Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

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Sehr geehrter Herr Professor Hütter,
sehr geehrter Herr Winands,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Schneider,
sehr geehrte ehemalige und heutige Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestags – ich schaue gerade Jürgen Rüttgers an –,
lieber Herr Krings,
natürlich werte Gäste dieses Tages,

wie sehen Demokratie und Dialog, Offenheit und Austausch aus, wenn sie in Architektur übersetzt werden? So wie hier im Haus der deutschen Geschichte, finde ich. Die Architekten Ingeborg und Hartmut Rüdiger haben die Idee dieses Museums in Stein und Glas umgesetzt. Damit strahlt das Gebäude eine Atmosphäre der Offenheit aus, die geradezu zum Dialog einlädt. Die weitläufigen Glasfronten gewähren gleichermaßen Aus- und Einblicke. Schon das lichtdurchflutete Foyer vermittelt den Eindruck, nichts im Dunkeln lassen zu wollen. Seit 25 Jahren ist das Haus der Geschichte Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Es fördert Geschichtsbewusstsein und regt zum Austausch über unsere jüngere und jüngste Geschichte an.

Das gilt im Übrigen für alle vier Stätten der Stiftung – neben dem Haus hier in Bonn auch für den "Tränenpalast" und das Museum in der Kulturbrauerei in Berlin sowie das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig. Das Zusammenwirken an den verschiedenen Standorten in Ost und West macht die Stiftung selbst zu einem Beispiel gelebter Deutscher Einheit, auch wenn die Einheit sozusagen als unvorhergesehene Sache während des Baus dieses Hauses dazwischenkam. Alle Standorte sind Orte des Lernens und Erlebens, des Erinnerns und Wiedererkennens und auch des Staunens. Denn es ist ein lebendiges Geschichtsbild, das hier vermittelt und präsentiert wird. Das zeigt sich, glaube ich, ganz besonders an den Wechselausstellungen.

Es freut mich sehr, gemeinsam mit Ihnen das Jubiläum einer Institution zu feiern, die es sich zum Ziel gesetzt hat, ein facettenreiches Geschichtsbild zu vermitteln – und zwar gleichermaßen sehr ansprechend wie auch hohen wissenschaftlichen Ansprüchen genügend. So wirkt das hier vermittelte Geschichtsbild in bestem Sinne wie ein Mosaik. Welche Teile und wie viele Teile dieses Mosaiks sich den Besucherinnen und Besuchern auch immer erschließen mögen – fest steht, dass jeder und jede, der oder die sich auf die hier mögliche Zeitreise durch die Vergangenheit begibt, in jedem Fall eine Ahnung von dem ganzen Bild bekommt; also davon, was die nationale und kulturelle Identität unseres Landes ausmacht und prägt. Das zu schaffen, ist eine große und überaus verdienstvolle Leistung. So gratuliere und danke ich allen von Herzen, die die 25 Jahre dieses Hauses zu ganz außergewöhnlichen 25 Erfolgsjahren gemacht haben. Herzlichen Glückwunsch.

Es trifft sich natürlich gut, dass wir in diesem Jubiläumsjahr des Hauses der Geschichte an besonders viele geschichtsprägende Ereignisse unseres Landes erinnern können: vorneweg an die Verabschiedung des Grundgesetzes vor 70 Jahren und den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren, aber auch an die Bildung der Weimarer Nationalversammlung und das Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung vor 100 Jahren, an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren, an die Landung der Alliierten vor 75 Jahren in der Normandie, die den Anfang vom Ende dieses von Deutschland entfesselten Kriegs und des Zivilisationsbruchs der Shoa markiert. In einem Haus wie diesem können wir förmlich spüren, dass Geschichte nichts Abstraktes ist, sondern etwas, das jede und jeden von uns berührt.

Heute vor 25 Jahren, auf den Tag, ja, sogar beinahe auf die Stunde genau, am 14. Juni 1994, eröffnete Bundeskanzler Helmut Kohl dieses damals wie heute außergewöhnliche Museum deutscher Zeitgeschichte. Dieses Haus war ihm eine Herzensangelegenheit. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland im Herbst 1982 hatte er angeregt, dass eine Sammlung zur deutschen Geschichte seit 1945 entsteht, gewidmet der Geschichte unseres Staates und der geteilten Nation. Auf diesen Vorschlag – man kann es sich vorstellen – reagierten damals nicht alle mit Begeisterung. Vielmehr folgte eine erregte Debatte. Manche befürchteten eine gleichsam von oben verordnete Geschichtsschreibung, eine vermeintlich regierungsamtliche Sicht der Geschichte. Aber das lag Helmut Kohl nun wirklich völlig fern. Er pochte auf institutionelle Selbständigkeit und inhaltliche Unabhängigkeit. In diesem Sinne entstand dann 1990 die Stiftung Haus der Geschichte, in der sowohl ein wissenschaftlicher Beirat als auch ein Arbeitskreis gesellschaftlicher Gruppen mitwirken.

Der Eintritt in das Haus ist frei. Das ist im Gesetz zur Errichtung der Stiftung festgeschrieben. Die Kosten trägt der Bund. Ich finde, dies waren beides sehr kluge Entscheidungen, denn dieses Haus soll allen offen stehen. Dieses Haus will alle einladen. In den letzten 25 Jahren zogen allein die mehr als 140 Ausstellungen in Bonn nahezu 20 Millionen Besucherinnen und Besucher an.

Das Haus der Geschichte erzählt die Geschichte unseres einst geteilten und seit bald drei Jahrzehnten wiedervereinten Landes. Es erzählt zugleich die Geschichten der Menschen in unserem Land. Es gibt Antworten auf viele, viele Fragen: Wie wohnen die Deutschen? Wie kleiden sie sich? Wie reisen sie? Worüber lachen sie? Wie sieht ihr Vereinsleben aus? Wie hat sich jüdisches Leben in Deutschland seit 1945 neu entwickelt?

Im Haus der Geschichte können alte Karikaturen und Spielsachen, Möbel und Haushaltsgeräte bestaunt werden. Hier hat der VW-Bulli genauso seinen Platz wie der Trabant. Die Besucherinnen und Besucher können in Erinnerungen an früher schwelgen – oder sich an den Kopf fassen angesichts dessen, was einmal als guter Geschmack galt. Jedes Sammlungsstück hat seine eigene Geschichte. Jede und jeder kann persönliche Erinnerungsstücke zur Sammlung beisteuern, die etwas über eine bestimmte Zeitphase aussagen – und wenn es nur eine selbst aufgenommene Musikmix-Kassette ist.

Über eine Million Objekte der Zeitgeschichte wurden im Haus der Geschichte bislang zusammengetragen. Oft sind es gerade die kleinen Dinge und Gegenstände des Alltags, die die großen Zusammenhänge und Fragen der Zeitgeschichte anschaulich widerspiegeln. Auch etwas an sich Unscheinbares wie ein Zettel mit handschriftlichen Notizen kann Geschichte machen, wie wir seit der denkwürdigen Pressekonferenz von Günter Schabowski am Abend des 9. November vor 30 Jahren wissen. Damals trauten wir Deutschen kaum unseren Ohren, als Schabowski verkündete, dass Ausreisen über die DDR-Grenzstellen unverzüglich möglich wären. Keine Frage, dass sein Sprechzettel in der Sammlung des Hauses der Geschichte nicht fehlen darf. Auch eine Strickjacke und ein Pullover erzählen die Geschichte unserer Wiedervereinigung. Helmut Kohl und Michail Gorbatschow zeigten sich so gekleidet, als sie 1990 im Kaukasus über die Deutsche Einheit sprachen.

Es sind aber natürlich nicht nur Sachen, aus denen Geschichte spricht, sondern ganz besonders die Zeitzeugen, die Geschichte nahebringen und nachvollziehbar machen. Ihre persönlichen Berichte und Erzählungen berühren. Sie verbinden uns unmittelbar mit historischen Begebenheiten. Es gibt kaum eindringlichere Mittel und Wege, sich der Vergangenheit zu nähern. Daher kann ich es nur begrüßen, dass die Stiftung ein großes Zeitzeugenportal eingerichtet hat – auf Initiative der Bundeskulturbeauftragten Monika Grütters.

Mittlerweile sind rund 12.000 Zeitzeugeninterviews erfasst, in Video- und Audioformat, und über das Internet zugänglich gemacht. Hinzu kommen rund 1.000 Interviews des Mainzer Vereins Gedächtnis der Nation. Zu Wort kommen Persönlichkeiten aus allen Bereichen der Gesellschaft mit mehr oder minder staatstragenden Funktionen. Sie alle haben ihre eigenen, ihre persönlichen Antworten auf historische Fragen: Wie wurde 1914 die so oft zitierte Euphorie bei Kriegsausbruch erlebt? Was bedeutete es, als Jude 1938 den Novemberpogromen machtlos und schutzlos ausgesetzt gewesen zu sein? Wie haben die West-Berliner die Blockade ihrer Stadt 1948/49 überstanden? Wie erlebte ein Schüler den Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR? Wie war es, mitansehen zu müssen, als der Bau der Berliner Mauer 1961 Familien trennte und Lebensträume zerstörte?

Schon allein diese wenigen Fragen verdeutlichen, dass sich die deutsche Geschichte seit 1945 nicht isoliert ohne ihre Vorgeschichte erzählen lässt. Natürlich nicht. Denn ohne Bezugnahme auf die Weltkriege und die immerwährende Verantwortung Deutschlands für den Zivilisationsbruch der Shoa ließe sich die Entwicklung der deutschen Nachkriegsgeschichte gar nicht erklären und schon gar nicht eine gute Zukunft gestalten.

Dazu gehört dann auch, dass das Haus der Geschichte nicht für sich allein steht, sondern eine Ergänzung mit dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig und dessen Fokus auf Opposition und Widerstand in der DDR findet. Das Forum in Leipzig wurde vor fast 20 Jahren eröffnet – am 9. Oktober 1999, dem zehnten Jahrestag der großen Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989. Als damals mehr als 70.000 Menschen in Leipzig friedlich und mit Kerzen für Reformen demonstrierten, lag eine unglaubliche Spannung in der Luft. Viele Teilnehmer hatten vorher Abschiedsbriefe geschrieben. Die Polizei und die Staatssicherheit der DDR hatten sichtbar Vorbereitungen getroffen, um mit Gewalt gegen die Demonstrierenden vorzugehen. Aber sie taten es nicht, sondern schreckten zurück vor den vielen Menschen, vor ihrem Mut und ihren Gebeten.

Viele können sich heute kaum noch vorstellen, was es 40 Jahre lang bedeutet hatte, in einem geteilten Land mit Mauer und Stacheldraht zu leben. Daran zu erinnern – mit Zeitzeugen und Ausstellungen –, bleibt deshalb eminent wichtig. Auch deshalb wurde im Jahr 2008 die Gedenkstättenkonzeption des Bundes fortgeschrieben. Damit war auch die Grundlage geschaffen für den Erinnerungsort im "Tränenpalast" an der Berliner Friedrichstraße und das Museum in der Berliner Kulturbrauerei, das den Alltag unter der SED-Diktatur beleuchtet. Zum Beispiel zu solchen Fragen: Wie war es, Kind in der DDR zu sein? Wie war es, in einem Land zu arbeiten, in dem offiziell keine Arbeitslosigkeit herrschte? Vor allen Dingen: Wie war es, wenn man nicht arbeiten wollte? – Das war nämlich nicht erlaubt. – Unter welchen Umständen wurde es gestattet, in das sogenannte westliche Ausland zu reisen?

Antworten auf diese und viele andere Fragen sollten sich insbesondere auch jüngeren Generationen immer wieder erschließen, die die deutsche Teilung glücklicherweise selbst nicht mehr erleben mussten. Deshalb ist es so wichtig, dass das Stiftungskonzept überzeugt und das Bonner Haus auch anderen Häusern der Geschichte Vorbild ist – in Deutschland und darüber hinaus: etwa dem Haus der Geschichte Baden-Württemberg, dem vor wenigen Tagen eröffneten Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg, dem Haus der Geschichte Österreich, dem Haus der europäischen Geschichte in Brüssel und nicht zuletzt auch dem Aufbau des neuen "Forum Recht" in Karlsruhe, das das Wesen und den Wert von Recht und Rechtsstaat verdeutlichen und vermitteln will.

Auch das Haus der Geschichte hier in Bonn entwickelt sich immer weiter – zum Beispiel indem es historische Orte unserer Demokratie zugänglich macht: den Kanzlerbungalow im Garten des Palais Schaumburg, das Arbeitszimmer des Bundeskanzlers, den großen Kabinettsaal im früheren Bonner Bundeskanzleramt, den ehemaligen Plenarsaal des Bundesrats, in dem Konrad Adenauer vor 70 Jahren das Grundgesetz verkündete. Nicht mehr aufgenommen werden in diesen Reigen konnte der alte Bonner Plenarsaal des Deutschen Bundestags. Aber er wurde natürlich nicht vergessen, denn kein Ort stand so sehr für Bonn und 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland mit Demokratie und Stabilität in Frieden und Freiheit wie dieser Saal des Deutschen Bundestags. Die Dauerausstellung des Hauses der Geschichte zeigt sein Originalgestühl. Die Besucherinnen und Besucher können sich dort selbst aussuchen, welche Filmausschnitte aus dem Parlamentsleben sie sich anschauen. Das ist lebendige Demokratiegeschichte.

Das Haus der Geschichte ist auch ein Ort der Selbstvergewisserung. Es zeigt, was uns und unser Land geprägt hat. Damit prägt es auch unser Geschichtsbewusstsein. Letztlich ist es auch selbst zu einem Teil der deutschen Geschichte geworden. Geschichte bietet Orientierung. Mit Geschichtsbewusstsein lassen sich aktuelle Entwicklungen in Deutschland, Europa und der Welt erkennen und einordnen. Wer sich zum Beispiel vor Augen führt, was Robert Schuman, Jean Monnet und Konrad Adenauer bewogen hatte, Europa politisch und wirtschaftlich näher zusammenrücken zu lassen, kann besser verstehen, warum wir uns für dieses Europa auch heute einsetzen müssen, warum es so wichtig ist, verschiedene Interessen zusammenzuführen, zu Kompromissen bereit zu sein – multilateral statt unilateral, global statt national, gemeinsam statt allein zu denken und zu handeln.

Gerade auch deshalb darf ein Geschichtsmuseum niemals in der Vergangenheit stehen bleiben. Es darf keinen Staub ansetzen, es muss mit der Zeit gehen, wenn es auch in Zukunft viele Besucherinnen und Besucher ansprechen will. Deshalb freue ich mich, dass die Stiftung Haus der Geschichte vorbildlich zeigt, wie ein Museum auch im digitalen Zeitalter attraktiv bleiben kann.

Die Nutzung neuer Medien ist mehr als eine technische Frage. Um mehr Sensibilität im Umgang mit Medien zu stiften, hat das Haus der Geschichte schon vor Jahren die Ausstellung "Bilder, die lügen" ins Leben gerufen. Medienkompetenzen zu stärken und Manipulationen als solche zu entlarven – das bleibt im modernen Informationszeitalter wichtiger denn je, in dem ohnehin nicht selten von sogenannten alternativen Fakten die Rede ist – ein Begriff, der als solcher schon eine hochinteressante Kombination ist.

Auch mit der Gestaltung der Innenarchitektur bleibt das Haus der Geschichte am Puls der Zeit. Das ist an der neuen Lounge leicht zu erkennen. Hier kann man sich etwa in sogenannten Sonic Chairs Zeitzeugeninterviews anhören. Die moderne Räumlichkeit lädt nicht nur zum Informieren, sondern einfach auch zum Verweilen und zum Gespräch ein.

Da sich die Welt weiter wandelt und mit ihr auch unser Bild von der Welt, ist es wichtig, immer wieder einen Bezug zur jeweiligen Gegenwart herzustellen, um Menschen anzusprechen. Das heißt für die Stiftung, immer wieder auch die Konzeption der Dauerausstellungen an den einzelnen Standorten zu überprüfen und gegebenenfalls zu überarbeiten. Genau das geschieht ja auch – übrigens auch im Bundeskanzleramt, wo sich im Foyer eine Staatsgeschenkeausstellung befindet, deren Überarbeitung pünktlich zum Tag der offenen Tür der Bundesregierung im August fertig sein wird. Auch wir laden nach Berlin ein, wenn man das in Bonn darf.

Ich bin gespannt darauf, wie die neue Ausstellung aussieht und werde sie natürlich in Augenschein nehmen. Ich muss zugeben, dass ich noch in die Kulturbrauerei schauen muss. Den "Tränenpalast" habe ich mir schon angeschaut und meine Erinnerung an die Vergangenheit wieder aufgeweckt, aber die Kulturbrauerei liegt noch vor mir. Insofern wird jeder und jede von Ihnen sicherlich auch noch etwas zu entdecken haben, was Sie noch nicht genau kennen, was man noch näher betrachten muss. Ich glaube, gerade auch in der heutigen Zeit sind Geschichte und Gegenwart immer wieder in eine Verbindung zu bringen.

Dass Sie das alle tun, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Hauses, lieber Herr Hütter, dafür ein herzliches Dankeschön. Alles Gute für die nächsten 25 Jahre.