern auch morgen und übermorgen, wenn der Wind sich bei ihnen oder auf der Welt weitergedreht hat. Unsere Solidarität gilt den Frauen in Afghanistan, in Belarus und im Iran. Denn so furchtbar der Tod von Jina und die Niederschlagung der Proteste im Iran ist: Das ist kein Einzelfall. Jina Mahsa Amini, du bist nicht gestorben. Dein Name ist Aufruf, und zwar weltweit.

Danke schön.