die baltischen staaten und europa - rede von staatssekretaer dr. von Ploetz in bruessel

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der staatssekretaer des auswaertigen amtes, dr. hans-friedrich
von ploetz, hielt als vorsitzender des rates der
europaeischen union anlaesslich der aufnahme der verhandlungen
ueber europaabkommen zwischen der europaeischen union
und den baltischen staaten am
15. dezember 1994 in bruessel folgende rede:

im namen des rates der europaeischen union begruesse
ich die gelegenheit, verhandlungen zu eroeffnen,
die zur assoziierung von estland, lettland und litauen
mit der europaeischen union - verbunden mit einer
festen beitrittsperspektive - fuehren sollen. dieser
verhandlungsbeginn markiert eine wichtige neue etappe
im prozess der heranfuehrung an die europaeische union.
sie hat die baltischen staaten nach jahrzehntelanger
schmerzlicher trennung voller freude in der europaeischen
familie willkommen geheissen.
wilna ist gepraegt vom kulturellen reichtum mitteleuropas.
im stadtbild von riga und tallinn lebt bis heute
das erbe der hanse fort. sie hat als ein fruehes
modell erfolgreicher regionaleuropaeischer kooperation
ueber jahrhunderte die kaufmannschaften und staedte
rund um die ostsee und tief in das binnenland hinein
miteinander verbunden und die voraussetzungen geschaffen
fuer den ueberaus fruchtbaren wirtschafts- und kulturraum
ostsee. im baltikum haben sich immer grosse europaeische
handelswege gekreuzt. die gesamte region hat hiervon
profitiert. wir sind sicher, dass dies auch kuenftig
wieder so sein wird.
ihre laender, aber auch die europaeische union stehen
vor grossen herausforderungen. ihre bewaeltigung verlangt
nach einer langfristig angelegten politik. die europaeische
union hat ihre vorstellungen hierzu kuerzlich in
einem papier zum ostseeraum zusammengefasst. sie
ist sich der groesse und schwierigkeiten der damit
verbundenen aufgaben wohl bewusst, aber sie stellt
sich dieser herausforderung mit zuversicht, denn
die sich jetzt bietenden moeglichkeiten sind groesser
als die risiken.
die historische chance, die sich fuer unseren kontinent
nach ueberwindung seiner teilung eroeffnet hat, nimmt
uns in die pflicht fuer eine neue, gesamteuropaeische
friedensordnung. die europa-abkommen, der aufbau
strukturierter beziehungen, ferner die schon heute
enge zusammenarbeit im sicherheitsbereich, die gemeinsamen
aktivitaeten fuer einen stabilitaetspakt in europa
und schliesslich die nato-partnerschaft fuer den frieden
- sie greifen ineinander und dienen diesem einen
ziel.
heute liegt - wenn es um stabilitaet und sicherheit
in mittel- und osteuropa geht - die prioritaet bei
der konsolidierung der politischen und wirtschaftlichen
reformprozesse. ihr erfolgreicher fortgang ist von
vitalem interesse nicht nur fuer die betroffenen
staaten selbst, sondern auch fuer die gesamte europaeische
union, aber auch fuer russland und die oestlichen nachbarn.
von ihm haengt die stabilitaet der betroffenen laender
und der benachbarten region ab. der reformerfolg
ist also fuer die sicherheit und das wohlergehen
europas insgesamt von direkter bedeutung.
die europaeische union hat sich fruehzeitig zu hilfe
bereit erklaert, damit die baltischen republiken
rasch den ihnen gebuehrenden platz in diesem neuen
europa finden. bereits im mai 1992 wurden
handels- und kooperationsabkommen unterzeichnet. mit diesen
abkommen haben wir erste guenstige voraussetzungen
fuer die entwicklung eines staerkeren und ausgewogenen
handels geschaffen. ab dem 1. januar 1995 werden
freihandelsabkommen in kraft treten, mit denen die
wirtschaftliche integration ihrer laender weiter
wesentlich gefoerdert wird und die zugleich einen
wichtigen zwischenschritt zur assoziierung bilden.
den dritten schritt bildet jetzt der abschluss von
europaabkommen. damit erfolgt gleichzeitig die einbeziehung
in den heranfuehrungsprozess auf grundlage der bei
der tagung des europaeischen rates in essen verabschiedeten
strategie. mit ihr hat die zweite halbzeit der europaeischen
integration begonnen. das familienfoto in essen
hat dies in symbolischer weise unterstrichen. alle
beteiligten, die jetzigen und die zukuenftigen mitglieder
der europaeischen union stehen vor noch nie dagewesenen
aufgaben. die reformdemokratien in osteuropa muessen
dabei gleich zwei schritte auf einmal bewaeltigen:
den uebergang von der plan- zur marktwirtschaft und
die vorbereitung auf die uebernahme des gemeinschaftlichen
besitzstandes der europaeischen union. mit grossem
respekt verfolgen wir die anstrengungen, die die
mittel- und osteuropaeischen partner und gerade auch
estland, litauen und lettland in diese richtung
unternehmen.
die deutschen wissen gut aus eigenen erfahrungen
in den neuen bundeslaendern, was es heisst, die erblast
von jahrzehnten des kommunismus hinter sich zu lassen
und eine neue, weltoffene, demokratische und marktwirtschaftliche
ordnung aufzubauen. verstaendliche ungeduld und enttaeuschungen,
die in diesem prozess auftauchen koennen, duerfen die
reformanstrengungen nicht vom kurs abbringen. dies
erfordert rechtzeitiges und entschlossenes handeln.
es gibt keinen leichten abkuerzungsweg. die europaeische
union ist sich des engen politischen und sachlichen
zusammenhangs, der zwischen dem gelingen der umfassenden
gesellschaftlichen erneuerung in den mittel- und
osteuropaeischen staaten und einer glaubhaften
beitrittsperspektive zur europaeischen union besteht, bewusst.
umgekehrt muss aber auch die europaeische union zwei
aufgaben zugleich bewaeltigen: sie muss sich strukturell
und materiell auf die erweiterung nach osteuropa
vorbereiten und im selben atemzug die dringend notwendigen
institutionellen voraussetzungen auf den weg bringen.
dies wird die schwierige aufgabe der regierungskonferenz
1996 sein. ausserdem muss sich die europaeische union
auch ihrer verantwortung stellen, im benachbarten
mittelmeerbereich zu stabilitaet und wohlstand beizutragen.
die bundesregierung freut sich darueber, dass die
aufnahme von verhandlungen zum abschluss von europa-abkommen
mit estland, lettland und litauen noch unter deutscher
ratspraesidentschaft stattfindet. ein uebergreifender
schwerpunkt in der arbeit der letzten monate war
die ausarbeitung der strategie zur heranfuehrung
der schon bis dato ueber europa-abkommen mit der
europaeischen union assoziierten staaten in mittel-
und osteuropa. mit dem heutigen tag koennen wir zuversichtlich
sein, dass sich dieser kreis bald um die drei baltischen
staaten erweitern wird. nach abschluss der europa-abkommen
werden sie in gleicher weise in die heranfuehrungsstrategie
einbezogen.
damit oeffnet sich die tuer fuer einen erweiterten
politischen dialog, in allen relevanten bereichen
und auf allen politischen ebenen - in der gemeinsamen
aussen- und sicherheitspolitik ebenso wie in der
justiz- und innenpolitik, oder in den fragen des
europaeischen umweltschutzes. schluessel fuer den spaeteren
beitritt wird ein detailliertes programm zur binnenmarktheranfuehrung
sein, flankiert durch weitere handelspolitische
erleichterungen, verbesserungen des phare-programms
und infrastrukturmassnahmen.
die heranfuehrung der baltischen staaten an die europaeische
union fuegt sich ein in die grossen veraenderungen,
die der ostseeraum seit dem einschnitt der jahre
1989/91 durchlaufen hat. die umbrueche in der ehemaligen
sowjetunion, die deutsche einheit, die unabhaengigkeit
der baltischen staaten sowie der jetzt bevorstehende
beitritt finnlands und schwedens zur europaeischen
union haben den charakter der ostsee als einstmaliges
europaeisches randmeer einschneidend veraendert. die
wiederbelebung der regionalen kooperation im ostseeraum
nach dem ende des kalten krieges - etwa im rahmen
des rates der ostseeanrainerstaaten - zeigt, dass
das bewusstsein um die gemeinsamen interessen der
ostseeanrainer ungebrochen ist. heute bietet sich
wie selten zuvor die chance, im ostseeraum friedens-
und wohlstandsschaffende kooperation zu verwirklichen.
die heranfuehrung polens und der baltischen staaten
an die europaeische union ist hierbei ein entscheidendes
element, zugleich gilt es, die beteiligung russlands
an der regionalen kooperation - vor allem durch
die einbeziehung der regionen st. petersburg und
kaliningrad - sicherzustellen. insbesondere russland wird
erkennen, dass politische stabilitaet und wirtschaftliche
prosperitaet in einem mittel- und osteuropa, das
sich der europaeischen union anschliesst, auch in
seinem eigenen interesse liegt. wir ermutigen sie
deshalb zu einer aktiven und konstruktiven ostpolitik.
mit der verflechtung wirtschaftlicher interessen
und dem politischen dialog mit ihren oestlichen nachbarn
koennen und muessen sie selbst einen wesentlichen
beitrag zur vertrauensbildung und stabilisierung
in der region leisten. vertrauensbildung darf allerdings
keine einbahnstrasse sein: auch in russland ermutigen
wir neues denken im umgang mit seinen westlichen
nachbarn.
die europaeische union weiss, dass das baltisch-russische
verhaeltnis von grosser bedeutung fuer stabilitaet und
sicherheit in der gesamten region ist. im baltikum
kann sich am ehesten erweisen, dass partnerschaftliche
kooperation weiter traegt als ein denken in hegemonialen
kategorien. von einem sicheren und prosperierenden
baltikum gehen stabilisierende impulse in die gesamte
ostseeregion aus. diesem ziel dient auch die initiative
der europaeischen union fuer einen stabilitaetspakt,
an der sich die baltischen staaten bislang konstruktiv
beteiligt haben.
vor diesem hintergrund ist es nur zu begruessen, dass
russland mit dem fristgerechten abzug seiner truppen
im sommer dieses jahres aus estland und lettland
ein wichtiges vertrauensbildendes zeichen gesetzt
hat, das eine umfassende normalisierung und stabilisierung
der baltisch-russischen beziehungen ermoeglicht.
die europaeische union hat hierzu einen wichtigen
beitrag geleistet. auf dieser grundlage sollte es
moeglich sein, die noch offenen fragen im geiste
der guten nachbarschaft auf dem wege des dialogs
zu loesen. ich denke hierbei etwa an die frage der
russischsprachigen bevoelkerung in estland und lettland.
die europaeische union weiss um die groesse und schwierigkeit
dieser aufgabe, zu der es allerdings keine alternative
gibt. sie ist bereit, hierzu im rahmen ihrer moeglichkeiten
- etwa ueber den stabilitaetspakt - ihren beitrag
zu leisten.
der weg zu einer neuen architektur europas wird
schwierig sein und mutige entscheidungen verlangen.
in ihrem zentrum wird eine vertiefte und erweiterte
europaeische union stehen. heute duerfen wir zuversichtlich
sein, dass sie auch von den baltischen staaten mitgetragen
und geformt werden wird.