Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Ursula von der Leyen,

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Gute Nachrichten sind Mangelware. So scheint es jedenfalls beim täglichen Blick in die Medien und die öffentliche Berichterstattung. Probleme und Krisen, Katastrophen und Skandale bestimmen häufig die Schlagzeilen. Positive Botschaften haben es dagegen weitaus schwerer, Beachtung zu finden.

Das gilt auch für das freiwillige, bürgerschaftliche Engagement. In der öffentlichen Diskussion entsteht bisweilen der Eindruck, als sei das Ehrenamt veraltet, es sei out. Wir seien eine Spaßgesellschaft geworden, in der niemand für den anderen Verantwortung übernehmen wolle. In Einzelfällen mag dieses Urteil zutreffend sein, in der Gesamtheit jedoch nicht!

Fast jeder Dritte in Deutschland über 14 Jahre hat ein Ehrenamt inne, ist in einer politischen Vereinigung oder beteiligt sich in einer Selbsthilfegruppe. 23 Millionen Menschen in Deutschland sind bürgerschaftlich engagiert und das sind  beeindruckende Zahlen. Diese Zahlen sind eine gute Nachricht und sie sind Schlagzeilen wert! Und deshalb ist es für mich eine besondere Freude Mit Ihnen diese Abschlussveranstaltung zu begehen, weil wir damit Menschen, die sich im Ehrenamt verdient gemacht haben ins Zentrum unseres Dankes stellen wollen.

Wir brauchen das bürgerschaftliche Engagement heute mehr denn je. In früheren Jahren stellte die Familie das entscheidende soziale Netzwerk dar, aus dem heraus Hilfe in Notlagen gegeben werden konnte. Hier haben sich die Strukturen stark verändert. Die klassische Großfamilie gibt es kaum noch. Also müssen wir erkennen, wo wir die Chance haben, neue Strukturen und Netzwerke des sozialen Engagements, des Ehrenamtes zu nutzen. Der Religionsphilosoph Romano Guardini hat einmal gesagt: "Manch einer weiß gar nicht, was in ihm lebt und wessen er fähig ist, bis er angerufen wird." Ein Wort, über das man einen Moment nachdenken sollte.

Die Menschen engagieren sich aus ganz unterschiedlichen Motiven. Die einen engagieren sich aus christlichen Motiven der Nächstenliebe. Barmherzigkeit und religiöse Orientierung haben Caritas und Diakonie gegründet und sind noch immer in unserer Gesellschaft lebendig. Andere engagieren sich auch deshalb, weil sie aktiv teilhaben wollen am Leben einer Gruppe, oder weil sie Lebenssituationen gemeinsam besser bewältigen. Viele werden ganz einfach deshalb aktiv, weil es Spaß macht, Dinge selber zu regeln. Aber für alle gilt: Helfen macht Freude.

Noch einmal: 23 Millionen bürgerschaftlich engagierte Menschen hat unser Land. Mit anderen Worten: Ehrenamt betrifft einen erheblichen Teil unserer Gesellschaft. Und der Anteil steigt, das bedeutet: Das bürgerschaftliche Engagement ist ein Thema voller Aktualität.

Die volkswirtschaftliche Dimension hat das Statistische Bundesamt 2001 berechnet und die ist gewaltig. Danach beträgt das Volumen dieser für die Allgemeinheit erbrachten Arbeitsleistung in Deutschland rund 17 Milliarden Euro pro Jahr, wenn man einen Nettostundensatz von 5,50 Euro zugrunde legt. Der Staat könnte, selbst wenn er die Absicht hätte, gar nicht alle diese Aufgaben übernehmen. Das bürgerschaftliche Engagement ist damit ein wichtiger Bestandteil einer Gesellschaft mit menschlichem Gesicht.

Ich zitiere oft Theodor Heuss, von dem der Ausspruch stammt: "Demokratie lebt vom Ehrenamt." Der erste Bundespräsident hatte recht, ehrenamtliche Arbeit gehört zu den Kernelementen einer humanen Gesellschaft. Nicht nur unsere Demokratie, auch unsere Wirtschaft, unsere soziale Sicherung und unser kulturelles Leben beruhen auf der Bereitschaft zum Engagement. Diese Bereitschaft ist nicht selbstverständlich, sondern muss sorgsam gepflegt werden. Aufgabe der Politik ist es, die richtigen Rahmenbedingungen dafür herzustellen.

Mich stimmt es in diesem Zusammenhang sehr optimistisch, dass die Nachfrage nach einem "Freiwilligen sozialen Jahr" oder einem "Freiwilligen ökologischen Jahr" kontinuierlich ansteigt. Rund 17.000 junge Leute absolvieren solch ein Jahr gegen ein Taschengeld für die Gemeinschaft. Das zeigt doch, dass viele junge Menschen durchaus bereit sind, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, wenn die Voraussetzungen stimmen. Was sich allerdings geändert hat ist die Form, denn viele Jugendliche scheuen davor zurück, sich langfristig an einen Verein oder eine Partei zu binden. Sie möchten lieber projektbezogen arbeiten. Diese neuen Formen des Engagements zu unterstützen und zu begleiten, zählt zu den aktuellen Herausforderungen. Wir setzen durch unsere politischen Entscheidungen einen Rahmen, in dem sich Eigeninitiative und gesellschaftliche Verantwortung entfalten oder auch nicht. Deshalb bin ich mir der hohen Verantwortung bewusst, die Politik in diesem Feld hat.

Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung haben wir die Förderung der Bürgergesellschaft als einen wichtigen Baustein markiert. Schwerpunkte werden dabei insbesondere die Verbesserung der Rahmenbedingungen durch die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts sowie der Ausbau der Freiwilligendienste sein. Das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement hat sich im Vorfeld der Bundestagswahlen mit einem 10 Punkte umfassenden Impulspapier an alle Parteien und Bundestagsabgeordneten gewandt. Für diese Anregungen und Impulse möchte ich Ihnen ganz herzlich danken. Sie haben Einfluss auf die Weichen gehabt, die im Koalitionsvertrag gestellt worden sind.

Und mit dem Dank möchte ich auch gleich eine Bitte verknüpfen: Wir setzen auf dem Weg zu den Zielen auch auf ihre Kompetenz und Unterstützung. Denn allein kann Politik bürgerschaftliches Engagement nicht zum Leben bringen. Wir brauchen Ihr Netzwerk als starke Partner, als diejenigen, die Tag für Tag vor Ort arbeiten und damit Erfahrungen und Kompetenzen in der Praxis erwerben. Mit meinem Ministerium möchte ich mit gutem Beispiel vorangehen.

Mir liegt vor allem am Herzen erstens unser Bundesmodellprogramm generationsübergreifender Freiwilligendienste und unsere Familienpolitik, die den Zusammenhalt der Generationen fördern soll. Wir wollen den Kreislauf des Gebens und Nehmens zwischen den Generationen stärken. Wir können auf keine Generation und ihren Beitrag verzichten. Wir müssen stärker das Leitbild des produktiven Alters entwickeln.

Die älteren Menschen sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft. Sie geben uns Erfahrung, Gelassenheit und Reife. Aber für einen wachsenden Anteil von sehr alten Menschen brauchen wir aber auch Ressourcen an Zeit und Begegnung, die nicht allein durch die Pflegeversicherung aufgebracht werden können. Hier muss die jüngere Generation geben. Diese Gestaltung eines "Pflegedreiecks" zwischen der Familie, Haupt- und Ehrenamtlichen wird entscheidend sein für die Frage, wie wir gemeinsam das Alter leben.

Jede Generation erhält aber auch etwas für ihren Einsatz. Einerseits durch die Hilfe, die gegeben wird. Andererseits aber auch, weil bürgerschaftliches Engagement denjenigen, der gibt bereichert. Mir sagen Jugendliche: "Ich tu das auch für mich. Ich lerne was und ich habe das Gefühl, was geschaffen zu haben." Ältere, die sich zum Beispiel in der Hospizbewegung engagieren, sagen mir: "Wenn ich einen Menschen auf dem Weg zu Tod begleite, dann habe ich manchmal das Gefühl selber beschenkt zu werden. Es tut gut, gebraucht zu werden."

Ich halte zweitens die Förderung von Wissenschaft und Forschung zum bürgerschaftlichen Engagement für sehr wichtig. Nur wenn wir klare Erkenntnisse über Wirkungszusammenhänge und Entwicklungen vor Augen haben, können wir zielgerichtet handeln. Bürgerschaftliches Engagement heißt ja, dass Menschen freiwillig Zeit schenken. Das ist ein kostbares Gut. Also müssen wir auch bewusst und pfleglich damit umgehen.

Und drittens ist mir unsere Unterstützung von Netzwerken und Infrastrukturen der Engagementförderung wichtig.

Ohne dieses Engagement wäre vieles, was für uns alltäglich und selbstverständlich ist, nicht denkbar. Ohne dieses Engagement würde unserem Land der gesellschaftliche Zusammenhalt fehlen. Deshalb freut es mich umso mehr, dass wir in den vergangenen Tagen und Wochen überall in Deutschland, auf Straßen und Plätzen, in U- und S-Bahnstationen, an Häuserwänden und Litfasssäulen diese gute Nachricht lesen konnten: "In Deutschland engagieren sich über 23 Millionen freiwillig."

Die Botschaft wurde überbracht von der Moderatorin des ZDF heute-journals, Marietta Slomka, dafür danke ich sehr. Die Plakate und das Motto "Engagement macht stark!" haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Mein besonderer Dank und Respekt gilt aber vor allem dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, das die Aktionstage ins Leben gerufen hat. Sie knüpfen an die sehr erfolgreiche Woche des Bürgerschaftlichen Engagements, die im vergangenen Jahr erstmals initiierte wurde.

Sie sind ein gutes und wichtiges Forum, die Freiwilligen ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken und deutlich zu machen, welche Leistungen sie ohne Verpflichtungen von außen und unentgeltlich für unser Gemeinwohl erbringen. Aus diesem Grunde hat das Bundesfamilienministerium, das innerhalb der Bundesregierung die Federführung für die Engagementförderung trägt, die Aktionstage des Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) und ihr Anliegen inhaltlich und auch finanziell gerne unterstützt.

Die Bilanz der bisherigen Arbeit des BBE ist beachtlich. So ist das BBE ein wichtiger Partner bei den Bemühungen des Bundes und der Länder beim Bürokratieabbau, es hat mit dazu beigetragen, den Versicherungsschutz für Engagierte zu verbessern, es fördert und verbreitet gute Beispiele für eine Verankerung von Engagement in der Pflege, für eine bürgerschaftliche Öffnung der Schule, für neue Ansätze des Corporate Citizenship in Wirtschaftsunternehmen und vieles mehr.

Dem BBE ist es stets gelungen für die verschiedenen Vorhaben und Projekte viele verschiedene Partner und Unterstützer zu finden, um gemeinsam neue Wege zu beschreiten und so die Bürgergesellschaft zu stärken. Viele Beispiele ließen sich hier nennen. Hervorheben möchte ich nur das Projekt der "Civil Academy", in dem das BBE in Kooperation mit dem Unternehmen BP ein Qualifizierungsangebot für junge Menschen mit Ideen für gemeinnützige Projekte realisiert hat. Ein innovatives Vorhaben ist auch das "Bürgernetz", das in Kürze im Internet Auskunft gibt über Möglichkeiten von Zeit- und Geldspenden.

Schließlich hat das BBE mit der Aktionswoche im vergangenen Jahr und den Aktionstagen in diesem Jahr ein Forum geschaffen, um den in unserem Land bürgerschaftlich Engagierten öffentlich sichtbar die Anerkennung und Wertschätzung zuteil werden zu lassen, die sie wirklich verdienen. Ich freue mich sehr über diese Entwicklung und wünsche mir, dass das Netzwerk diesen Kurs beibehalten wird. Das Bundesfamilienministerium als Mitglied des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement wird dies gerne weiterhin nach Kräften unterstützen.

Auf einen neuen Schwerpunkt der Koalition möchte ich noch eingehen, der steht und fällt mit dem bürgerschaftlichen Engagement. Das sind die Mehrgenerationenhäuser. Die Bundeskanzlerin hat sie als eines der spannendsten Projekte der Familien- und Gesellschaftspolitik dieser Regierung bezeichnet. Die Mehrgenerationenhäuser verstehen sich als Beitrag zum Aufbau neuer Nachbarschaften mit Begegnungs- und Kontaktmöglichkeiten für Alt und Jung. Wir spüren es ja alle: Die Anforderungen nach Mobilität auf der einen Seit und der Wunsch nach Fürsorge innerhalb der Familie auf der anderen Seite – das geht nicht immer auf. Wer beweglich sein muss, kann häufig nicht am gleichen Ort wie pflegebedürftige Eltern wohnen oder wie die Großeltern, die sich gerne um ihre Enkel kümmern würden.

Wir merken jetzt erst, welche Dinge uns mit der Auflösung der Großfamilie verloren gegangen sind, wenn Gefühle der Erziehungsohnmacht oder Einsamkeit im Alter immer präsenter werden. Die Großfamilie verschwindet, das kann man beklagen, aber es ist eine Tatsache. Damit schwindet aber auch der selbstverständliche Zusammenhalt der Generationen. Erziehungswissen und Alltagskompetenzen gehen verloren. Aber auch Erfahrung und Muße der älteren Generation bleiben ungenutzt, stattdessen wird Einsamkeit immer mehr zum Altersproblem.

Wir wollen den familienpolitischen Horizont auf die Mehrgenerationenfamilie ausweiten. Die Öffnung des Horizontes geschieht nicht nur aus menschlichen und emotionalen Gründen, sondern weil sich nur mit diesem Blick ganz handfeste Chancen nutzen und Probleme lösen lassen. Wir wollen ein Leitbild eines "produktiven Alterns", ältere Menschen als Bereicherung für die Gesellschaft. Familie ist zwar ursprünglich der Ort, wo Alltagssolidaritäten gelebt werden. Das Geben und Empfangen von Alltagssolidaritäten kann sich aber nicht mehr alleine auf die genetische Familien beschränken. Wir müssen deshalb moderne neue Netze schaffen, gewissermaßen die Vorteile der Großfamilie in moderne Sozialstrukturen übertragen.

Wir wollen in dieser Legislaturperiode in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt in Deutschland ein Mehrgenerationenhaus als familienunterstützende Zentren schaffen. Wir haben heute viele Angebote, aber zu oft abgeschottet innerhalb einer Generation. Sei es die Krabbelgruppe, der Jugendtreff, das Mütterzentrum oder die Altenbegegnungsstätte. In Mehrgenerationenhäusern findet dieses und mehr unter einem Dach statt. Die Generationen profitieren von einander. Die Mehrgenerationenhäuser Wirken als familienunterstützende Zentren:

  • Sie erschließen bürgerschaftliches Engagement,
  • sie machen Zusammenhalt erfahrbar,
  • sie geben Alltagskompetenzen und Erziehungswissen weiter, und
  • sie geben Antworten darauf, wie die Generationen sich untereinander helfen können in einer Gesellschaft des langen Lebens.

Die Mehrgenerationenhäuser sind offen für alle Menschen im Stadtteil oder einer Gemeinde: Frauen, Kinder und Jugendliche, Jung und Alt, Gesunde und Kranke, Hilfesuchende und Hilfegebende, für Angehörige aller Nationalitäten und Glaubensgemeinschaften. Das Leben im Mehrgenerationenhaus wird vom Geben und Nehmen bestimmt; in der Wechselseitigkeit der Erfahrungen und der Verantwortungsübernahme liegt der soziale Gewinn.

Hilfe zur Selbsthilfe ist das entscheidende Prinzip. Die alte Dame fragt den Schüler Vokabeln ab und dafür erklärt er ihr das Handy. Das Mehrgenerationenhaus lebt also insbesondere vom ehrenamtlichen Engagement vor Ort. Ich möchte Ihnen daher die Mehrgenerationenhäuser ans Herz legen.

Ich freue mich, dass die Aktionstage zum bürgerschaftlichen Engagement, die heute am 5. Dezember, dem Internationalen Tag der Freiwilligen, ihren Höhepunkt finden, uns die Gelegenheit geben, die vielen Millionen engagierten Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes zu ehren. Sie verdienen all unseren Respekt und unsere Anerkennung, und Sie zeigen uns, wie reich unsere Gesellschaft durch das Engagement unserer Bürgerinnen und Bürger ist. Deshalb freue ich mich nun darauf, gemeinsam mit Ihnen diese Feier zu genießen. Ich möchte mich dabei dem Motto der Aktionstage anschließen:

Ich bedanke mich herzlich bei allen in Deutschland ehrenamtlich, freiwillig, bürgerschaftlich engagierten Frauen, Männer und Jugendlichen. Und ich wünsche Ihnen Kraft und Mut, sich auch zukünftig für die Stärkung der Zivilgesellschaft einzusetzen.