Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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"Demokratie unter Druck – für eine neue politische Streitkultur": Könnte es, eine Woche nach dem Anschlag in Halle, eine dringlichere Überschrift geben?

Der 9. Oktober 2019 war ein Tag der Scham, ein Tag der Schande für dieses Land, für diese Demokratie. Und dieser Tag hat auf erschreckende Weise deutlich gemacht: Ja, wir haben ein Problem mit unserer politischen Streitkultur. Mit einer Streitkultur, die über die vergangenen Jahre ein gefährliches Substrat aus verrohter Sprache, Hass und Hetze hat wachsen lassen. Der Weg von solch verrohter, zynischer, unerbittlicher Sprache zur offenen Gewalt, er ist ganz offensichtlich kurz geworden.

Ja, es gibt Grenzen im freien, demokratischen Diskurs. Es gibt eine Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen. Und spätestens – allerspätestens! – seit dem 9. Oktober sollten wir in diesem Land verstanden haben, dass jeder und jede eine Verantwortung trägt, diese Grenze zu wahren, sie neu zu ziehen, wo sie verwischt wird.

Wer heute noch von Einzelfällen spricht, der redet an der Tiefenstruktur des Problems vorbei. Wahr ist doch, dass sich im ganzen Land politisch motivierte gewaltsame Übergriffe mehren, sowohl auf Menschen, die sich für unser Gemeinwesen einsetzen, als auch gegen Menschen, die anders aussehen, anders denken, anders glauben. Wer den Zusammenhang dieser Gewalt mit der Verrohung unserer Debatten leugnet, der ist entweder naiv oder ignorant.

Wie kann ein Täter in der politischen Beruhigungssprache als Einzeltäter gelten, wenn er von rechtsextremen Seilschaften im Internet inspiriert und getragen, von dumpfen Parolen auf Marktplätzen und in sozialen Medien befeuert wird?

Die Tat von Halle reiht sich ein in eine lange Linie von rechtsextrem, antisemitisch oder rassistisch motivierten Morden und Gewalttaten in unserem Land. Denken wir an die Anschläge von München, auf das Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde, auf das Oktoberfest, an Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Hoyerswerda, an die Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds und zuletzt an den Mord an Walter Lübcke. Denken wir auch jenseits unserer Grenzen an Oslo und Utøya in Norwegen, an Pittsburgh in den USA oder an Christchurch in Neuseeland.

All diese Taten waren aus Worten erwachsen – aus kruden Manifesten, aus einschlägigen Internet-Foren, aus verrohter Sprache, aus schrittweisen Grenzverschiebungen, auch aus Beschwichtigungen und Relativierungen, aus stillen oder expliziten Sympathiebekundungen all derer, die nicht selbst zur Waffe greifen, aber das Wort als Waffe nutzen und – offensichtlich erfolgreich – die Hirne von anderen programmieren.

Ich will offen bekennen: Mich entsetzt die kaum verhohlene Bereitschaft zur Gewalt, die den Tätern den Rücken stärkt. Mich entsetzt die dumpfe Verachtung von Minderheiten, von Andersdenkenden, von demokratischen Institutionen. Mich entsetzen Äußerungen, die die Opfer solcher Gewalt vor der Tat zu Freiwild erklären und sie im Nachgang dann auch noch verhöhnen. Lassen Sie es mich deshalb in aller Deutlichkeit sagen: Jeder, der Hass schürt, bereitet den Boden für Gewalt. Und jeder, der für Hass und Hetze, für Rechtsextremismus und Fremdenhass auch nur einen Funken Verständnis aufbringt, der macht sich mitschuldig!

Nach Halle sind Bestürzung und Entsetzen im Land groß. Und gleichzeitig fragen sich viele im Angesicht dieser wahrlich furchtbaren Tat: Was bedeutet das für mich? Was kann ich schon tun, außer erschüttert und entsetzt zu sein? Meine Antwort ist: mehr, als die meisten denken! Denn buchstäblich wir alle prägen auf ganz unterschiedliche Art und Weise das Debattenklima in unserem Land.

Halle und die vielen anderen Gewalttaten sind in Wahrheit die grausame Spitze eines Eisberges von Verrohung und Polarisierung, der doch inzwischen ganz tief in unsere Alltagskultur eingedrungen ist. Und ich glaube: Jeder und jede von uns kann und muss Sorge tragen für den politischen Streit um sich herum, im sozialen Netzwerk, im Betrieb, in der Kneipe und am eigenen Abendbrottisch.

Ich bin froh, dass die Konrad-Adenauer-Stiftung das Thema Streit- und Debattenkultur schon seit einiger Zeit in den Blick genommen hat. Denn Sie als Stiftung wissen – und gerade Sie, Herr Lammert, als langjähriger und hochgeachteter Hüter der parlamentarischen Debatte in diesem Land, Sie wissen: Alle politische Kultur beginnt im Diskurs. Die Art unseres Streitens steuert unser Handeln. Umgekehrt bedeutet das: Wer in einem friedlichen Land leben will, der darf Gewalt auch in der Sprache niemals tolerieren!

Natürlich tragen Politik und Parteien für die Streitkultur zuvörderst eine herausragende Verantwortung. Vor wenigen Tagen ist mir dazu ein kurzes Zitat in die Hände gefallen. Es geht so: "Darum darf ich den Wunsch aussprechen, die maßgebenden politischen Parteien möchten bei dem Wahlkampf, der nun entbrennen wird, mit dafür sorgen, daß man ehrlich und in vornehmer Weise miteinander kämpft."

Ehrlich und in vornehmer Weise miteinander kämpfen – das hätte man sich vermutlich in so manchem Wahlkampf der letzten Jahre gewünscht. Aber diese Worte stammen nicht etwa vom ehemaligen Bundestagspräsidenten und ebenso wenig vom Bundespräsidenten, sondern die Mahnung ist 70 Jahre alt, ausgesprochen von Konrad Adenauer ausgerechnet am 8. Mai 1949 vor dem Parlamentarischen Rat, exakt vier Jahre nach dem Untergang der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Adenauer, der erster Kanzler der jungen Republik werden sollte, er sorgte sich um die politische Streitkultur in einem Land, das zwölf Jahre lang nicht hatte streiten dürfen, das von nationalsozialistischem Fanatismus und Menschenhass indoktriniert worden war und dessen Osten bereits neue Unterdrückung erfahren musste.

Und Adenauer sorgte sich um die Debatte in einem Land, dessen erster Versuch einer Demokratie gescheitert war – einer Demokratie, die nicht in der Lage gewesen war, genau jene Grenzen zu ziehen, die sie zu ihrem eigenen Überleben gebraucht hätte. Von Anfang an trachteten ihr radikale Republikfeinde von rechts und links nach dem Leben, verschrien Parlamente als "Quatschbuden" und die Demokratie als "undeutsches System", und in einer leider Gottes langen und unheilvollen Tradition antiliberalen Denkens vergifteten sie die freiheitlichen Errungenschaften von 1918 und 1919 mit Rassenhass, völkischem Wahn und Obrigkeitskult. Die Zerstörung der ersten deutschen Demokratie, die Infragestellung ihrer Institutionen, das Lächerlichmachen ihrer Repräsentanten in willfährigen Medien, das hatte alles stattgefunden, lange bevor die Nationalsozialisten sich mit Mehrheit in den Parlamenten breitmachten.

Das waren die historischen Erfahrungen, die Konrad Adenauers Sorge um die Debattenkultur geprägt haben. Wir heute haben es mit Phänomenen zu tun, an die in Adenauers Zeit kaum zu denken war: weltumspannende, multimediale, millionenfach vernetzte Kommunikation im Sekundentakt, mit mehr Teilnehmern als jemals zuvor und vor allem mit immer mehr Sendern statt Empfängern. Die Reichweiten und Möglichkeiten politischer Debatten sind enorm gewachsen – ihre Gefährdungen aber mindestens genauso sehr.

Eines will ich klarstellen: Es geht in meinen Augen schon lange nicht mehr um die Frage, ob "das Internet" nun eine gute oder schlechte Sache für die Demokratie sei, der Allheilsbringer oder die Abrissbirne. Und schon gar nicht sollten wir einem Gegensatz zwischen den Generationen das Wort reden, zwischen einer vermeintlich homogenen "Netz-Community" auf der einen Seite und den ahnungslosen "Offline-Oldies" auf der anderen Seite.

90 Prozent der Deutschen sind heute in der einen oder anderen Form online aktiv. Und damit ist der politische Diskurs im Internet, ganz nüchtern, zu einem festen Bestandteil unserer Demokratie geworden. Das bedeutet schlicht und einfach: Demokratischer Diskurs wird in Zukunft nur gelingen, wenn er auch im Netz gelingt. In meinen Augen geht es also nicht in erster Linie um die Digitalisierung der Demokratie, so wie es die Silicon-Valley-Pioniere und ihre Vordenker lange Jahre propagiert haben, sondern um die Demokratisierung des Digitalen – das ist die dringende Aufgabe unserer Zeit!

Und genauso wie ich diesen Appell an die Politik richte, so richte ich ihn an Medien und Journalismus. Es ist ein kostbares Gut für diese Demokratie, dass Zeitungen und öffentlich-rechtlicher Rundfunk großes Vertrauen genießen, übrigens auch und gerade bei der Jugend, bei gut 80 Prozent nach einer neuen Studie – in einer Generation, die zwar von Twitter, Facebook, Youtube geprägt ist, ihnen dennoch offensichtlich mit kritischer Skepsis gegenübersteht. Und eben deshalb rate ich den Medien: Baut in der digitalen Überflutung auf genau diese Stärke, auf Verlässlichkeit, Differenzierung und solide Recherche, und verzichtet dafür gern auf den täglichen Hype und die nächste Erregungskurve. Nicht die schnelle, sondern die richtige Nachricht schafft Vertrauen! Wenn das doch nur alle in den Medien auch so sähen.

Wenn wir über die Debattenkultur im digitalen Zeitalter sprechen, so können wir nicht nur auf unser eigenes Land schauen. Dann müssen wir sehen, was um uns herum geschieht. Autoritäre Herrschaftsformen treten immer selbstbewusster auf der Weltbühne auf und machen sich digitale Technologien skrupellos zunutze, von Big-Data-Überwachung bis hin zu Troll-Armeen. Die westlichen Demokratien hingegen scheinen digital verwundbar, ihre Wahlkämpfe – nicht nur einmal – erschüttert von Manipulation, Desinformation und Polarisierung.

Neue Populisten verstärken die Erosion, indem sie den – in Adenauers Worten – "ehrlichen und vornehmen" politischen Streit auszuhebeln versuchen, durch Einschüchterung, durch Getöse, durch Verächtlichmachung unabhängiger Medien und rechtsstaatlicher Institutionen. Ja, in vielen liberalen Demokratien des Westens, auch bei uns in Europa, wächst eine Faszination des Autoritären – und mit ihr die Bereitschaft, jene stille Vereinbarung, die uns Demokratinnen und Demokraten auf eine zivilisierte Streitkultur verpflichtet, sukzessive aufzukündigen.

Vieles davon ist uns in Deutschland vielleicht noch erspart geblieben. Unsere Debatten sind, allen Auswüchsen zum Trotz, nach wie vor durch einen vernünftigen Umgang miteinander geprägt. Das ist ein enorm kostbares Gut. Aber wir dürfen es eben keinesfalls für ewig garantiert halten, im Gegenteil: Die Aufkündigung des demokratischen Konsenses erfolgt – auch nicht in unserem Land – auf einen Schlag, sondern sie erfolgt sukzessive, durch viele kleine, aber spürbare Nadelstiche: hier eine Herabsetzung des Gegenübers, dort eine historische Relativierung, dann eine Verächtlichmachung des politischen Systems, schließlich eine Verhöhnung der Opfer von Gewalttaten. Jeder einzelne Versuch womöglich zu klein, um uns aus der Ruhe zu bringen. Aber die schiere Flut und Dauererregung scheinbar viel zu groß, um als Einzelner gegensteuern zu können. Und genau dort liegt in meinen Augen aber die Gefahr. Denn gerade in der Summe, in der täglichen Kanonade von Angriffen werden aus vielen kleinen Verletzungen die klaffenden Wunden, an denen unsere Debattenkultur heute krankt und erodieren kann.

Ich fürchte, wir müssen uns eingestehen: Diejenigen, die der liberalen Demokratie schaden wollen, sind im Netz viel zu oft viel effektiver aufgestellt als die, die für sie einstehen. Es sind verhältnismäßig kleine Gruppen, die unverhältnismäßig großen Lärm und Schaden erzeugen. Wir müssen erkennen, dass der digitale Raum von extremistischen Netzwerken gezielt genutzt wird, um Andersdenkende einzuschüchtern, um Angst unter Minderheiten zu verbreiten, um liberale Werte offen zu verhöhnen und die freiheitliche Demokratie an der Wurzel zu vergiften.

All das zu beklagen, ist das eine. Abzuleiten, was zu tun wäre, ist das andere. Für mich jedenfalls folgt daraus mindestens zweierlei.

Erstens müssen wir geltende Regeln strikter durchsetzen. Der Anschlag auf unsere Demokratie beginnt nicht erst mit dem politischen Mord. Antisemitische oder rassistische Beleidigungen, islamophobe oder homophobe Herabsetzungen, immer und immer wieder auch frauenverachtende, sexistische, auf brutalste Weise entwürdigende Äußerungen, wie sie auch Renate Künast und viele andere öffentlich erdulden müssen, solche Entgleisungen sind es, die der Gewalt den Weg bereiten.

Und auch wenn das Unsägliche täglich, ja sekündlich geschieht, dürfen wir es doch niemals zur Normalität werden lassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen im digitalen Dauerfeuer jeden Schutz verlieren!

Es ist gut, dass der Gesetzgeber in diesen Wochen nach Wegen sucht, strafbare Äußerungen, gerade auch im digitalen Raum, mit neuer Konsequenz zu ahnden.

Es ist gut, dass Polizei und Staatsanwaltschaften sich verstärkt der Durchsetzung von geltendem Recht im Netz widmen.

Es ist gut, dass die unabhängige Gerichtsbarkeit mit diesen Fragen ringt und nach Antworten sucht, die unserem Recht, unseren Gesetzen und den Grundwerten unserer Verfassung Rechnung tragen. Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, dass unsere höchsten Gerichte sich einmal grundlegend dem Gleichgewicht von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz im digitalen Zeitalter widmen müssen.

Und selbstverständlich wird bis zu den erwarteten gesetzgeberischen Entscheidungen oder einer höchstrichterlichen Neubewertung weiter diskutiert über den richtigen, über den notwendigen Persönlichkeitsschutz. Das muss so sein. Auch wenn eine einzelne richterliche Entscheidung nicht auf Beifall stößt – wir haben um uns herum, auch in Europa, viele Beispiele dafür, dass unabhängige Justiz und rechtsstaatliche Verfahren Voraussetzung jeder funktionierenden Demokratie sind. Wo das nicht gewährleistet ist, leidet die Demokratie. Deshalb sage ich auch, trotz Fragen, die an einzelne Urteile und Entscheidungen gestellt werden: Vertrauen wir auf die Kraft unserer rechtsstaatlichen Institutionen und auf den gesetzgeberischen Willen. Denn es sind starke Institutionen, und ich bin mir sicher, sie werden die neue Gefährdung im digitalen Zeitalter nicht ignorieren. Soviel zu den Regeln.

Zweitens: Und mindestens ebenso wichtig ist, dass die demokratische Mehrheit sich nicht vertreiben lässt vom Gebrüll der Wenigen – und das nicht nur von den Marktplätzen, sondern auch in den Kommentarspalten und Debattenräumen im Internet! Denn die Hater stehen nie und nimmer für die Mehrheit in diesem Land – sie sind am Ende nichts weiter als tobende und geifernde Scheinriesen.

In unzähligen Reden und Veranstaltungen loben wir die Stärke der Zivilgesellschaft in unserem Land. Über 30 Millionen Ehrenamtliche sind es, die diese Demokratie Tag für Tag am Leben halten. Ich wünsche mir, dass diese Stärke unseres Landes auch im Netz zum Tragen kommt, viel mehr noch, als ich das bisher erkennen konnte. Die Mehrheit muss jetzt sichtbar werden, sie muss viel wirksamer werden, als sie es bislang war. Sie muss laut und deutlich das Wort ergreifen – auch im Netz.

Nur ein Beispiel aus den vergangenen Tagen: Es tut gut, zu sehen, wenn sich Hunderte und Tausende auf Straßen und Plätzen versammelt haben, um nach dem Anschlag von Halle Solidarität zu zeigen. Aber ich finde, es tut ebenso gut, zu sehen, wenn tausende Menschen im Netz mit Verve und Zivilcourage dagegenhalten, wenn der Besitzer des Döner-Imbisses, in dem ein Mensch ermordet wurde, auf Bewertungsseiten und in den sozialen Medien unter wirklich zynischen und abstoßenden Hasskommentaren zu leiden hat. Es tut gut, wenn es auch die gibt, die im Netz dagegenhalten.

Genau diesen Anspruch sollten wir miteinander haben: Überlassen wir die digitalen Räume nicht den Feinden der Freiheit und den Feinden der Demokratie!

Ich habe über Grenzen und Regeln im Diskurs gesprochen. Aber eines will ich klarstellen, was viel zu oft missverstanden wird, gerade auch in aktuellen politischen Debatten: Grenzziehung bedeutet nicht Gesprächsabbruch. Im Gegenteil, die Grenzziehung gegen Hass, Hetze und Herabsetzung ist Voraussetzung für eine gelingende, demokratische Debatte mit Andersdenkenden. Und diese Debatte über gesellschaftliche Gräben hinweg brauchen wir heute dringender denn je.

Aber wie soll das gelingen – Streit- und Debattenkultur in einer Zeit, in der die Gräben tiefer und die Fliehkräfte in der Gesellschaft offenbar größer werden?

Ich will an zwei Grundbedingungen für eine gute Streitkultur erinnern, die zwar noch viel älter sind als Konrad Adenauers Mahnung, aber nichtsdestominder aktuell: Vernunft und Zivilität nämlich. Mit Vernunft meine ich die Fähigkeit, mit Argumenten zu überzeugen, und die Bereitschaft, sich von besseren Argumenten überzeugen zu lassen und dabei die Unterscheidung von Fakt und Lüge, von Tatsachen- und Werturteil niemals preiszugeben. Mit Zivilität meine ich Wertschätzung und Vertrauen, Empathie und Respekt für ein Gegenüber, das einen legitimen Teil zur Debatte beizutragen hat.

Liberale Demokratie und Rechtsstaat sind glücklicherweise kein Nullsummenspiel, kein letztes Match, in dem wir nach dem Abpfiff den Verlierer in Schimpf und Schande vom Platz jagen. Im Gegenteil, die Demokratie ist immer auf das Morgen angelegt. Wir müssen den demokratischen Streit so miteinander führen, dass wir dem Gegenüber auch am Tag nach dem Streit noch aufrecht in die Augen schauen können.

Zum Glück wissen das offensichtlich noch die allermeisten Menschen in unserem Land. Anders als vielleicht noch am 8. Mai 1949 ist die große Mehrheit fest von den Vorzügen unserer Demokratie überzeugt. Ich glaube nur, wir müssen neue, mutige, zeitgemäße Formen und Formate finden, in denen wir diese Art des Streits, des Ringens um Lösungen miteinander führen können – gerade für die großen Fragen der Zeit, vom Klimawandel bis hin zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Diese Frage will ich zum Schluss aber nicht nur an das geschätzte Podium delegieren, sondern einen hoffnungsvollen Gedanken ans Ende setzen.

Vergangenen Mittwoch, an jenem 9. Oktober, der von den abscheulichen Gewalttaten in Halle überschattet werden sollte, war ich nur wenige Kilometer entfernt in Leipzig. Wir haben dort an den 30. Jahrestag der großen Montagsdemonstration erinnert, an jenen Höhepunkt der Friedlichen Revolution, als 70.000 Mutige für Freiheit und Demokratie auf die Straße gingen. Ja, jener 9. Oktober 1989 war eine Sternstunde in der an Glanzpunkten nicht gerade überreichlich gefüllten deutschen Demokratiegeschichte.

Heute, wo die Erinnerung an Mauerfall und Deutsche Einheit überschattet wird von Wahlergebnissen, aufgeheizten Diskussionen und Spannungen, fragen sich viele: Was ist eigentlich geblieben von jenem Elan, von jener ungeheuren Kraft, die sich vor 30 Jahren dort in Leipzig und nach und nach im ganzen Land Bahn gebrochen hat? Was ist geblieben?

Ich glaube: Wir haben da einen gewaltigen Erfahrungsschatz in unserem Land, aus dem wir bisher noch viel zu wenig gemacht haben. Gerade auf der Suche nach der Demokratie von morgen hat uns das Erbe der Friedlichen Revolution, das Erbe Ostdeutschlands viel zu sagen.

Denn damals, vor 30 Jahren, haben sich die Friedlichen Revolutionäre unabhängig erklärt von staatlicher Gewalt und ideologischer Vormundschaft. Die Menschen fanden einander als Bürgerinnen und Bürger. Sie, die ganz unterschiedlichen, gegensätzlichen Teile einer Gesellschaft im Umbruch, setzten sich zusammen an Runden Tischen, sie diskutierten voller Leidenschaft, sie entwarfen sogar eine neue Verfassung, und sie suchten an diesen Runden Tischen eine neue Zukunft für das Land.

Warum knüpfen wir eigentlich nicht daran an? Warum zeigen wir einander nicht noch mal aufs Neue, wie gute Debatte wirklich funktionieren kann? Lassen wir uns inspirieren vom Vorbild der Runden Tische, an denen voller Leidenschaft, aber auch unideologisch, offen und pragmatisch Politik gemacht wurde. Es gibt auf lokaler Ebene schon viele spannende Ideen, die vielleicht auch Landes- und Bundespolitik bereichern könnten. Gerade weil die Gräben in der Gesellschaft heute noch tiefer sind als vor Jahren, glaube ich: Es ist Zeit für neue Runde Tische in diesem Land. Nicht zur Vermeidung von Streit, sondern zum Gelingen des Streits. Ich glaube, das würde diesem Land gut tun. Und ich freue mich auf die Diskussion.

Herzlichen Dank!