die verantwortung der streitkraefte im demokratischen staat - ansprache des bundespraesidenten in hannover

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bundespraesident richard von weizsaecker hielt bei
der befoerderung von offizieranwaertern zum leutnant in
der offizierschule des heeres in hannover am 28. juni
1990 folgende ansprache:

liebe oberfaehnriche!

zur befoerderung zum leutnant gratuliere ich ihnen von
herzen. es ist fuer mich eine freude, auf ihrem weg zum
offizier heute bei ihnen zu sein.
als ich zum leutnant befoerdert wurde, das ist, ob sie es
glauben oder nicht, 50 jahre her, sah es in deutschland
anders aus. frieden in freiheit war ein ferner traum. seien
wir dankbar fuer die entwicklung, die sich heute in europa
und in deutschland abzeichnet, dankbar fuer den weg, den
die bundesrepublik deutschland gegangen ist, dankbar
fuer den beitrag, den die bundeswehr dazu geleistet hat.
nun stehen wir vor grossen, uns ganz und gar fordernden
aufgaben.
wodurch ist diese zeit bestimmt, in der wir leben? unsere
soziale sicherheit, unser geistiges und wirtschaftliches
wachstum, selbstbestimmung und frieden, sie alle haengen
auch von der loesung weltweiter probleme ab, vom
bevoelkerungswachstum, von der zerstoerung unserer umwelt, der
verteilung der gueter und der ueberwindung der not, unter
der der groessere teil der menschheit lebt.
wohlstand ist etwas gutes, aber man muss ihm gewachsen
sein. das sind wir vor allem dann nicht, wenn wir ihn um
seiner selbst willen anstreben und nicht auch zu dem ziel,
andere menschen daran teilhaben zu lassen, die darauf
angewiesen sind.
sie als kuenftige offiziere stehen ganz besonders im
spannungsfeld zwischen dienst und verpflichtung gegenueber
unserem land und einem in unserer gesellschaft
verbreiteten anspruch auf ein leben frei von bindungen. dabei
sind doch freiheit und bindung gar keine gegensaetze. es gibt
menschenunwuerdige abhaengigkeiten, von denen es sich zu
befreien gilt. aber es gibt auch bindungen, in denen sich die
verantwortliche freiheit des menschen ueberhaupt erst
erfuellen kann. nicht allzuoft werden sie es mit jungen menschen
zu tun haben, die in einer solchen erkenntnis erzogen und
herangewachsen sind.
darueber hinaus werden sie in verstaerktem mass auch die
fragen nach der aufgabe und dem umfang von streitkraeften
zu beantworten haben, fragen die sich einstellen,
weil die aeusseren bedrohungen nachlassen. die sichtbare
aufloesung des warschauer paktes ist dafuer ein stichwort.
die beantwortung solcher fragen ist aber ganz gewiss nicht
ihnen allein zu ueberlassen und zuzumuten. entscheidend
ist, dass die politische fuehrung sich dieser aufgaben
annimmt und damit eine notwendige und vernuenftige
voraussetzung fuer ihren dienst schafft. dazu ist sie
verpflichtet, und ich bin hier bei ihnen, um mich zu dieser
verpflichtung zu bekennen.
wer fuer das gemeinwesen politisch verantwortlich ist, der
darf den buergern den schutz, den sie im notfall brauchen,
nicht verweigern. unser land muss sich die faehigkeit zur
verteidigung erhalten. sie gehoert zur souveraenitaet eines
staates, und sie ist notwendig, um gegen risiken geschuetzt
zu sein. unsere demokratische verfassung und unsere
freiheitlichen und sozialen lebensformen konnten sich
entfalten und bewaehren. dazu hat auch der schutz durch
die streitkraefte beigetragen.
die westliche sicherheitspolitik mit ihrer allianz und damit
die soldaten der bundeswehr haben in den letzten
jahrzehnten den frieden erfolgreich gesichert. sie haben
wesentlich dabei mitgewirkt, dass unsere gedanken von
menschenrecht und menschenwuerde und unser system
einer rechtsstaatlich gesicherten wirtschafts- und
sozialordnung sich entfalten konnte und zum vorbild auch in
anderen teilen europas wurde, von denen wir so lange durch den
eisernen vorhang getrennt waren.
der dienst und die leistung eines jeden soldaten, ob
wehrpflichtiger, berufs- oder zeitsoldat, hat mitgewirkt, um
voraussetzungen zu schaffen, unter denen sich in der ddr
und in mittel- und osteuropa der ruf nach freiheit
durchgesetzt hat.
heute haben wir erstmals die chance zu ernsthafter
abruestung und kooperativen sicherheitsstrukturen in europa.
das ist eine segensreiche entwicklung. ihr haben wir uns
auch im zeichen der einheit deutschlands von ganzem
herzen zu widmen. aber auch in einer phase der
entspannung, der ruestungsverminderung und der
vertrauensbildenden massnahmen muessen wir auf der hut bleiben,
um nicht zu willenlosen werkzeugen anderer gemacht zu werden.
es darf nicht um einen popularitaetswettbewerb von parteien
in beginnenden wahlkampfzeiten gehen, sondern um einen
verantwortungsbewussten umgang mit neuen aufgaben der
sicherheitsstrukturen in europa. nur wer sich schuetzen
kann und will und wer darueber niemanden im zweifel laesst,
der wird ernst genommen und gehoert, gerade in einer zeit
konstruktiver verhandlungen mit dem ziel einer
europaeischen friedensordnung.
die soldaten der bundeswehr haben darueber hinaus einen
massgeblichen beitrag geleistet, um alte, tiefe graeben zu
ueberwinden, die der zweite weltkrieg gezogen hatte. die
intensitaet und vielfalt der beziehungen der soldaten im
buendnis untereinander sind beispielhaft. die streitkraefte
sollen auch in zukunft bindeglied unter den menschen der
staaten sein, mit denen uns ein gemeinsames
menschenbild vereint.
erfolg ist niemals auf dauer gesichert. er kann sich
verfluechtigen. freiheit will immer von neuem errungen sein. sie
ist kein geschenk, von dem sich billig und passiv leben laesst.
vielmehr lebt sie durch das, was wir laufend fuer sie tun. ihre
kraft haengt von der verantwortung ab, die wir zu tragen
bereit sind.
geschichte wiederholt sich nicht, aber sie wiederholt ihre
lehren. das goethe-wort aus dem faust gilt: "nur der
verdient sich freiheit wie das leben, der taeglich sie
erobern muss." als soldat und offizier stehen sie
unmittelbar im dienst und in der herausforderung dieser
erkenntnis.
der eid, den sie geleistet haben, und das feierliche
geloebnis der wehrpflichtigen, sie haben unveraendert
gueltigkeit. denn diese versprechen gelten dem kern unserer
verfassung, dem schutz der menschenwuerde. die
unveraeusserlichen menschenrechte sind massstab unserer
staatlichen gemeinschaft. sie sind ausgangspunkt unserer
beziehungen zu anderen voelkern.
aber es sind nicht nur rechte, die wir beanspruchen
koennen, sondern sie bringen auch pflichten fuer uns mit sich,
mit denen wir diese unsere rechte schuetzen. es ist nicht leicht,
diesen gedanken in der heutigen zeit lebendig zu erhalten,
in einer zeit, die so oft von anspruchsdenken,
interessenkaempfen, eigensucht und zuweilen von machtmissbrauch
gekennzeichnet ist.
niemand wird auf die dauer seine rechte wahren koennen,
wenn er sich nicht zugleich auch fuer die rechte aller
anderen einzusetzen bereit ist. es gibt keine wirksame
verteidigung, die man dem staat ueberlassen kann, ohne sich
selbst daran zu beteiligen. wir selbst sind der staat. wenn wir
unseren staat schuetzen, schuetzen wir uns.
von scharnhorst, dem grossen heeresreformer, der einen
teil seines lebens hier in der naehe auf der insel
wilhelmstein im steinhuder meer zubrachte, stammt der satz:
"alle bewohner des staates sind geborene verteidiger
desselben."
unsere wehrverfassung ist demokratisch legitimiert, sie
erfordert persoenliche bereitschaft zum dienst. wehrpflicht
entspricht in unserem land einer zutiefst demokratischen
tradition. sie garantiert die unaufloesliche einbindung
der bewaffneten macht in das staatliche gemeinwesen.
wehrpflicht in der demokratie heisst, dass die buerger in den
streitkraeften fuer ihren staat dienen. die streitkraefte
gehoeren zu unserer gesellschaft, sie sind ein wichtiger teil
von ihr.
daran wird sich auch an der schwelle zum 21. jahrhundert
nichts aendern. die taetigkeit des soldaten ist ein dienst
gemaess den grundwerten, auf denen unsere verfassung
beruht. dienen bedeutet, sich selbst einer aufgabe, einer
idee, einem wert, einer gemeinschaft widmen. dies
bedeutet freien und bewussten verzicht auf entgegenstehende
persoenliche wuensche. dienen heisst verantworten, aktiv
handeln, nicht aber erdulden.
solche gedanken sind - ich habe dies schon beruehrt -
heute nicht einfach umzusetzen. jeder von uns kennt
einerseits zahlreiche junge menschen, die sich mit hingabe fuer
selbstlose ziele einsetzen. daneben aber gibt es auch einen
ausgepraegten hang zur bequemlichkeit und zur vorstellung,
man wuerde seine steuern bezahlen, damit andere die
aufgaben des gemeinwesens erfuellen.
bei vielen buergern steht einem grossen eifer und fleiss in
ihrer privaten sphaere eine distanz zu den angelegenheiten
des staates gegenueber. es scheint, als ob sie gar nicht
immer merken, dass es ja ihr staat ist. er kann nicht besser
sein als unsere gesinnung ueber ihn und unsere
bereitschaft, uns fuer ihn, also nicht fuer etwas fremdes,
sondern fuer die gemeinschaft von uns buergern einzusetzen.
sie haben sich fuer einen fuehrungsberuf entschieden. die
verantwortung fuer die ihnen anvertrauten soldaten ist ihre
schwerste und zugleich ihre schoenste aufgabe. als erzieher
und ausbilder werden sie in zukunft vor der front ihrer
soldaten stehen. die wachen augen und herzen ihrer
soldaten sind auf sie gerichtet. von ihrer lauterkeit,
ihren kenntnissen und faehigkeiten von ihrer wirklichkeitsnaehe,
von ihrer phantasie und hingabe wird es abhaengen,
wie die wehrpflichtigen ihren dienst in den streitkraeften
erleben.
wollen sie die herzen ihrer soldaten gewinnen, so denken
sie an den rat des generals der kavallerie karl von
schmidt, eines hochangesehenen offiziers, der vor mehr
als hundert jahren ueber seine berufserfahrungen als
offizier schrieb: "erziehung ist beispiel und sonst nichts
als liebe."
das ist vielleicht nicht die sprache unserer zeit, aber die
sache ist dieselbe. nur durch seine haltung und
menschlichkeit vermittelt der vorgesetzte seinen soldaten den
charakter, den wert und die erinnerungswuerdigkeit, die sie im
hinblick auf ihre dienstzeit bei sich bewahren. der
soldatenberuf bringt ihnen die aufgabe und die chance, staendig
fuer andere menschen verantwortung zu tragen. dies gibt
ihrer taetigkeit einen guten und erfuellenden sinn.
und so empfehle ich ihnen: gehen sie auf ihre soldaten zu.
menschenfuehrung verwirklicht sich in der bereitschaft, auch
ihrerseits von ihren soldaten etwas zu lernen, ihnen zu
helfen, sie zu ueberzeugen und sich der gemeinsam
gestellten aufgabe zu widmen. je ueberzeugender das beispiel ist,
das sie bereit sind zu geben, desto mehr vertrauen werden
sie finden und desto mehr freude werden sie bei ihrem
dienst selbst verspueren. ich wuensche mir fuer sie zuneigung,
passion und selbstbewusstsein in der erfuellung ihrer
aufgaben.
macht mit ihren verfuehrungen wird nicht aus den
internationalen beziehungen unserer welt verschwinden. es liegt
in der natur des menschen und seiner gesellschaft, dass wir
eine konfliktfreie welt nicht erwarten duerfen. gewalt wird
durch demokratisch legitimierte macht in schranken
gehalten. nur legitimierte macht kann in unserem staat die
bedingungen fuer recht und freiheit aufrechterhalten. auch
diesem zweck dient unsere bundeswehr. auch dafuer
dienen sie.
unsere bundeswehr ist teil einer sicherheitspolitik, die die
faehigkeit zur verteidigung als voraussetzung fuer eine politik
des ausgleichs und der entspannung begreift. unser land
braucht sie, die jungen kuenftigen offiziere. unsere buerger
vertrauen ihnen.
wer in der politik verantwortung traegt, wird sie dabei
unterstuetzen. dafuer will ich mich auch in zukunft einsetzen.
dienen sie als offiziere mit vertrauen in unseren staat und
mit liebe fuer die ihnen anvertrauten menschen.
meine besten wuensche begleiten sie auf diesem weiteren
weg.