Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau

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Herr Vizepräsident,
sehr verehrte Frau Liu,
meine Damen und Herren,

ich freue mich sehr darüber, Sie, Herr Vizepräsident, und Ihre Frau heute hier im Schloss Bellevue begrüßen zu können. Sie werden bemerkt haben, dass der Amtssitz des Bundespräsidenten ein modernes Gebäude ist, ist es doch noch nicht einmal 250 Jahre alt, eine äußerst kurze Spanne für einen Gast aus einem Land, das auf eine 4.000-jährige Geschichte zurückblicken kann.

Europa hat China spät entdeckt. Dafür hat China bis heute seine Faszination für die Europäer nicht verloren. Heute setzt uns China wegen der Erfolge in Erstaunen, die es dank seiner Reformpolitik in den letzten Jahren errungen hat.

Nur ein Bruchteil der unendlich reichen chinesischen Kultur ist bei uns in Deutschland und in Europa wirklich bekannt. China mag da mehr wissen von Geschichte und Kultur Deutschlands. Professor Habermas, der diesjährige Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, hat mir vor kurzem bei einem Gespräch hier im Schloss Bellevue von seinem Aufenthalt in China berichtet. Er hat geschildert, wie beeindruckt er davon gewesen sei, dass bereits Anfang der achtziger Jahre Artikel und Arbeiten von ihm in China publiziert worden sind.

Mit dem Chinafest in Berlin im September dieses Jahres wollten wir einen Beitrag dazu leisten, das Wissen um die chinesische Kunst, Kultur und Zivilisation zu vertiefen.  Die Schirmherrschaft hatte Staatspräsident  Jiang  Zemin zusammen mit mir übernommen. Alte und gegenwärtige chinesische Kultur wurde in zahlreichen Facetten präsentiert. Höhepunkt des Chinafestes war die Ausstellung „Die Rückkehr des Buddha". Die Ausgrabung der Skulpturen von Qingzhou im Jahre 1996 war eine archäologische Sensation. Dass diese Meisterwerke chinesischer Plastik in Berlin zum ersten und einzigen Mal außerhalb Chinas gezeigt wurden, empfinde ich als eine Auszeichnung für unser Land und als Beweis dafür, wie gut sich die Beziehungen zwischen Deutschland und China entwickelt haben.

Das Chinafest in der deutschen Hauptstadt erhielt nach dem 11. September eine besondere Bedeutung. Es wurde zu einer Demonstration unseres gemeinsamen Willens, den Dialog zwischen den Kulturen zu führen, Brücken zu bauen, anstatt auf Konfrontation zu setzen.

Wir tragen gemeinsam Verantwortung für unsere Welt, die eine Welt, in der wir alle zusammen leben müssen. Im Angesicht der terroristischen Gefahr sind die Vereinten Nationen mit der raschen Verabschiedung zweier weitreichender Resolutionen in bemerkenswerter Weise ihrer Verantwortung für den Frieden in der Welt gerecht geworden. Ich begrüße die konstruktive Rolle, die die Volksrepublik China als Ständiges Mitglied des Sicherheitsrates dabei gespielt hat.

In diesen Tagen ist sich die zivilisierte Welt erneut ihrer gemeinsamen Werte bewusst geworden. Ich möchte betonen, dass es sich nicht um Werte des  Westens oder Ostens, des Nordens oder Südens handelt, sondern um unsere Werte, denen wir alle verpflichtet sind und die die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" am 10. Dezember 1948 verkündet hat. Dazu gehören das Verbot der Diskriminierung, das Recht auf Leben, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freizügigkeit, die Gewissens- und Meinungsfreiheit.

Die chinesisch-deutschen Beziehungen haben sich außerordentlich gut und freundschaftlich entwickelt. Ich freue mich über ihre Vielfalt, ihre Tiefe und Breite, von Politik über Wirtschaft bis hin zu Wissenschaft und Kultur, sowohl auf Regierungsebene als auch zwischen Ländern, Provinzen und Städten. Ein wichtiges Element ist dabei der Dialog über die Fragen des Rechtsstaates. Deutschland und China haben sich auf ein dichtes Kooperationsprogramm geeinigt, das bereits in wesentlichen Teilen mit Erfolg umgesetzt wird. Einer der tragenden Pfeiler des Rechtsstaates ist der Respekt der Menschenrechte. Deutschland will mit Ihrem Land auch in dieser Frage einen kooperativen und weiterführenden Dialog betreiben. Ziel des Kooperationsprogramms ist es, durch das bessere Verständnis der jeweiligen Tradition und Kultur einen gemeinsamen Beitrag zur Durchsetzung von rechtsstaatlichem Handeln zu leisten, das die Respektierung der Menschenrechte einschließt. Ich freue mich darüber, dass Ministerpräsident Zhu Ronji die Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Staaten in diesem Bereich als beispiellos bezeichnet hat.

Ein weiterer Schwerpunkt der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China liegt im Bereich des Umweltschutzes. Denn die Umwelt ist unser gemeinsames Erbe, und auch hier liegt es in unser aller Verantwortung, dieses gemeinsame Erbe zu schützen und zu bewahren.

Zum ersten Mal in seiner vergleichsweise kurzen Geschichte ist Deutschland nur noch von Freunden und guten Nachbarn umgeben. Wie Deutschland in Europa, so ist China in Asien der Staat mit den meisten Nachbarn. Daraus ergibt sich gerade für unsere beiden Länder die Notwendigkeit einer besonders verantwortlichen Politik, die Stabilität, Frieden und Sicherheit dient. Wie wichtig das für die Existenz und Sicherheit eines Staates ist, darauf hat bereits Goethe in einem Gespräch mit Eckermann über China hingewiesen. Goethe sagte: "Eben durch Mäßigung in allem hat sich auch das chinesische Reich seit Jahrtausenden erhalten und wird dadurch ferner bestehen." Wer wollte dem deutschen Dichterfürsten widersprechen?

Herr Vizepräsident, Sie schließen Ihre erste Reise nach Europa ab. Ich bin sicher, es wird nicht Ihre letzte sein. Ich hoffe, dass Sie ausreichend Gelegenheit hatten, neben den zahlreichen politischen Gesprächen auch die Vielfalt der europäischen Kultur kennen zu lernen, die uns in Europa nicht trennt, sondern eint. Gerade dort, wo es eine lebendige kulturelle Vielfalt gibt, kann man Gemeinsamkeiten entdecken.

Was für Europa gilt, gilt auch über die Kontinente hinweg. Deutschland und China haben dafür auch dank ihrer engen Zusammenarbeit gute Voraussetzungen geschaffen. Als im Oktober 1972 unsere beiden Länder diplomatische Beziehungen aufnahmen, sagte der damalige Bundesminister des Auswärtigen, der später ein weiteres, ebenfalls nicht unwichtiges Amt übernahm: "Mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen hat das Verhältnis zwischen unseren beiden Völkern eine Wendung zum Besseren genommen." In den 30 Jahren haben wir in der Tat, wie es sich Walter Scheel erhoffte, "eine Brücke der Verständigung" gebaut. Das ist ein Grund zum Feiern! Daher lade ich, wie ich es Ihnen schon bei unserem Gespräch sagte, Staatspräsident Jiang Zemin zu einem Besuch nach Deutschland ein.

Ich bitte Sie jetzt, Ihr Glas zu erheben, auf das Wohl von Vizepräsident Hu und Frau Liu, auf eine glückliche Zukunft Chinas und auf die enge und vertrauensvolle deutsch-chinesische Freundschaft!