europa und asien - partner im wettbewerb - rede des bundespraesidenten in hamburg

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bundespraesident roman herzog hielt anlaesslich des
75. ostasiatischen liebesmahls des ostasiatischen
vereins am 3. maerz 1995 in hamburg folgende rede:

fuer ihre freundliche einladung und begruessung danke
ich ihnen, herr nordmann, sehr herzlich. die verdienste
des ostasiatischen vereins haben schon meine vorredner
umfangreich gewuerdigt. ich schliesse mich ihnen in
dieser hinsicht einfach an, nicht ohne hinzuzufuegen,
dass ich meine teilnahme wegen des titels der veranstaltung
meiner frau plausibel begruenden musste.
vor der hier versammelten kennerschaft in sachen
asien zu sprechen, ist fuer mich als laie oder, wie
es plastischer im chinesischen heisst, als "kerl
von draussen vor der tuer", eine besondere herausforderung.
ich fuehle mich ein wenig wie der musiker in der
geschichte, die uns han fei erzaehlt hat, der beruehmte
chinesische philosoph aus der legalistenschule:
ein floetist hatte sich in das bambusorgelorchester
des koenigs eingeschlichen. solange er im orchesterverbund
spielen konnte, ging alles gut. seine fehlende kennerschaft
fiel erst auf, als er unter dem neuen herrscher
zum erstenmal solo vorspielen musste. ich hoffe gleichwohl,
dass der eine oder andere meiner redetoene bei ihnen
auf interesse stossen wird.
dass ostasien und der pazifische raum sich zu einem
weltwirtschaftlichen und weltpolitischen gravitationszentrum
entwickelt haben, ist mittlerweile allgemeingut.
es hiesse, eulen nach athen zu tragen oder - um ein
asiatisches bild zu benutzen - einer vortrefflich
gemalten schlange noch fuesse hinzufuegen zu wollen,
wenn ich mich vor ihrem kreis auf eine allzu ausfuehrliche
analyse der ohnehin bekannten situation einlassen
wollte. nur einige mir wichtig erscheinende aspekte
will ich ansprechen:
asien hat sein schicksal in die eigenen haende genommen,
wirtschaftlich wie politisch. die region ist nicht
mehr - wie noch im vorigen jahrhundert - spielball
fremder maechte. es ist - jedenfalls in der europaeischen
wahrnehmung - so stark geworden, dass viele hier
eine weile wie das beruehmte kaninchen auf die nicht
weniger beruehmte, weil grossgewordene schlange gestarrt
haben, ohne sich zu ruehren.
asiens wirtschaftliche, demographische und geostrategische
daten sind in der tat beeindruckend: fast zwei drittel
der weltbevoelkerung wohnen dort. mehr als ein viertel
des weltsozialprodukts wird in asien erzeugt.
sein anteil am welthandel ist enorm gewachsen. asien
hat insoweit sowohl europa als auch die usa ueberholt.
unter den zehn ersten welthandelsnationen befinden
sich allein sechs asiatische laender. vor allem: nicht
nur einfache, sondern auch mittlere und hochtechnologische
produkte und verfahren asiatische herkunft haben
die weltmaerkte und auch unseren nationalen deutschen
markt durchdrungen.
auch auf den globalen finanzmaerkten spielt asien
mittlerweile eine unuebersehbare rolle. ueber ein
drittel der weltdevisenreserven liegt bei asiatischen
zentralbanken. von asien geht so ein globaler wettbewerb
der produkte, der verfahren, der arbeitskosten,
der sozialstandards, der institutionen, der standorte
und - vielleicht am wichtigsten - auch der werte
und kulturen aus.
kaum ein wirtschaftsbereich in europa bleibt davon
unberuehrt: bisher sicher geglaubte arbeitsplaetze in der
industrie, zunehmend aber auch im dienstleistungsbereich
muessen sich der asiatischen herausforderung stellen.
manche sehen nicht nur unsere wirtschaft, sondern
auch unsere westlichen werte in einem umfassenden
"clash of civilisations" bedroht. sie kennen diese
debatten alle viel besser und genauer als ich.
worum es mir dabei vor allem geht, ist folgendes:
diese wachsende interdependenz nicht nur im wirtschaftlichen,
sondern auch im kulturellen, dieser zunehmende internationale
wettbewerb, das neue, enorme politische und wirtschaftliche
gewicht asiens - all diese entwicklungen sollten
wir nicht als nachteil, sondern als grossen vorteil
ansehen: fuer unser land und fuer europa, fuer asien
selbst, ja fuer die gesamte eine welt, in der wir
leben.
asiens wirtschaftliches wie politisches erstarken
ist fuer mich eine bereicherung, keine bedrohung,
eine herausforderung, keine schwaechung. es rechtfertigt
optimismus und zuversicht, nicht aber verzagtheit
und mutlosigkeit. die wirtschaftlichen vorteile
fuer unser land, fuer europa und die gesamte westliche
welt liegen auf der hand und sind bekannt. mit dem
eintritt asiens in die weltwirtschaft entstehen
nicht nur neue konkurrenten, sondern durch das wachstum
im inneren, durch kaufkraft und wohlstand auch eine
unermessliche anzahl von neuen konsumenten und damit
absatzmoeglichkeiten fuer unsere produkte und verfahren.
der seit 1990 auf fast 15 prozent gestiegene anteil
der deutschen asien-pazifik-ausfuhren am gesamtexport,
die vielfaeltigen projekte des asien-pazifik-ausschusses,
die initiativen der bundeslaender und der verbaende
mit ihren vor allem auf die beduerfnisse mittelstaendischer
unternehmen zugeschnittenen "deutschen haeusern",
die arbeit der auslandshandelskammern in asien,
aber auch das asienkonzept der bundesregierung und
die anstrengungen der europaeischen kommission fuer
eine neue asienstrategie zeigen:
wirtschaft und politik in deutschland wie in europa
nehmen diese neuen moeglichkeiten mit erfolg wahr.
und sie bemuehen sich mit viel engagement um den
abbau von defiziten, etwa bei den direktinvestitionen
in asien. gleichzeitig profitieren wir alle, unternehmer
wie konsumenten, vom qualitativ hochwertigen, preiswerten
asiatischen angebot auf unseren maerkten.
ausserdem loesen unsere neuen asiatischen wettbewerber
bei uns innovations- und flexibilitaetsschuebe aus.
ohne den heilsamen druck von aussen waeren sie nicht
oder zumindest nicht so rasch in gang gekommen.
auch jenseits von allem wirtschaftlichen kann die
auseinandersetzung mit asien beweglichkeit in unser
althergebrachtes denken bringen: der wirtschaftliche
wettbewerb mit asien, die oekonomische interdependenz
ermoeglichen weltweit auch den kulturellen brueckenschlag.
der modernen telekommunikationstechnik ist es schliesslich
egal, ob sie japanische oder chinesische, indische,
englische oder deutsche signale uebertraegt. aber
dieselbe technik macht es moeglich, weltweit gleichzeitig
informationen ueber andere zu vermitteln. die bilder
der ganzen welt erreichen jeden winkel dieses planeten.
buecher kann man verbrennen, sendesignale von satelliten
nicht mehr.
wer seine herrschaft auf unkenntnis seiner untertanen
stuetzen will, hat es infolgedessen immer schwerer.
wer sich kulturell von jedem aeusseren einfluss abschotten
will, der kann das nicht mehr. das ist last und
chance zugleich. alle kulturen - auch unsere europaeischen
- sind jetzt anderen wertewelten ausgesetzt.
in asien sind bedeutende hochkulturen beheimatet,
die uns allen viel zu sagen haben, nicht nur den
gelehrten, die sich damit seit langem beschaeftigen.
diese alten kulturen voller jugendlicher vitalitaet
haben laengst die urspruenglich aus europa kommende
technische zivilisation akzeptiert und zu ihrer
eigenen sache gemacht. aber nie haben sie die westliche
kultur als ueberlegen anerkannt.
es geht auch gar nicht um kampf, um vorrang der
kulturen in der welt. es geht nicht um das harte entweder-
oder eines dominierenden werte- und gesellschaftssystems
wie in der frueheren ideologischen ost-west-auseinandersetzung.
es geht vielmehr um das weiche sowohl-als-auch der
kulturen und gesellschaftsmodelle. voraussetzung
dafuer ist eine gemeinsame zivilisation des friedlichen
miteinander.
samuel huntington hat nicht recht, wenn er diese
zivilisation verneint. keine der kulturen wird einer
anderen ihre werte aufzwingen koennen. aber alle
werden in einer - auch durch die medien - immer
vernetzteren welt voneinander lernen koennen und
muessen. sie werden entdecken, dass sie neben vielem
trennenden auch viel gemeinsames haben.
lassen sie mich ein konkretes beispiel nennen: in
vielen laendern asiens spielt kommunitaeres, staerker
gruppen- und familienorientiertes denken und handeln
eine grosse rolle. gruppen und familien erfuellen
dort noch aufgaben, die bei uns aus vielerlei historischen
und tatsaechlichen gruenden an den staat und uebergeordnete,
oft anonyme organisationen abgetreten worden sind:
altersversorgung, krankenpflege, nachbarschaftshilfe
und so weiter.
in europa und speziell in deutschland haben wir
immer mehr risiken auf groessere institutionen, auf
staat oder sozialversicherung uebertragen, um unsere
individuellen, abendlaendisch typischen freiheitsspielraeume
maximal absichern und ausleben zu koennen. dieser
unterschied ist nicht etwa nur ein philosophisches
werteproblem, ein thema fuer die feuilletonseiten
der grossen zeitungen. er wirkt sich auch
ganz unmittelbar auf unsere wettbewerbsfaehigkeit
aus. er hat naemlich kostenfolgen und konsequenzen
fuer die anpassungsfaehigkeit wirtschaftlicher und
politischer strukturen. wir sind heute - wie alle anderen
auch - gezwungen, unsere gewachsene lebenswirklichkeit
an einem globalen massstab zu messen. wir werden
als antwort auf die asiatische herausforderung sicher
nicht unser gesellschafts- und wertesystem radikal
veraendern. die isolierte uebertragung einzelner elemente
fremder kulturen ist nicht moeglich.
aber mit konsequenz darueber nachzudenken, ob wir
angesichts des internationalen wettbewerbs - auch
der sozialstandards - weiterhin sozialen nutzen
privatisieren und soziale kosten sozialisieren koennen,
oder ob wir - was uebrigens nur an unsere eigenen
traditionen anknuepfen wuerde - die persoenliche verantwortung
wieder ein stueck zurueckverlegen in den bereich der
familie, der persoenlichen gemeinschaften -, das
kann nur zu unserem nutzen sein.
steuern und abgaben koennen, gerade im hinblick auf
unseren internationalen verbund, nicht weiter angehoben
werden. die leistungsfaehigkeit des gemeinwesens
wie des einzelnen waeren sonst nachhaltig gestoert.
umsteuern im sinne einer neuen weichenstellung hier
und umdenken im sinne von mehr eigeninitiative,
eigenverantwortlichkeit und freiheit der kleineren
lebenskreise: das koennten deshalb konsequenzen sein
aus der auseinandersetzung mit den asiatischen
werte- und gesellschaftssystemen.
wir werden dabei entdecken, dass unsere klassischen
buergertugenden gar nicht so weit von manchen klassischen
asiatischen grundwerten entfernt sind, wie wir zumeist
glauben. es gibt noch zahllose weitere beispielsfaelle,
wo europa von asien lernen kann. aber auch fuer den
austausch von ideen, meinungen, werten und konzepten
in die umgekehrte richtung, von europa nach asien,
gibt es angesichts der gewachsenen weltwirtschaftlichen
verflechtung neue gelegenheiten:
nach jahrhundertelanger erfahrung bitterer kriege
hat letztlich erst die irreversible wirtschaftliche
integration in der europaeischen union eine stabile,
mittlerweile gleichermassen unumkehrbare politische
integration und den dauerhaften verzicht auf militaerische
mittel zur konfliktloesung moeglich gemacht. wir arbeiten
in der europaeischen union alle sehr intensiv daran,
dass dieser ansatz auch in einem erweiterten europa
friedens- und wohlstandssichernd wirken kann.
vielleicht kann hier das alte europa, die europaeische
union mit ihrer aus kleinen anfaengen, aus freihandelszone
und zollunion entstandenen, schritt fuer schritt
umfassenderen politischen zusammenarbeit immer noch
die eine oder andere anregung geben. denn mit der
wechselseitigen wirtschaftlichen verflechtung wachsen
- ungeachtet aller unterschiede und interessengegensaetze
- auch in asien notwendigkeit und potential fuer
eine staerkere politische interdependenz und zusammenarbeit,
kann der frieden sicherer werden, ueberall in der
welt, in asien wie in europa.
ohnehin wuerde ich uns selbst, aber auch unsere partner
in aller welt davor warnen, europa als absteiger
abzuschreiben. es wird, wenn es nur will, seine
materiellen und mentalen moeglichkeiten gesteigert
zur geltung bringen. nur weil mehr laeufer als zuvor
am start sind, werden wir in europa nicht langsamer
laufen, wenn wir auch mehr ausdauer zeigen muessen.
das asiatische beispiel der dynamischen lebendigkeit
alter kulturen kann auch in europa funktionieren.
damit kehre ich zurueck zu meiner optimistischen
ausgangsthese: die asiatische herausforderung ist
trotz aller elemente der konkurrenz eine einladung
zum miteinander, im wirtschaftlichen, im politischen
wie im geistigen bereich.
der welthandel ist eben kein nullsummenspiel. der
vorteil des einen ist nicht der nachteil des anderen,
wie uns die neomerkantilisten immer noch glauben
machen wollen. wachsende welthandelsanteile asiens
muessen nicht auf unsere kosten gehen. eher schaffen
sie neue moeglichkeiten, fuer europa wie fuer asien.
es ist allemal besser, den welthandelskuchen zum
gemeinsamen vorteil durch freihandel und neue akteure
wachsen, als ihn durch eifersuechtigen protektionismus
schrumpfen und verderben zu lassen.
so entstehen im weltweiten verbund auch gemeinsame
politische interessen zwischen europa und asien:
etwa am erhalt und der fortentwicklung des freien
multilateralen welthandelssystems, das jetzt mit
der gruendung der wto einen neuen anstoss gefunden
hat. gerade hier hat es in den vorbereitenden verhandlungen
der uruguay-runde ein erstaunliches mass an uebereinstimmung
in den handelspolitischen positionen meines landes
und der haltung der dynamischen asiatischen marktwirtschaften
gegeben.
ohnehin erinnert mich der dynamische aufschwung
mancher erfolgreichen asiatischen volkswirtschaft
an eigene erfahrungen des deutschen wirtschaftswunders
in den fuenfziger jahren. die besonders weit fortgeschrittenen
laender dort werden auch die erfahrung der spaetphase
eines wirtschaftswunderlandes mit uns teilen: neue,
juengere, kostenguenstigere konkurrenten ruecken nach.
es gibt keine stammplaetze im internationalen wettbewerb.
japanische elektronikfirmen spueren bereits den wettbewerb
der koreanischen.
dieser prozess gemeinsamer wirtschaftlicher erfahrungen
und interessen wird sich fortsetzen. konvergenz
in wirtschaftlichen fragen wird auch in vielen politischen
fragen eine annaeherung der positionen zur folge
haben. so wie marktwirtschaft und freihandel sind
auch frieden und sicherheit auf der ganzen welt
unteilbar.
vor diesem hintergrund halte ich selbst bei dem
kontrovers diskutierten thema des menschenrechtsverstaendnisses
eine annaeherung zwischen asien und europa fuer moeglich.
denn ungeachtet aller unterschiede: freie, nicht
dirigistisch gegaengelte marktwirtschaften und freie
gesellschaften sind geschwister. wirtschaftliche
freiheit kann auf die dauer nicht ohne korrespondierende
gesellschaftliche freiheit funktionieren.
marktwirtschaften, auch die in asien, brauchen fuer
ihre weitere entwicklung muendige, selbstaendige arbeitnehmer
und unternehmer, gewerkschaften und wirtschaftsverbaende.
sonst wuerden sie stagnieren. denn marktwirtschaft
setzt wettbewerb voraus, wettbewerb vielfalt, nicht
nur der anbieter und nachfrager, sondern letztlich
auch der methoden und meinungen.
wer industrialisierung, innovation und kreativitaet
in der wirtschaft will, der muss also auch in der
gesellschaft entsprechende freiraeume schaffen. er
muss den austausch von informationen - und nicht
nur im technischen bereich - foerdern, muss sich fuer
oeffnung und offenhaltung einsetzen. wissenschaftler
und ingenieure sind hierauf zwingend angewiesen. aber
auch fuer den aufbau mittelstaendischer unternehmensstrukturen
sind freie entfaltungsmoeglichkeiten unerlaesslich.
wenn in der oekonomie marktwirtschaftliche strukturen
auf die dauer funktionieren sollen, werden letztlich
auch in der politik demokratische prinzipien unvermeidlich
dazugehoeren muessen, im eigenen interesse jeder einzelnen
gesellschaft. das gilt fuer europa, fuer asien, und
ueberall sonst auf der welt. und vielleicht ist ja
auch die schon von immanuel kant verfochtene these
richtig, dass demokratien selten oder nie krieg miteinander
fuehren. es lohnt sich, diese methode der friedenssicherung
auszuprobieren. im west-europa der nachkriegszeit
hat sie funktioniert.
um keine missverstaendnisse aufkommen zu lassen: keine
seite darf der anderen ihre sicht der dinge aufzwingen
wollen. verhandlungspartner kann nur sein, wer das
gesicht des anderen respektiert. gerade deshalb
sind aber in asien kompromisse oft leichter zu erzielen.
jeder weiss dort, dass es nicht nur darauf ankommt,
recht zu haben. genauso wichtig ist es, den partner
zu seinem recht kommen zu lassen, auch sein gesicht
zu wahren. wenn dies in der erkenntnis gemeinsamer
wirtschaftlicher, politischer wie kultureller interessen
zwischen europa und asien zur regel werden sollte,
koennten wir mit zuversicht in die zukunft schauen.
ich hoffe, dass ich mich mit meinen worten an die
viel zitierte indische weisheit gehalten habe:
lasst den mann sagen, was wahr ist, lasst ihn sagen,
was sich angenehm anhoert, und lasst ihn keine unangenehme
wahrheit sagen. aber lasst ihn auch keine angenehme
unwahrheit sagen.