Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Joschka Fischer,

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Herr Präsident,
Herr Brahimi,
liebe Kollegen,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

vor einem Jahr haben sich an dieser Stelle die Vertreter Afghanistans unter der Leitung der Vereinten Nationen über die Zukunft ihres Landes beraten. Vor einem Jahr verabschiedeten sie das Petersberg-Abkommen, das den Weg zu einem Neubeginn Afghanistans vorzeichnete. Nach 23 Jahren brutalsten Bürgerkriegs hatten die Menschen in Afghanistan erstmals wieder Grund zur Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben. Gemeinsam mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und unter den Augen der Völkergemeinschaft nahmen die Afghanen ihr Schicksal wieder selbst in die Hand, um aus einem zusammengebrochenen Land wieder ein funktionierendes Staatswesen zu machen.

Es ist Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen. Was ist umgesetzt vom Petersberg-Abkommen? Was lehren uns die Erfahrungen des ersten Jahres? Was muss noch getan werden? Wo müssen wir andere Wege beschreiten oder uns umorientieren?

Ich selbst bin vor knapp einer Woche in Afghanistan gewesen und konnte mir ein Bild von der Lage in Kabul machen. In vielem sind wir weit gekommen: Die außerordentliche Loya Jirga hat im Juni diesen Jahres stattgefunden, Präsident Karzai und seine Regierung sind für die Übergangszeit bis zu den für 2004 geplanten Wahlen im Amt. Die Übergangsregierung arbeitet; die Kommissionen für Menschenrechte, Justiz und Verfassung sind eingerichtet. Afghanistan hat eine neue Währung. Polizei und Armee sind wiedergegründet und werden mit Hochdruck aufgebaut. Die humanitären Hilfslieferungen erreichen ihre Adressaten. Wirtschaftliches Leben kommt in Gang, Jungen und vor allem Mädchen gehen wieder in die Schule.

Gleichzeitig aber bleibt viel zu tun. Die Situation im Lande ist alles andere als sicher, das habe ich bei meinem Besuch selbst erlebt. Auch müssen die Provinzen in die Befriedungs- und Wiederaufbaustrategie der Zentralregierung eingebunden werden. Es kommt darauf an, Menschenrechte und bessere Lebensbedingungen landesweit durchzusetzen. Noch ist die Gefahr erneuten islamistischen Terrors in Afghanistan nicht gebannt. Sicherheit ist aber nur die Grundlage für einen erfolgreichen Wiederaufbau, der die politischen Strukturen, die Volkswirtschaft und das soziale Leben umfassen muss.

Die Afghanen haben jetzt die Chance, eine Friedens- und Gesellschaftsordnung zu schaffen, die Bestand hat. Eine Gesellschaftsordnung, die der Vielfalt und Multiethnizität des Landes wie auch den menschenrechtlichen und demokratischen Grundwerten der Völkergemeinschaft Rechnung trägt. Die Entscheidungen müssen dabei die Afghanen selbst fällen. Sie müssen ihrer Nation wieder ein Gesicht geben. Erste wichtige Schritte sind getan. Ich beglückwünsche Präsident Karzai und seine Regierung für ihre Erfolge bei der Neuordnung und Stabilisierung des Landes.

Ohne internationale Hilfe allerdings werden sie ihre Arbeit nicht zu Ende führen können. Alle der hier Anwesenden haben innerhalb des letzten Jahres große Leistungen in Afghanistan erbracht. Die Vereinten Nationen, ihr Generalsekretär und im besonderen sein Sondergesandter Lakhdar Brahimi, haben sich um den Wiederaufbau der Verwaltungsstruktur und der Linderung der Not in Afghanistan große Verdienste erworben. Die Anstrengungen zahlreicher Nationen, der Regierung in Kabul materiell und durch Fachwissen beizustehen, sind erheblich. Hervorheben will ich hier als größten Geber die Europäische Union. Aber auch viele Länder, deren ökonomische Situation selbst schwierig ist, haben beachtliche Finanzmittel für den Wiederaufbau in Afghanistan aufgebracht. Auch wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, das Engagement politisch zu vermitteln. Viele Parlamente haben sich ausführlich mit der Situation in Afghanistan befasst.

Deutschland hat sich in den letzten zwölf Monaten besonders in Afghanistan engagiert. Dies umfasst unter anderem zahlreiche Projekte im Bereich Bildung und Menschenrechte sowie den Polizeiaufbau. Unsere finanziellen Leistungen für das Land nähern sich mittlerweile einer Milliarde Euro. Wir haben uns von Anfang an mit mehr als 1.000 Soldaten an der Internationalen Unterstützungstruppe ISAF beteiligt. Gemeinsam mit unseren niederländischen Freunden werden wir in den kommenden Wochen die ISAF-Führung übernehmen. Unser Engagement wird weitergehen.

Denn Afghanistan ist eine besondere Aufgabe der internationalen Gemeinschaft. Die Bereitschaft, die Bewohner des Landes vom Joch der schrecklichen Taliban-Herrschaft zu befreien und darüber hinaus dem Land und der Regierung in Kabul beim Wiederaufbau zu helfen, ist für die internationale Koalition gegen den Terrorismus und ihren Erfolg von zentraler Bedeutung. Es geht hier um nichts Geringeres als um den Kampf der zivilisierten Welt gegenüber dem internationalen Terrorismus, dem irrationalen Fanatismus und der menschenverachtenden Kriminalität. Daher müssen unsere gemeinsamen Anstrengungen erfolgreich sein. Daher ist es von großer Bedeutung, dass Afghanistan weiter ganz oben auf unserer Prioritätenliste steht. Präsident Karzais Regierung muss es mit unserer Hilfe gelingen, dass Frieden, Freiheit und menschenwürdiges Leben in Afghanistan triumphieren. Herr Präsident Karzai, Bundeskanzler Schröder hat es soeben gesagt: Die internationale Gemeinschaft glaubt an eine gute Zukunft Ihres Landes. Dass wir alle hier zusammengekommen sind, beweist, dass wir entschlossen sind, den mit dem Petersberg-Abkommen eingeleiteten Prozess zu einem internationalen Erfolg werden zu lassen. Ich appelliere an Sie alle, dafür Ihr Möglichstes zu geben.