"Willy Brandt-Rede" von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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"Überall müssen Autorität und Tradition sich die Frage nach ihrer Rechtfertigung gefallen lassen."

Ich bitte um Nachsicht und verweise bei kritischen Nachfragen auf das Amt, welches ich bekleiden darf, dass ich diese Rede nicht mit einem Zitat des Bundeskanzlers Willy Brandt, sondern eines Bundespräsidenten, nämlich Gustav Heinemann, beginne. Außerdem füge ich meiner Erklärung hinzu, dass mit der oben zitierten Infragestellung von Autorität und Tradition natürlich weder die Traditionen der ehrwürdigen Hansestadt Lübeck noch die Autorität Willy Brandts gemeint sein kann.

Jener berühmte Satz aus Gustav Heinemanns Antrittsrede vom 1. Juli 1969 klingt nahezu wie ein frühes Resümee des geschichtsmächtigen Jahres 1968, das nunmehr genau ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Ich will das Jahr 1968, so war es von Ihnen gewünscht, als Dreh- und Angelpunkt ins Zentrum meiner heutigen Rede stellen, denn es führt uns einerseits hinein in das politische Wirken des Bundeskanzlers Willy Brandt und seiner damaligen Koalition und eröffnet andererseits den Blick auf längere, immer noch wirkmächtige Entwicklungslinien der bundesrepublikanischen Demokratie. Gewiss ist jedenfalls, dass heute – wenn auch auf ganz andere Weise als 1968 – Autoritäten, Institutionen, ja geradezu Selbstverständlichkeiten in der liberalen Demokratie infrage gestellt werden. Auch deshalb lohnt aus meiner Sicht der Blick auf die Zeitenwende von 1968, wenn uns denn Willy Brandts Aufruf, "mehr Demokratie zu wagen", auch heute noch etwas zu sagen hat – und ich glaube, das hat er!

Ich will vorneweg Wolfgang Thierse und der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung ganz herzlich danken für die Einladung zu dieser Rede. Herzlichen Dank auch Ihnen, Herr Ministerpräsident Günther, dass Sie gekommen sind! Ich freue mich, dass ich heute gewiss nicht zum ersten Mal – wohl aber zum ersten Mal als Bundespräsident im wunderschönen Lübeck zu Gast sein darf. Herzlichen Dank für den überaus freundlichen Empfang!

Fangen wir mit den schwierigen Fragen an: War 68 eine Revolution? Die dabei waren sagen: "Wenn es so etwas gäbe, vielleicht eine halbe." Oder: "68 war keine Revolution, aber revolutionär.“ Oder: "Möglicherweise war es eine Kulturrevolution."

Nicht auf diese und, genau genommen, auf keine meiner Fragen habe ich eine einstimmige Antwort erhalten, als ich in diesem Sommer Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von 1968 zu einem Gespräch im Schloss Bellevue zu Gast hatte. Es war erstaunlich zu beobachten, wie schnell sich die Gesprächstemperatur in einer eigentlich in die Jahre gekommenen Gruppe von Menschen erhitzen kann! Zum ersten Mal seit 50 Jahren saßen da Protagonisten beider Seiten an einem Tisch – Bahman Nirumand, Helke Sander, Peter Schneider, Knut Nevermann auf der einen, Hermann Lübbe und Hans Maier als konservative Kritiker der Studentenbewegung auf der anderen. Wolfgang Kraushaar war als Chronist der Studentenbewegung auch dabei. Es dauerte keine halbe Stunde, bis die alten Konflikt- und Scheidelinien wieder offen zutage lagen. Von historischem Konsens konnte an diesem Abend jedenfalls keine Rede sein.

Daniel Cohn-Bendit hat einmal die These aufgestellt: Wäre 68 eine Revolution gewesen, dann hätten die 68er die Machtfrage stellen und für sich entscheiden müssen. Das sei nicht passiert. Und deshalb sei 68 keine Revolution, sondern eine Revolte gewesen.

Ich weiß, es ist nicht ungefährlich, sich mit 68ern in Revolutionstheorie, sozusagen auf heimischem Rasen, messen zu wollen. Aber ich wäre – fünf Jahrzehnte später und in Deutschland um die Erfahrung einer friedlichen Revolution reicher – beherzter in meinem Urteil mindestens über das revolutionäre Potenzial dieser Zeit. Mir scheint, die Machtfrage ist gestellt worden – wenn auch in anderer Weise, als damals diskutiert wurde.

Sie ist gestellt worden in unzähligen Familien, an unzähligen Abendbrottischen, zwischen Kindern und Eltern, zwischen Schülern und Lehrern, Studierenden und Professoren. Und es ging im Kern um eine Neubestimmung von Autorität. Verbote und Gebote, Lehrformen und Lehrstoffe wurden nicht mehr einfach hingenommen. Wer auf einer höheren Hierarchiestufe stand, musste sich rechtfertigen. Er musste sich Rückfragen oder gar Widerspruch gefallen lassen. Wo vorher autoritäres Verhalten in Erziehung und Bildung akzeptiert war, Kommando und schweigender Gehorsam, da mussten Eltern, Lehrer und Professoren nun eine begründete Autorität erwerben, die sich erst im Dialog gewinnen ließ. Anders gesagt: Was sich nicht begründen ließ, ließ sich auch nicht halten. Dazu zählte körperliche Gewalt und Einschüchterung in der Erziehung ebenso wie das Beschweigen der NS-Vergangenheit. Denn es gab doch schlechthin keine Familie, die nicht in jene Erfahrungen einbezogen war, und sie lagen 1968 kaum mehr als 20 Jahre zurück – weniger Zeit, als uns heute vom Fall der Mauer trennt.

Auch die Frage, ob die Machtfrage entschieden wurde, würde ich bejahen. Sie wurde entschieden, nicht im Wege des Systemumsturzes, sondern zugunsten eines neuen Gesellschaftsmodells, eines neuen Begriffs auch dessen, was "Bürgerlichkeit" bedeutet, nämlich eine Gesellschaft von Staatsbürgern mit gleichen Rechten und Pflichten, die nach politischer Teilhabe und Veränderung verlangten. Staatsbürger, für die Demokratie mehr war als die Definition einer Staatsform, nämlich die Ermutigung, all jene sozialen Verhältnisse zu hinterfragen, jene Obrigkeitshörigkeit aufzubrechen, die in das Verhängnis geführt hatten. Und sie verkörperte nicht zuletzt die Hoffnung darauf, dass sich Auschwitz nie wiederhole!

Ich selbst war 1968 zwölf Jahre alt und taugte – schon aus Altersgründen – nicht zum Revolutionär. Gleichwohl war ich alt genug, um in den folgenden Jahren zu den Ersten zu gehören, die den gesellschaftlichen und politischen Wandel spürten, der im Studentenprotest 1968 einen Katalysator gefunden hatte. Wie viele meiner Generation, bin ich der erste meiner Familie, der Abitur machen und studieren konnte, der erleben durfte, dass der Zugang zu Bildung jene gesellschaftliche und politische Teilhabe ermöglicht, die wir heute zu den elementaren Voraussetzungen einer demokratischen Gesellschaft zählen.

Nutznießer dieses politischen Wandels war natürlich nicht nur meine Generation, sondern auch nachfolgende Generationen. Wir alle profitieren von der Öffnung und Demokratisierung der Gesellschaft – sie prägt unser Land zum Glück auch heute noch!

Wenn wir also den Gedanken zulassen, dass ein fundamentaler Wandel sich nicht notwendiger Weise ad hoc, gewaltsam und auf der Straße vollzieht, sondern vor allem grundlegend und nachhaltig sein muss, dann würde ich für 1968 in Anspruch nehmen wollen: Es war ein Epochenjahr. Es stand am Ende wie am Anfang einer Entwicklung, deren Folgen ebenso grundstürzend wie nachhaltig waren.

Die Bewältigung und Überwindung der Nachkriegsjahre, die viele, vor allem die Jugend, als "bleierne Zeit" empfanden, begann allerdings nicht erst 1968. Das schwere Erbe der Väter, der bedrückende Schatten des Holocaust, die beschämende Wiederbegegnung mit dem deutschen Vernichtungskrieg in den zerstörten Städten des eigenen Landes wie auch auf jeder Reise ins europäische Ausland oder in ein israelisches Kibbuz, zugleich die Sehnsucht nach Distanzierung, nach intellektueller Emanzipation, etwa in der kritischen Theorie – das alles lag auf dem emotionalen Pfad vieler junger Deutscher hin zu dem Epochenjahr 1968.

Eine wichtige Wegmarke kam bereits ein Jahrzehnt zuvor. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958 markierte den Beginn einer strafrechtlichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, wie sie zuvor nicht stattgefunden hatte. Dass hinter der gutbürgerlichen Fassade der 1950er Jahre Kriegsverbrecher enttarnt wurden, die sich als monströse Kriminelle erwiesen, hatte Konsequenzen. Der Rückzugsweg in das gutbürgerliche Idyll war spätestens nach dem Abschluss der Auschwitzprozesse 1968 abgeschnitten.

Fritz Bauer, an dessen Wirken als Generalstaatsanwalt in Hessen ich erst kürzlich in der Frankfurter Paulskirche erinnert habe, ging es tatsächlich um mehr als um die Aburteilung von NS-Verbrechern. Er glaubte an die Bundesrepublik Deutschland als ein politisches Gemeinwesen, das, von seinen Bürgern getragen, verbesserungsfähig war. Er glaubte auch an die junge Generation, auf die er setzte und die er förderte. Von ihr erwartete er nicht die Weltrevolution, sondern das Mitwirken an einem liberalen Rechtsstaat.

Und er sollte Recht behalten. Die Überwindung der bleiernen Zeit gelang nicht in den Sit-ins des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS). Das Aufbrechen überkommener Strukturen, die Neubestimmung und Legitimierung von Autorität, die Öffnung der Gesellschaft – all das bedeutete schließlich das Bohren dicker Bretter. Es gelang nicht in einem triumphalen revolutionären Wurf, nicht mit Rechthaberei, sondern durch Beharrlichkeit und politische Überzeugungsarbeit.

Die Einsicht, dass sich die Probleme einer modernen Welt nicht mit dem Griff in die ideologische Mottenkiste lösen lassen, kam nicht allen. Aus der 68er-Bewegung sind nach der Auflösung des SDS im März 1970 marxistisch-leninistische und maoistische Gruppierungen entstanden, zunehmend kleiner und zunehmend radikaler. Einige von ihnen gingen als selbsternannte "Leninisten mit Knarre" den Abweg eines gewaltsamen Kampfes, den Weg in den Terrorismus, mit dem die Rote Armee Fraktion die Republik überziehen sollte.

Die allermeisten in der Zeit um 1968 Radikalisierten allerdings fanden den Weg aus den Kaderorganisationen heraus, um den langen Marsch durch die Institutionen anzutreten. Sie sind, wie wir wissen, nicht hindurch marschiert, sondern geblieben – vielfach in verantwortlichen Positionen, in der Politik ebenso wie in der Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur.

Ja, 1968 war ein Einschnitt in der bundesdeutschen Geschichte: Er polarisierte die Gesellschaft zutiefst, erzeugte Anfeindungen, Unversöhnlichkeiten, denen sich über Jahre hinweg auch Persönlichkeiten wie Brandt oder Heinemann, Grass oder Böll ausgesetzt sahen.

Das politische Potenzial der Revolte allerdings entfaltete sich erst nach 1968: Nicht nur in der Parteipolitik und nicht nur in einer Partei – kaum eine der Parteien blieb von den Veränderungen unberührt. Es entfaltete sich auch im Regierungshandeln, in den Reformen, die die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt in Angriff nahm, und nicht zuletzt – das ist mir besonders wichtig – in der parlamentarischen Arbeit im Deutschen Bundestag.

"Mehr Demokratie wagen" hieß ja nicht, die Bundesrepublik Deutschland als demokratischen Staat neu zu gründen. Eine Demokratie war sie bereits. "Mehr Demokratie wagen" sollte dazu ermutigen, das in der Verfassung angelegte demokratische Potenzial auszuschöpfen. Es sollte heißen: "Seid mutig und löst ein, was das Grundgesetz euch verspricht!"

Die Öffnung der Hochschulen, neue Mitbestimmungsrechte im Betriebsverfassungsgesetz, die Senkung des Wahlalters, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die Liberalisierung von Strafrecht und Strafvollzug – all das war der Griff in der Realität nach dem, was die freiheitliche Verfassung auf dem Papier verhieß. Und ich möchte gleich hinzufügen: Auch heute ist Demokratie in erster Linie ein Versprechen und kein Endzustand, und dieses Versprechen richtet sich an immer neue Generationen: an junge Menschen, an Schüler, Auszubildende, Studenten – und auch an die, die als Zugewanderte Deutsche geworden sind. Gerade ihnen möchte ich nach manch verletzenden Debatten der letzten Monate zurufen: "Seid mutig und löst ein, was das Grundgesetz euch verspricht – es steht euch genauso zu wie allen andern!"

Der bereits erwähnte Gustav Heinemann sprach poetisch von "einem Frühlingswind des Verlangens nach persönlicher Mitgestaltung". Es war ein Wandel der politischen Kultur, der sich vollzog, und insbesondere der neu gewählte Bundespräsident setzte dabei auf die treibende Kraft der Jugend. Zum ersten Mal ging da ein Staatsoberhaupt auf die Studentenbewegung zu.

"Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger", sagt Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung 1969. "Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz. Wir suchen keine Bewunderer; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten."

Brandt entwarf eine politische Vision: das Ideal einer Staatsbürgergesellschaft. Der Amtsantritt der sozialliberalen Koalition sollte – auch das war eine Botschaft dieser Rede – das endgültige Ende der Nachkriegszeit markieren.

Sollte inzwischen der Eindruck entstanden sein, ich wolle Willy Brandt zum 68er erklären und behaupten, die politischen und gesellschaftlichen Brüche, für die 68 eine Chiffre geworden ist, seien zwangsläufig auf ihn, seine Kanzlerschaft und eine sozialliberale Koalition zugelaufen, dann will ich diesen Eindruck an dieser Stelle sogleich korrigieren.

Brandts Haltung zu den 68ern, vor allem zu ihrem politisch wahrnehmbaren Kern, der Außerparlamentarischen Opposition (APO), war ambivalent. Im Generationenkonflikt der 1960er Jahre war er noch dazu ein unmittelbar Beteiligter, wie man in den Erinnerungen seiner beiden älteren Söhne, Peter und Lars, nachlesen kann.

Für den Wunsch nach Veränderungen hatte Brandt Verständnis und zeigte es auch. Demokratie war für ihn ein Prozess, der Bewegung und auch eine gewisse Unruhe vertragen konnte – und musste. Kompromisslos war er hingegen in seiner Ablehnung der Gegner parlamentarischer Demokratie, insbesondere der klassenkämpferischen Verachtung von Parlamentarismus und Pluralismus in Teilen der Studentenbewegung. Peter Brandt weist darauf hin, dass sein Vater mehrfach auf seine Lebenserfahrung in der Weimarer Republik Bezug genommen habe. Brandt sah in der Hilflosigkeit des demokratischen Rechtsstaats in Weimar einen der Gründe für sein Scheitern, und deshalb verwahrte er sich gegen eine Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols und beharrte auf Rechtsstaatlichkeit. "Krawalle und Gewalttätigkeiten", erklärte Brandt, "schaffen ein Klima, das den überfälligen Reformen nicht förderlich ist, sondern sie erneut zu hindern droht. Sie spielen also eine objektiv reaktionäre Rolle."

Willy Brandt wusste, dass Demokratie scheitern kann. Brandt, Jahrgang 1913, war alt genug, um 1932/33 als Anfang 20-Jähriger das Ende der Weimarer Republik erlebt zu haben. Er war 19 Jahre alt, als die demokratischen Parteien der Weimarer Koalition bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 zusammen nur noch auf 37 Prozent kamen und damit hinter die NSDAP zurückfielen. Diese bittere Erfahrung hinterließ in der jungen Bundesrepublik eine Wunde im kollektiven Gedächtnis, eine Erschütterung des Selbstbewusstseins, dass die Geschichte nur den Fortschritt kennt. Wie konnte es sein, dass ein derart brutaler, gewaltbereiter, antisemitischer Nationalismus bei einem großen Teil der Wähler so populär werden konnte?

Es ist richtig – wie oft geschrieben wurde –, dass es der Weimarer Republik an überzeugten Demokraten fehlte. Aber ebenso richtig und noch schmerzhafter ist es, dass die Antidemokraten in den Schicksalsmonaten, als die Republik um ihr Überleben kämpfte, in der Mehrheit waren. Ja, die Zerstörung der Demokratie wurde auf dem Wege demokratischer Wahlen eingeleitet und die Verhöhnung des Parlamentarismus vollzog sich auf der Bühne des Parlaments.

In einem noch heute bedrückend zu lesenden Text aus dem Jahr 1931 beschreibt der Reichstagsabgeordnete Rudolf Hilferding die "tragische Unmöglichkeit, die Demokratie zu behaupten gegen eine Mehrheit, die sie nicht will". Diese erschütternde Erfahrung war prägend für die Politikergeneration eines Brandt oder Heinemann, eines Gerstenmaier oder Dahrendorf. Aber es bleibt auch unsere politische Verantwortung – die Verantwortung jedes Einzelnen –, dass antidemokratische Stimmen nie wieder mehrheitsfähig werden!

Was es heißt, Demokratie und Freiheit zu verlieren, hat ein anderes Ereignis des Jahres 1968 gezeigt, der kurze Frühling der Freiheit in Prag, der schließlich mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts endete. Er setzte der Hoffnung auf Reformen, ja der Hoffnung auf Reformfähigkeit des Sozialismus sowjetischer Prägung überhaupt ein Ende. Das galt auch für die DDR.

Verbindungen zwischen Dissidenten in der DDR, der Gruppe um Robert Havemann, und der APO hatte es gegeben. Doch sehr viel größeren Einfluss hatten die Ereignisse in Prag. "Endlich bewegt sich etwas", war das vorherrschende Gefühl im Kreis um Havemann und Wolf Biermann. Das Scheitern der Reformbemühungen unter Dubček war eine umso größere Enttäuschung: "Das tragischste Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg", wie Herbert Marcuse befand. Die Hoffnung auf Demokratisierung und Liberalisierung – politische, gesellschaftliche, kulturelle –, Dubčeks Ideal eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", all das wurde von sowjetischen Panzern zermalmt. In Prag war das Wagnis Demokratie für die Staaten des ehemaligen Ostblocks gescheitert, auf Jahre hin, bis in den 1980er Jahren, beginnend auf den Danziger Werften, die Zeitenwende in Osteuropa anbrach.

Was können wir festhalten, mit dem Abstand von 50 Jahren? In der Vorbereitung auf diese Rede ist mir eine vergilbte Zeitungsseite in die Hände gefallen: Lübecker Nachrichten, 14. April 1968. Einem "kurzfristigen Aufruf durch Handzettel" folgend, berichtet die Zeitung, haben sich zwei Tage nach dem Attentat auf Rudi Dutschke einige hundert, meist jugendliche Protestierende auf dem Lübecker Markt versammelt unter der Aufsicht des Innensenators am Rathausfenster und des Polizeidirektionsleiters im sommerlich hellen Kamelhaarmantel, wie die Zeitung in ungewöhnlicher Detailschärfe vermerkt. Einer der jungen Redner auf dieser Lübecker Kundgebung wird mit den Worten zitiert: "Lassen Sie uns gemeinsam beweisen, dass wir die Idee der Demokratie ernst nehmen!" Vielleicht ist es genau das: Menschen haben die Demokratie ernst genommen! Und im Zuge dieses Wandels, für den "68" eine Chiffre geworden ist, ist manches an gesellschaftlicher Öffnung, Liberalisierung, Erneuerung in unserem Land geglückt!

Dies dürfen wir heute Abend festhalten. Aber wir sollten zugleich bedenken, dass es viele Generationen waren, die daran ihren Anteil hatten: Es war gewiss der Mut der 1968er, aber es war am Ende auch die Versöhnung mit der Lebenserfahrung der 1945er, jener skeptischen, vielfach desillusionierten Generation zwischen Nationalsozialismus und Demokratie.

Und ich will noch eine weitere, eine dritte Generation nennen, ohne die gelebte Demokratie in der heutigen Bundesrepublik nicht denkbar ist: die 45er, die 68er und die 89er! Die Erfahrungen im Osten Deutschlands, zwei Jahrzehnte nach der zerstörten Hoffnung von Prag, all das, was jetzt in der friedlichen Revolution gelang, birgt Geschichten von Hoffnung, Freiheitsdrang und großem Mut. Das wissen wir. Aber zu diesen Geschichten des demokratischen Aufbruchs von 1989 gehören auch die Geschichten des Umbruchs nach 1989 – Geschichten auch von Verlust, Zumutung, Enttäuschung. Ich finde, von allen deutschen Demokratiegeschichten sind diese noch zu wenig erzählt und erst recht zu wenig gehört worden!

"Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel." Mit diesem Zitat komme ich noch ein letztes Mal auf die Antrittsrede meines Amtsvorgängers Heinemann zurück und muss fragen: Was ist dann nur heute los? Woher kommt die neue Faszination des Autoritären, die in aller Welt zu spüren ist, auch in Europa, auch in unserem eigenen Land? Woher die Lockrufe jener, die die Institutionen der liberalen Demokratie und ihre Repräsentanten verächtlich machen, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ganz grundsätzlich infrage stellen?

Ist das etwa – so mutmaßen manche – der verspätete Rollback von 1968, das Aufbäumen alter Besitzstände, die Umkehr der gesellschaftlichen Öffnung, getrieben vom Wunsch nach einer irgendwie gearteten "heilen alten Welt" – auch wenn es die so nie gegeben hat –, gar nach einer konservativen Revolution, wie sie in beachtlicher historischer Taubheit gefordert wurde?

Ich denke: nein. Fünf Jahrzehnte nach 1968 können wir uns hoffentlich darauf verlassen, dass die demokratischen Kräfte der Mehrheit hinter die gesellschaftliche Öffnung und Liberalisierung unseres Landes nicht mehr zurück wollen. Und dass die wenigen, die es wollen, das auch nicht mehr können! In den letzten fünf Jahrzehnten hat sich mit dem politischen Versprechen der Verfassung auch die gesellschaftliche Realität unseres Landes verändert. Chancengleichheit, Teilhabe, Selbstbestimmung oder Gleichberechtigung sind heute Begriffe, auf die sich alle Demokratinnen und Demokraten im Deutschen Bundestag einigen können. Das ist eine gewaltige Errungenschaft, und sie wird erhalten bleiben!

Doch die Risse im demokratischen Fundament sind heute unübersehbar. Und deshalb lohnt vielleicht der Blick auf einen kleinen, aber wichtigen Unterschied zwischen den beiden Antrittsreden, zwischen Gustav Heinemann und Willy Brandt. Heinemanns "mehr Demokratie" finden wir auch bei Willy Brandt. Aber bei Brandt wird daraus "mehr Demokratie wagen".

Ja, dieser Satz war ganz sicher ein Signal des Aufbruchs, und so wurde er 1969 fast ausschließlich wahrgenommen. Doch heute erkennen wir vielleicht schärfer, dass zweierlei in diesem Wörtchen "wagen" steckt: Versprechen und Verheißung, aber auch ein Moment von Unsicherheit und Risiko.

Unsere Demokratie ist auch 2018 mit keiner Ewigkeitsgarantie versehen. Die gesellschaftlichen Fliehkräfte in unserem Land sind in den vergangenen Jahren erheblich gewachsen – die Gegensätze schroffer, die Mauern höher, der Ton schärfer geworden. Wir spüren erneut: Gerade die offene, die liberale Gesellschaft steckt voller Widersprüche, voller Konflikte, voller Zumutungen. Sie muss das aushalten und aushandeln können. Zur Demokratie gehört beides: "sich in die Lage anderer versetzen" und "Widerspruch akzeptieren" – so haben Sie, Herr Ministerpräsident, es kürzlich formuliert.

In diesen Tagen steht bei alledem immer stärker infrage, ob die politischen Parteien, insbesondere die Volksparteien, die den gesellschaftlichen Wandel in den letzten Jahrzehnten kanalisiert und politisch getragen haben, dies auch unter neuen gesellschaftlichen Vorzeichen bewältigen können. Diese Frage stellt sich – natürlich nicht erst seit den Wahltagen in Bayern und Hessen und im Übrigen auch nicht nur und nicht zuerst in Deutschland. Weltweit gerät das westlich-liberale Demokratiemodell unter Druck. Die wachsende Polarisierung der Gesellschaften verschafft Populisten Auftrieb, die das Eigene absolut setzen, die Kompromissbereitschaft als Schwäche abtun, für die das "Wir" nicht mehr ist als die Verlängerung des "Ich".

Von denen, die die Parteiendemokratie bereits abgeschrieben haben, habe ich jedenfalls noch keine wirklich überzeugenden Lösungen gehört, wie die Übersetzung von gesellschaftlicher Dynamik in politische Kompromissbildung und Verantwortung anders und besser zu bewerkstelligen ist. Ich glaube, es liegt vor allem an den Volksparteien selbst, ob es ihnen gelingen wird, auch im Angesicht von neuen Fliehkräften Gesellschaft zu integrieren, alte Strukturen ganz grundlegend zu öffnen für neue gesellschaftliche Realitäten, und vor allem, ob es ihnen gelingt, auch heute wieder glaubhaft und mitreißend Zukunft zu entwerfen. Es gibt also auch für sie, die Parteien, einiges zu "wagen".

Es ist gut, dass Willy Brandt dem Motto "mehr Demokratie", das wir heute gern und leichtfertig bejahen, dieses nicht ganz so bequeme Wörtchen hinzufügt: Wagt es! Man muss sich aufraffen für die Demokratie. Denn so gefestigt und gereift sie mit dem Blick zurück auch aussehen mag, ihre Zukunft ist offen, heute vielleicht offener denn je. Das muss uns keine Angst einjagen. Im Gegenteil – die Demokratie ist die Staatsform der Mutigen. Vielen Dank.