Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

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Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Armin Laschet,
sehr geehrter Herr Außenminister Çavuşoğlu,
sehr geehrter Herr Botschafter,
Frau Staatsministerin,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus der nordrhein-westfälischen Landesregierung und aus den Parlamenten,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren
und vor allem natürlich: liebe Familie Genç,

vor 25 Jahren hat uns der Brandanschlag auf Ihr Wohnhaus in Solingen bis ins Mark erschüttert. Fünf junge Mädchen und Frauen wurden ermordet, weitere Familienmitglieder wurden schwer verletzt und kämpfen zum Teil immer noch mit den Folgen der Verletzungen.

Liebe Frau Genç, es gibt nichts, was über den Verlust Ihrer Töchter Gürsün und Hatice, Ihrer Enkelinnen Hülya und Saime und Ihrer Nichte Gülistan tatsächlich hinwegtrösten kann. 25 Jahre seit der Tat sind eine lange Zeit. Aber die Lücke in der Familie und der Schmerz – sie bleiben; für immer. Deshalb möchte ich Ihnen und allen Angehörigen mein tiefempfundenes Beileid auch am heutigen Tage aussprechen. Wir fühlen mit Ihnen.

Wie kann man nach dem Verlust der eigenen Kinder und Kindeskinder weitermachen? Wie schafft man es, nicht aufzugeben? Wie schafft man es, mit der Trauer zu leben? Wie die Kraft aufbringen, nicht in Wut und Rachegedanken zu versinken?

Liebe Frau Genç, diese Fragen wurden Ihnen oft gestellt. Sie wurden auch gefragt, wie Sie nach dem, was geschehen ist, in Deutschland bleiben konnten. Ihre Antworten auf diese Fragen machen Sie zum Vorbild – zu einem Vorbild an Humanität, an Menschlichkeit. Sie haben keine Rachegefühle gehegt. Ganz im Gegenteil: Sie haben sich für Versöhnung und Verständigung ausgesprochen. Auf eine unmenschliche Tat haben Sie mit menschlicher Größe reagiert. Dafür bewundern wir Sie. Und dafür danken wir Ihnen.

Der Brandanschlag auf Ihr Haus in Solingen hat unser ganzes Land erschüttert und auch aufgerüttelt. Er war keine Einzeltat, sondern der entsetzliche Tiefpunkt einer langen Reihe menschenverachtender rechtsextremistischer Verbrechen Anfang der 90er Jahre.

Ich erinnere mich noch deutlich an die Ausschreitungen im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Nicht Einzelne, sondern Hunderte beteiligten sich an Angriffen auf ein Asylbewerberheim – auf eine Unterkunft von Menschen, die Schutz suchten, denen aber Hass und Gewalt entgegenschlugen. Geradezu fassungslos macht es mich heute noch, dass damals tausende Menschen den Tätern zuschauten, sie sogar anfeuerten und ihnen applaudierten.

Ich erinnere mich auch an den furchtbaren Brandanschlag in Mölln im November 1992, bei dem drei türkische Mitbürgerinnen qualvoll starben. Auch in Berlin, Hamburg, Eberswalde, Friedrichshafen, Saarlouis, Hoyerswerda und in vielen anderen großen und kleinen Städten landauf und landab wurden Ausländer gequält, verletzt oder gar ermordet. Die Liste ist erschreckend lang. 2011 wurde die Mordserie des selbst ernannten Nationalsozialistischen Untergrunds aufgedeckt. Mitten unter uns konnte diese Terrorgruppe über viele Jahre hinweg ihr Unwesen treiben.

Auch den Opfern und Hinterbliebenen all dieser Taten gelten heute unser Gedenken und unsere Anteilnahme. Wir werden sie und das, was ihnen in unserem Land angetan wurde, nicht vergessen. Das können wir nicht – und das dürfen wir nicht.

Denn Rechtsextremismus gehört keineswegs der Vergangenheit an. Auch heute werden Menschen in unserem Land angefeindet und angegriffen, weil sie Asylbewerber oder Flüchtlinge sind – oder weil sie wegen ihres Aussehens, ihrer Hautfarbe dafür gehalten werden, egal wie lange sie schon bei uns leben. Solche Gewalttaten sind beschämend. Sie sind eine Schande für unser Land. Damit dürfen und werden wir uns nicht abfinden, wenn uns unser Land, unser Rechtsstaat und vor allem die Würde des Menschen tatsächlich etwas wert sind.

Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus dürfen in Deutschland wie auch anderswo auf der Welt keinen Platz haben. Unserem Land aber kommt eine zusätzliche Verantwortung zu, die uns aus dem Zivilisationsbruch der Shoah in Deutschland während des Nationalsozialismus erwachsen ist. Dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit – ja, gegen die Menschheit – verpflichtet uns tagtäglich, uns für ein menschenwürdiges Zusammenleben einzusetzen.

Das ist keine abstrakte Mahnung. Denn rechtspopulistisches und rechtsextremes Gedankengut findet auch heute Verbreitung. Zu oft werden die Grenzen der Meinungsfreiheit sehr kalkuliert ausgetestet und Tabubrüche leichtfertig als politisches Instrument eingesetzt. Das aber ist kein Geplänkel, sondern ein Spiel mit dem Feuer. Denn wer mit Worten Gewalt sät, nimmt zumindest billigend in Kauf, dass auch Gewalt geerntet wird.

Und daher kann ich nur wiederholen: Die Würde des Menschen, und zwar jedes einzelnen, ist unantastbar. So ist es im Artikel 1 unseres Grundgesetzes festgehalten. Dieser richtet sich an uns alle – natürlich auch und gerade an politisch Verantwortliche. Denn wir müssen uns ganz besonders schützend vor die Menschen stellen, die Ziel von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus sind, weil der Staat eine besondere Verantwortung trägt. Das ist uns sehr bewusst.

Deshalb ist es unverzichtbar, dass die deutschen Sicherheitsbehörden alles unternehmen, was in ihrer Macht steht, um rechtsextremistische Verbrechen zu verhindern und aufzuklären. Wir wissen – und dieses Wissen schmerzt –, dass auch unseren Behörden zum Teil gravierende Fehler und Versäumnisse unterlaufen. Dafür kann ich und können wir als Bundesregierung nur um Verzeihung bitten. Und zugleich müssen wir alles daransetzen, dass wir die Sicherheitsbehörden stärken und die Zusammenarbeit zwischen den Verfassungsschützern von Bund und Ländern verbessern. Und das haben wir auch getan. Wir investieren außerdem in politische Bildung und in Prävention. Wir fördern Projekte gegen Rechtsextremismus – vor allem in strukturschwachen Regionen. Die Mittel hierfür haben wir in der vergangenen Zeit erhöht, sogar verdreifacht.

Dies alles dient einem Ziel: dem Ziel, respektvoll und friedlich in unserem Land zusammenzuleben. Dazu trägt jede und jeder Einzelne bei. Dazu tragen die bei, die gegen Hass und Gewalt ein deutliches Zeichen setzen – so wie das viele Menschen in Solingen und anderen deutschen Städten mit Lichterketten getan haben. Dazu tragen die bei, die Neuankommenden oder auch schon länger bei uns Lebenden gegenüber offen sind. Kein Mittel räumt schneller mit Vorurteilen und Menschenfeindlichkeit auf als die persönliche Begegnung. Mit Offenheit füreinander gelingt auch das Miteinander.

Offenheit hat viele Facetten. Sie bedeutet beispielsweise, dass es einerseits Integrationsangebote gibt und dass andererseits diese Angebote angenommen werden – dass es einerseits Zugang zu Bildung und Möglichkeiten der Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben gibt und dass andererseits unsere deutsche Sprache gelernt, unsere Werte akzeptiert und Berufschancen ergriffen werden.

Ich wünsche mir, dass diejenigen, die bei uns bleiben, sich hier willkommen und geschätzt fühlen, dass sie sich sicher fühlen und dass sie Deutschland zu ihrer Heimat machen können – so wie Sie, liebe Frau Genç. Sie haben in einem Interview vor fünf Jahren dazu gesagt: "Solingen ist meine Heimat, genau wie die Türkei. […] In Solingen kenne ich jede Straße. […] Heimat ist da, wo man seine Familie und seine Freunde hat, da, wo man die Straßen kennt, und weiß, wer nebenan wohnt. Die schmerzliche und die schöne Seite gehören dazu."

Ja, es liegt mir am Herzen, dass Sie und Ihre ganze Familie sich in Deutschland sicher und wohl fühlen, dass Sie sich hier heimisch fühlen, liebe Frau Genç, liebe Familie Genç.

Vielen Dank, dass ich heute zu Ihnen sprechen durfte.