im bewusstsein nationaler verantwortung - erklaerungen des bundeskanzlers in berlin und bonn

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bundeskanzler dr. helmut kohl hat seinen offiziellen
besuch in der volksrepublik polen fuer einen tag vom
10. bis 11. november 1989 wegen der ereignisse in berlin
und der ddr (vgl. bulletin nr. 124 vom 10. november
1989) unterbrochen und flog von warschau nach berlin
und bonn.

ein historischer tag fuer berlin und deutschland

bundeskanzler dr. helmut kohl hielt auf einer
grosskundgebung vor dem schoeneberger rathaus in berlin
am 10. november 1989 folgende rede:

liebe berlinerinnen und berliner,
liebe landsleute in der ddr und in der bundesrepublik deutschland!

hier auf diesem platz vor dem schoeneberger rathaus sind
seit ueber 40 jahren berlinerinnen und berliner
zusammengekommen, um fuer den frieden und fuer die freiheit
dieser stadt zu demonstrieren.
sie sind gekommen, um immer wieder die botschaft des
friedens, die botschaft des guten willens, die botschaft der
bereitschaft zum miteinander deutlich werden zu lassen.
heute ist ein grosser tag in der geschichte dieser stadt, und
heute ist ein grosser tag in der deutschen geschichte. wir
alle haben fuer diesen tag gearbeitet. wir haben ihn
herbeigesehnt.
wir sehen die bilder vom brandenburger tor - bilder von
ueberall, wo in diesen stunden menschen aus der ddr zu
uns kommen koennen und die buerger dieser stadt und die
buerger unserer bundesrepublik deutschland in den anderen
teil deutschlands gehen koennen: ohne kontrolle, ohne
staatliche gewalt, ihrem freien willen entsprechend.
wir sollten auch in dieser stunde auf diesem platz an die
vielen denken, die ihr leben an der mauer liessen. wir sollten
dies tun in einem augenblick, in dem diese mauer endlich
faellt.
meine damen und herren, liebe berlinerinnen und berliner,
wir alle stehen jetzt in einer grossen bewaehrungsprobe. wir
haben in diesen tagen von unseren landsleuten drueben in
der ddr, in ost-berlin, in leipzig und dresden und in vielen
staedten immer wieder eine botschaft der besonnenheit
erfahren - eine botschaft, die sagt, dass es in dieser
gluecklichen, aber auch schwierigen stunde in der geschichte
unseres volkes wichtig ist, besonnen zu bleiben und klug zu
handeln.
klug handeln heisst, radikalen parolen und stimmen nicht zu
folgen. klug handeln heisst jetzt, die ganze dimension der
weltpolitischen, der europaeischen und der deutschen
entwicklung zu sehen.
wer wie wir, die wir gerade aus warschau hierhergekommen
sind, erleben konnte, was der reformprozess in ungarn
und in polen moeglich gemacht hat, der weiss, dass es jetzt
gilt, mit bedachtsamkeit, schritt fuer schritt, den weg in die
gemeinsame zukunft zu finden.
denn es geht um unsere gemeinsame zukunft, es geht
um die freiheit vor allem fuer unsere landsleute in der ddr
in allen bereichen ihres lebens.
die menschen in der ddr haben ein recht auf freie
meinungsaeusserung, auf eine wirklich freie presse, auf freie
bildung von gewerkschaften, auf freie gruendung von
parteien und ganz selbstverstaendlich, wie es der charta der
vereinten nationen und den menschenrechten entspricht,
auf freie, gleiche und geheime wahlen.
unsere landsleute sind dabei, sich diese freiheiten selbst
zu erkaempfen, und sie haben dabei unsere volle
unterstuetzung. und ich appelliere auch von dieser stelle - wie
am mittwoch im deutschen bundestag - an die
verantwortlichen in der ddr:
verzichten sie jetzt auf ihr machtmonopolue reihen sie sich
ein in jenen reformgeist, der heute in ungarn, in polen die
zukunft dieser voelker sichertue geben sie den weg frei fuer
die herrschaft des volkes durch das volk und fuer das
volk!
meine damen und herren, ich bekenne hier erneut fuer die
bundesrepublik deutschland, dass wir bereit sind, im
rahmen des uns moeglichen diesen prozess zu unterstuetzen.
eine ddr, die voranschreitet in den reformen mit dem ziel
der freiheit, der konkreten hilfe fuer die menschen in allen
bereichen der gesellschaft, unterstuetzen wir ganz
selbstverstaendlich aus unserer moralischen verpflichtung fuer
die einheit unserer deutschen nation heraus.
ich bin sicher: wenn diese reformen eintreten und wenn die
ddr auf diesem weg weitergeht, dann werden auch unsere
landsleute dort, die sich jetzt mit dem gedanken tragen, die
ddr zu verlassen, in ihrer angestammten heimat bleiben.
sie wollen zu hause ihr glueck finden. und viele von denen,
die in diesen tagen den weg zu uns fanden, werden bereit
sein, bei der neugestaltung ihrer eigentlichen heimat
mitzuhelfen.
wir, die buergerinnen und buerger in der bundesrepublik
deutschland, wollen sie dabei von herzen unterstuetzen.
niemand darf dabei abseits stehen. die bilder dieser
wochen und tage zeigen uns unsere pflicht.
und so will ich allen in der ddr zurufen: ihr steht nicht
alleinue wir stehen an eurer seiteue wir sind und bleiben eine
nation, und wir gehoeren zusammen!
wir sind dankbar, dass uns auf diesem weg unsere freunde
und partner in der welt helfen, dass sie uns unterstuetzen,
dass sie mit uns solidarisch sind.
wir danken unseren amerikanischen, britischen und franzoesischen
freunden fuer ihre unterstuetzung und solidaritaet, die
fuer die freiheit des freien teils berlins in den letzten
jahrzehnten existentiell waren. ohne ihre standfestigkeit
haetten wir diesen tag heute so nicht erlebt.
unser respekt gehoert generalsekretaer michail gorbatschow,
der sich mit uns gemeinsam in der bonner erklaerung vom
13. juni ausdruecklich zum selbstbestimmungsrecht der
voelker bekannt hat.
berlinerinnen und berliner, der geist der freiheit erfasst
heute ganz europa: polen, ungarn und jetzt die ddr. das
recht auf selbstbestimmung ist ein grundrecht des
menschen und der voelker. wir fordern dieses recht fuer alle
in europa. wir fordern es fuer alle deutschen.
ich appelliere in dieser stunde an alle unsere landsleute,
dass wir jetzt im herzen eins sein wollen, miteinander
solidarisch die zukunft gestalten, jetzt zusammenstehen und
gemeinsam die hilfe denen gewaehren, die hilfe brauchen.
wir wollen diesen weg gehen mit heissem herzen und mit
kuehlem verstand.
es geht um deutschland, es geht um einigkeit und recht
und freiheit. es lebe ein freies deutsches vaterlandue es lebe
ein freies, einiges europa!

bewaehrungsprobe fuer alle deutschen in ost und west

bundeskanzler dr. helmut kohl gab im anschluss an die
sondersitzung des bundeskabinetts am 11. november
1989 vor der bundespressekonferenz in bonn folgende
einleitende erklaerung ab:

herr vorsitzender, meine sehr verehrten damen und herren!
ich habe fuer heute frueh das bundeskabinett zu einer sitzung
einberufen - im bewusstsein der besonderen nationalen
verantwortung, die uns fuer die bundesrepublik deutschland
und fuer die entwicklung in deutschland auferlegt ist.
wir alle stehen unter dem eindruck der ereignisse in berlin
und in der ddr:
wir erleben tief bewegt,

- dass sich die berliner mauer endlich fuer alle unsere
landsleute oeffnet,

- dass sich die menschen an den grenzuebergaengen und
ueberall in der stadt voller freude in den armen liegen.

was ich selbst gestern abend erlebt habe - auf dem
kurfuerstendamm, in vielen strassen berlins und vor allem am
checkpoint charly, der ja in einer ganz anderen erinnerung
steht -, gehoert fuer mich persoenlich zu den bewegendsten
erfahrungen meines lebens. so wie uns ist es ja vielen
anderen gegangen.
die begegnung mit ganzen schulklassen - 15-, 16jaehrigen
aus potsdam und aus anderen teilen der ddr -, die ich
gestern abend hatte, die erfahrung von zuspruch und soviel
sympathie ist ganz ungewoehnlich, und man spuert in einem
solchen augenblick die ganz besondere verantwortung, die
wir haben.
in diesem historischen augenblick stehen wir - alle
deutschen in ost und west - vor einer grossen
bewaehrungsprobe.
was in der ddr geschieht, verfolgen wir mit heissem herzen.
aber wir muessen gerade in diesem augenblick besonnen
bleiben, mit kuehlem verstand handeln.
wichtig ist jetzt vor allem, dass das recht der menschen, frei
zu reisen, auf dauer anerkannt wird. doch reisefreiheit
allein genuegt nicht. ich bekraeftige, was ich in meinem
bericht zur lage der nation im geteilten deutschland am
vergangenen mittwoch gesagt habe:

die menschen in der ddr haben ein recht

- auf freie meinungsaeusserung,

- auf eine freie presse,

- auf freie bildung von gewerkschaften,

- auf freie gruendung von unabhaengigen parteien,

- auf freie, gleiche und geheime wahlen.

unsere landsleute sind dabei, sich diese freiheiten zu
erkaempfen. sie haben dabei selbstverstaendlich unsere volle
unterstuetzung.

die bundesregierung ruft die staats- und parteifuehrung der
ddr auf, das tor fuer einen grundlegenden wandel in staat,
wirtschaft und gesellschaft zu oeffnen.
ich habe schon am vergangenen mittwoch im bundestag
- und auch gestern in berlin - erklaert, dass wir bereit sind,
einen solchen wandel in der ddr umfassend zu
unterstuetzen. wir sind zu einer hilfe bereit, die den menschen
direkt zugute kommt.
wir haben heute auch im kabinett darueber gesprochen, und
das bundeskabinett hat dieses angebot ausdruecklich
bekraeftigt.
ich habe heute darueber mit dem ddr-staatsratsvorsitzenden
krenz ausfuehrlich am telefon gesprochen. ich habe zu
beginn dieses gespraechs die entscheidung der ddr
begruesst, jetzt die grenzen zu oeffnen.
wir haben verabredet, dass bundesminister seiters am
montag, den 20. november zu vorbereitenden gespraechen mit
der ddr-staatsfuehrung nach ost-berlin reisen wird. dabei
wird er mit dem staatsratsvorsitzenden krenz wie auch mit
dem dann neu gewaehlten ddr-ministerpraesidenten
zusammentreffen.
dieser termin ergibt sich aus den terminen der
volkskammer. ich habe grossen wert darauf gelegt, dass der
kollege seiters, wenn er nach ost-berlin faehrt, auch mit dem
neuen ministerpraesidenten zusammentrifft.
bei diesen gespraechen wollen wir die konkreten schritte
kennenlernen, die die ddr-fuehrung sich vorgenommen
hat - das heisst vor allem, wie sie sich die durchfuehrung der
angekuendigten freien wahlen im einzelnen vorstellt und
welchen zeitrahmen sie dafuer in aussicht nimmt.
wir haben ferner vereinbart, dass der staatsratsvorsitzende
und ich in staendigem kontakt miteinander bleiben und
- wenn erforderlich - sofort miteinander verbindung
aufnehmen.
wir waren uns einig, dass wir jetzt in einem sehr wichtigen
zeitabschnitt stehen, in dem in einem ganz besonderen
masse besonnenheit und augenmass auf allen seiten
gefordert sind.
ausserdem haben wir vereinbart, dass wir uns bald persoenlich
in der ddr - und zwar ausserhalb von ost-berlin - treffen
werden.
es wird bei den gespraechen der naechsten zeit auch darum
gehen, die materiellen bedingungen fuer die menschen in der
ddr umfassend zu verbessern, damit sie sich in ihrer
angestammten heimat wohl fuehlen und damit sie diese
angestammte heimat nicht verlassen wollen.
ich habe dem staatsratsvorsitzenden ausdruecklich gesagt,
es ist unsere politik und ziel unserer politik, dass die
menschen in ihrer heimat bleiben koennen, dass sie dort
bedingungen vorfinden, die sie nicht veranlassen wegzugehen.
wir sind jedoch der ueberzeugung, dass hilfsmassnahmen nur
dann einen wirklichen sinn haben und erfolgreich sind,
wenn das system der staatlichen planwirtschaft durch eine
sozial verpflichtete marktwirtschaftliche ordnung abgeloest
wird. nur so laesst sich die wirtschaftskraft der ddr staerken.
fleiss, tuechtigkeit und leistungskraft sind bei den menschen
in der ddr selbstverstaendlich vorhanden. sie wollen sich
frei entfalten, und das ist - auch aus den erfahrungen der
geschichte unserer republik - die voraussetzung fuer einen
wirtschaftlichen aufschwung.
auch unsere partner in der eg sind gefordert, wenn es
darum geht - wie bei polen und ungarn -, aus
gesamteuropaeischer verantwortung in diesem sinne zu wirken.
ich habe mit dem praesidenten des europaeischen rates,
staatspraesident mitterrand, verabredet, dass wir dieses
thema - entwicklung in der ddr - genauso wie die
reformbewegungen in polen und ungarn auf der sitzung des
europaeischen gipfels in strassburg anfang dezember
behandeln werden.
ich habe noch gestern nacht mit premierministerin margaret
thatcher und praesident george bush und heute frueh mit
staatspraesident francois mitterrand eingehend telefonisch
gesprochen. ich habe sie bei dieser gelegenheit ueber den
stand meiner gespraeche in polen und vor allem natuerlich
ueber die entwicklung in deutschland - auswirkungen der
grenzoeffnung - unterrichtet.
alle drei gespraechspartner haben ihre ganz besondere
freude zum ausdruck gebracht ueber diese juengste
entwicklung. da keiner wusste, was der andere sagt, ist es
doch bemerkenswert, dass alle drei den begriff "historische
stunde" verwandt haben.
sie haben ihre bewunderung dafuer zum ausdruck gebracht,
mit welch einer besonnenheit, mit welch einer friedfertigkeit
die menschen in der ddr bei den demonstrationen der
vergangenen tage und wochen alles unternommen haben,
um zu mehr freiheit zu kommen.
und sie haben mir auch alle sehr persoenlich ihre
glueckwuensche fuer diesen erfolg auch unserer politik
ausgesprochen und ihre unterstuetzung in allen bereichen zugesagt.
wir haben im uebrigen vereinbart, dass ich sie auch ueber
unsere weiteren gespraeche in polen auf dem laufenden
halten werde.
ganz besonders habe ich mich gefreut - und deswegen will
ich es hier erwaehnen -, dass mein kollege und freund felipe
gonzalez, der spanische ministerpraesident, der erste war,
der spontan angerufen hat und die deutschen und auch
mich persoenlich und die bundesregierung zu dieser
entwicklung beglueckwuenscht hat.
ich stehe - wie sie wissen - staendig in verbindung mit
generalsekretaer gorbatschow. so habe ich noch am
gestrigen abend von ihm eine persoenliche botschaft erhalten.
und vor einer stunde haben wir sehr lange miteinander ueber
die lage telefoniert und ueber deren einschaetzung
miteinander gesprochen.
meine damen und herren, trotz erster anzeichen fuer einen
wandel in der ddr kommen noch immer landsleute ueber
die jetzt offene grenze, um auf dauer bei uns in der
bundesrepublik zu bleiben. wir werden sie als deutsche unter
deutschen aufnehmen. wir grenzen niemanden aus. ich
verwahre mich ganz entschieden dagegen, dass jetzt
fuehrende sozialdemokraten in einer beschaemenden weise
versuchen, emotionen und ressentiments gegen diese
landsleute zu schueren. ich will dabei willy brandt
ausdruecklich ausnehmen.
ich appelliere an alle mitbuergerinnen und mitbuerger in der
bundesrepublik deutschland - an jeden einzelnen, an staatliche
stellen, an private organisationen und an die kirchen -
in dieser ausnahmesituation solidaritaet zu ueben. es ist
unsere nationale aufgabe, und es ist eine
selbstverstaendliche menschliche pflicht zu helfen.
die vor uns liegenden probleme werden uns viel tatkraft,
phantasie und die bereitschaft zu unbuerokratischer hilfe
abverlangen. bundesminister schaeuble hat heute darueber
dem kabinett berichtet und wird ihnen auch kurz ueber
einzelheiten berichten koennen.
ich habe viel grund, all denen, die in diesen wochen
beteiligt waren - vom roten kreuz, um eine der privaten
organisationen zu nennen, bis hin zu den beamten des
grenzschutzes und den soldaten der bundeswehr und
vielen vielen anderen -, ein sehr herzliches wort des dankes
zu sagen.
meine damen und herren, wir sind noch lange nicht am
ziel. das recht aller deutschen auf selbstbestimmung ist
noch nicht verwirklicht. der auftrag des grundgesetzes, die
einheit und freiheit deutschlands zu vollenden, ist nicht
erfuellt.
die reihenfolge der ziele unserer politik ist uns durch das
grundgesetz vorgegeben: voraussetzung fuer die
wiedervereinigung in freiheit ist immer die freie ausuebung
des selbstbestimmungsrechts.
freiheit war, ist und bleibt der kern der deutschen frage.
und das heisst: unsere landsleute in der ddr wollen und
muessen selbst entscheiden. sie haben keinerlei belehrung
noetig - von welcher seite auch immer.
jede entscheidung, die unsere landsleute in der ddr
treffen, werden wir selbstverstaendlich respektieren.
ich will noch einmal meinen appell an alle - auch an uns hier
in der bundesrepublik - wiederholen: es kommt jetzt in
dieser stunde darauf an, bei aller freude und bei aller
herzlichkeit des miteinanders augenmass und besonnenheit
zu beweisen.
meine damen und herren, als letztes will ich noch sagen,
dass ich mich herzlich bei meinen polnischen gespraechspartnern
bedanke, vor allem bei staatspraesident jaruzelski und
dem polnischen ministerpraesidenten. denn es ist ja ziemlich
ungewoehnlich, dass man einen solchen besuch - zudem
noch einen besuch, der viel geschichtliches beinhaltet, was
nicht ganz einfach ist - unterbricht, um hier zu sein.
wir werden gleich die reise wiederaufnehmen, und ich
hoffe, dass dieser so erfolgreich begonnene besuch auch
erfolgreich abgeschlossen wird.