Offizieller Besuch des Bundeskanzlers in der Tschechischen Republik am 21. und 22. Januar 1997

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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl stattete der Tschechischen Republik am 21. und
22. Januar 1997 einen offiziellen Besuch ab.

Am 21. Januar 1997 unterzeichneten Bundeskanzler
Dr. Helmut Kohl und der Ministerpräsident der Tschechischen Republik, Prof.
Václav Klaus, folgende Gemeinsame Erklärung:


Deutsch-Tschechische Erklärung
über die gegenseitigen Beziehungen
und deren künftige Entwicklung

Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland
und der Tschechischen Republik

– eingedenk des Vertrags vom 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über
gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, mit dem Deutsche und
Tschechen einander die Hand gereicht haben,

in Würdigung der langen Geschichte fruchtbaren und friedlichen Zusammenlebens
von Deutschen und Tschechen, in deren Verlauf ein reiches kulturelles Erbe
geschaffen wurde, das bis heute fortwirkt,

in der Überzeugung, daß zugefügtes Unrecht nicht ungeschehen gemacht, sondern
allenfalls gemildert werden kann, und daß dabei kein neues Unrecht entstehen
darf,

im Bewußtsein, daß die Bundesrepublik Deutschland die
Aufnahme der Tschechischen Republik in die Europäische Union und die
Nordatlantische Allianz nachdrücklich und aus der Überzeugung heraus
unterstützt, daß dies im gemeinsamen Interesse liegt,

im Bekenntnis zu Vertrauen und Offenheit in den beiderseitigen Beziehungen als
Voraussetzung für dauerhafte und zukunftsgerichtete Versöhnung –

erklären gemeinsam:

I

Beide Seiten sind sich ihrer Verpflichtung und Verantwortung bewußt, die
deutsch-tschechischen Beziehungen im Geiste guter Nachbarschaft und
Partnerschaft weiter zu entwickeln und damit zur Gestaltung des
zusammenwachsenden Europas beizutragen.

Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechische
Republik teilen heute gemeinsame demokratische Werte, achten die
Menschenrechte, die Grundfreiheiten und die Normen des Völkerrechts und sind
den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und einer Politik des Friedens
verpflichtet. Auf dieser Grundlage sind sie entschlossen, auf allen für die
beiderseitigen Beziehungen wichtigen Gebieten freundschaftlich und eng
zusammenzuarbeiten.

Beide Seiten sind sich zugleich bewußt, daß der gemeinsame Weg in die Zukunft
ein klares Wort zur Vergangenheit erfordert, wobei Ursache und Wirkung in der
Abfolge der Geschehnisse nicht verkannt werden dürfen.

II

Die deutsche Seite bekennt sich zur Verantwortung Deutschlands für seine Rolle
in einer historischen Entwicklung, die zum Münchner Abkommen von 1938, der
Flucht und Vertreibung von Menschen aus dem tschechoslowakischen Grenzgebiet
sowie zur Zerschlagung und Besetzung der Tschechoslowakischen Republik geführt
hat.

Sie bedauert das Leid und das Unrecht, das dem tschechischen Volk durch die
nationalsozialistischen Verbrechen von Deutschen angetan worden ist. Die
deutsche Seite würdigt die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und
diejenigen, die dieser Gewaltherrschaft Widerstand geleistet haben.

Die deutsche Seite ist sich auch bewußt, daß die national-sozialistische
Gewaltpolitik gegenüber dem tschechischen Volk dazu beigetragen hat, den Boden
für Flucht, Vertreibung und zwangsweise Aussiedlung nach Kriegsende zu
bereiten.

III

Die tschechische Seite bedauert, daß durch die nach dem Kriegsende erfolgte
Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der
damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen
Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des
kollektiven Charakters der Schuldzuweisung. Sie bedauert insbesondere die
Exzesse, die im Widerspruch zu elementaren humanitären Grundsätzen und auch
den damals geltenden rechtlichen Normen gestanden haben, und bedauert darüber
hinaus, daß es aufgrund des Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946 ermöglicht wurde,
diese Exzesse als nicht widerrechtlich anzusehen, und daß infolge dessen diese
Taten nicht bestraft wurden.

IV

Beide Seiten stimmen darin überein, daß das begangene Unrecht der
Vergangenheit angehört und werden daher ihre Beziehungen auf die Zukunft
ausrichten. Gerade deshalb, weil sie sich der tragischen Kapitel ihrer
Geschichte bewußt bleiben, sind sie entschlossen, in der Gestaltung ihrer
Beziehungen weiterhin der Verständigung und dem gegenseitigen Einvernehmen
Vorrang einzuräumen, wobei jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt
und respektiert, daß die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat. Beide
Seiten erklären deshalb, daß sie ihre Beziehungen nicht mit aus der
Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden.

V

Beide Seiten bekräftigen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 20 und 21 des
Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 27.
Februar 1992, in denen die Rechte der Angehörigen der deutschen Minderheit in
der Tschechischen Republik und von Personen tschechischer Abstammung in der
Bundesrepublik Deutschland im einzelnen niedergelegt sind.

Beide Seiten sind sich bewußt, daß diese Minderheit und diese Personen in den
beiderseitigen Beziehungen eine wichtige Rolle spielen und stellen fest, daß
deren Förderung auch weiterhin im beiderseitigen Interesse liegt.

VI

Beide Seiten sind überzeugt, daß der Beitritt der Tschechischen Republik zur
Europäischen Union und die Freizügigkeit in diesem Raum das Zusammenleben von
Deutschen und Tschechen weiter erleichtern wird.

In diesem Zusammenhang geben sie ihrer Genugtuung Ausdruck, daß aufgrund des
Europaabkommens über die Assoziation zwischen der Tschechischen Republik und
den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten wesentliche
Fortschritte auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Zusammenarbeit einschließlich
der Möglichkeiten selbständiger Erwerbstätigkeit und unternehmerischer
Tätigkeit gemäß Artikel 45 dieses Abkommens erreicht worden sind.

Beide Seiten sind bereit, im Rahmen ihrer geltenden Rechtsvorschriften bei der
Prüfung von Anträgen auf Aufenthalt und Zugang zum Arbeitsmarkt humanitäre und
andere Belange, insbesondere verwandtschaftliche Beziehungen und familiäre und
weitere Bindungen, besonders zu berücksichtigen.

VII

Beide Seiten werden einen deutsch-tschechischen Zukunftsfonds errichten. Die
deutsche Seite erklärt sich bereit, für diesen Fonds den Betrag von 140
Millionen D-Mark zur Verfügung zu stellen. Die tschechische Seite erklärt sich
bereit, ihrerseits für diesen Fonds den Betrag von 440 Millionen Kc zur
Verfügung zu stellen. Über die gemeinsame Verwaltung dieses Fonds werden beide
Seiten eine gesonderte Vereinbarung treffen.

Dieser gemeinsame Fonds wird der Finanzierung von Projekten gemeinsamen
Interesses dienen (wie Jugendbegegnung, Altenfürsorge, Sanatorienbau und
-betrieb, Pflege und Renovierung von Baudenkmälern und Grabstätten,
Minderheitenförderung, Partnerschaftsprojekte, deutsch-tschechische
Gesprächsforen, gemeinsame wissenschaftliche und ökologische Projekte,
Sprachunterricht, grenzüberschreitende Zusammenarbeit).

Die deutsche Seite bekennt sich zu ihrer Verpflichtung und Verantwortung
gegenüber all jenen, die Opfer nationalsozialistischer Gewalt geworden sind.
Daher sollen die hierfür in Frage kommenden Projekte insbesondere Opfern
nationalsozialistischer Gewalt zugute kommen.

VIII

Beide Seiten stimmen darin überein, daß die historische Entwicklung der
Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen insbesondere in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts der gemeinsamen Erforschung bedarf und treten daher für
die Fortführung der bisherigen erfolgreichen Arbeit der deutsch-tschechischen
Historikerkommission ein.

Beide Seiten sehen zugleich in der Erhaltung und Pflege des kulturellen Erbes,
das Deutsche und Tschechen verbindet, einen wichtigen Beitrag zum
Brückenschlag in die Zukunft.

Beide Seiten vereinbaren die Einrichtung eines deutsch-tschechischen
Gesprächsforums, das insbesondere aus den Mitteln des deutsch-tschechischen
Zukunftsfonds gefördert wird und in dem unter der Schirmherrschaft beider
Regierungen und Beteiligung aller an einer engen und guten
deutsch-tschechischen Partnerschaft interessierten Kreise der
deutsch-tschechische Dialog gepflegt werden soll.



Prag, den 21. Januar 1997

Für die Regierung der Für die Regierung der
Bundesrepublik Deutschland Tschechischen Republik

Dr. Helmut Kohl
Prof. Václav Klaus
Dr. Klaus Kinkel Josef Zieleniec