Stabilität in und für Europa - Vortrag von Bundesministers Rühe in Warschau

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Bulletin

  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

Der Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe, hielt am Zentrum für
Internationale Beziehungen im Institut für Öffentliche Angelegenheiten am 13.
Mai 1996 in Warschau folgenden Vortrag:

I.

Lieber Janusz Reiter,
meine Damen und Herren,

vielen Dank für die herzliche Begrüßung. Ich bin mit großer Freude hierher
nach Warschau gekommen. Denn ich komme zu Freunden. Als wir Sie, lieber
Janusz Reiter, im August letzten Jahres in Bonn verabschiedeten, war dies kein
leichter Abschied; denn mit Ihnen ging ein Botschafter, der in einer
einzigartigen Zeit für das Verhältnis von Polen und Deutschen Einzigartiges
geleistet hatte.

Sie haben die Interessen Ihres Landes exzellent vertreten ­ mit Scharfsinn und
Weitsicht, mit Leidenschaft und Großmut, mit Offenheit und Menschlichkeit. Sie
haben die Interessen Polens nicht gegenüber Deutschland, sondern in und mit
Deutschland vertreten. Das war Ihr Credo für Ihr tägliches Handeln ­ so als
wären Polen und Deutsche schon immer gute alte Nachbarn gewesen. Sie haben ein
Vertrauenskapital angehäuft, von dem wir heute zehren, auf dem wir weiter
aufbauen. Sie sind, wenn auch auf andere Weise, Ihrer Berufung treu geblieben
­ ein Botschafter Europas und ein Botschafter Deutschlands im eigenen Land.
Dafür danken wir Ihnen sehr.

Wer Polen besucht, kommt mitten nach Europa. Hier hat die Freiheit eine
Heimat. Schon im Jahr 1791 gab es in Polen die erste freiheitlich geprägte
Verfassung auf dem alten Kontinent. Und wir vergessen nicht, was Europa und
Deutschland dem unerschütterlichen Freiheitswillen des polnischen Volkes
verdanken. In diesen Tagen ist es sechs Jahre her, daß in Polen die ersten
freien Wahlen in einem Staat des ehemaligen Warschauer Pakts stattfanden. Die
Welt hielt den Atem an. Erstmals wurde die kommunistische Partei abgewählt.
Der sensationelle Sieg der Demokratie bei den Parlamentswahlen war der Funke,
der auf die Nachbarländer übersprang, der die Freiheitsrevolution in ganz
Europa entfachte.

Wie so oft zuvor in der Geschichte hat sich erwiesen: Das Schicksal Polens und
Deutschlands ist verflochten. Die "polnische Frage" war eine schwärende Wunde
Europas. Die "deutsche Frage" hat Europa geteilt und Polens Unfreiheit
verlängert. Polen wurde ­ wie Ungarn, Tschechen und anderen europäischen
Völkern auch ­ 1945 verwehrt, die Früchte der Befreiung zu ernten. 1939 stand
Polen allein, aber auch 1956 und 1980.

Andrzey Szczypiorski hat einmal gesagt: "Die sowjetische Festung in der DDR
trennte uns von all dem, was die polnische Tradition, die polnische Kultur,
polnische Erfahrung, polnische Sehnsucht und polnische Staatsräson waren ­
diese Festung trennte uns von Europa." Heute ist die Festung gefallen, die
Trennung überwunden. Polen ist wieder das, was es war: ein konstitutiver
Bestandteil des europäischen Kulturraums, zu dem die Gotik von Krakau genauso
gehört wie die Gotik von Köln, Chartres oder Canterbury.

In den Jahren 1989 und 1990 fand die polnisch-deutsche Schicksalsgemeinschaft
die bisher glücklichste Ausprägung: Polen gewann seine Freiheit, Deutschland
Einheit in Freiheit zurück. Mit der deutschen ist heute auch die polnische
Frage gelöst. Aber die unnatürliche Teilung Europas ist noch nicht überwunden.
Wir müssen heute die Tür öffnen, die Stalin ins Schloß warf, als er Polen,
Tschechen und anderen den Marshallplan verwehrte. Wir haben die Pflicht, Ihrem
Land zu ermöglichen, was es braucht und will: die endgültige Heimkehr nach
Europa. Die polnische Regierung betont zu Recht: Aus denselben Gründen, aus
denen Länder wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien die NATO nicht
verlassen, will Polen dazugehören ­ weil wir alle zu Europa gehören,
historisch, politisch und kulturell. Mit anderen Worten: Polen sucht seinen
Platz im Herzen Europas, und es wird ihn ebendort finden!

II.

Die Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen ist auch eine Geschichte
großer Gefühle. Meist dominierten Mißtrauen, Feindschaft und Haß. Als der
Eiserne Vorhang fiel, wichen sie Freude, mancherorts sogar Euphorie, aber auch
aus Erinnerung gewachsener Skepsis. Heute werden unsere Beziehungen zunehmend
von Normalität geprägt. Im Lichte unserer Geschichte aber ist gerade diese
Normalität das Neue, das eigentlich Sensationelle. Denn es ist die Normalität
von guten Nachbarn, berechenbaren Partnern und verläßlichen Freunden.

Nie gab es einen solchen Gleichklang der Interessen zwischen unseren Nationen.
Wir haben ein großes gemeinsames Projekt: Wir wollen das geeinte, freie und
friedliche Europa schaffen. Wir wollen, daß der alte, geschichtlich gewachsene
Kulturraum endlich eine dauerhafte politische Gestalt und Struktur erhält.
Unser Ziel heißt Stabilität in und für Europa.

"Stabilität" ist ein umfassendes Konzept: Werte und Interessen fallen darin
zusammen. Das Nützliche verbindet sich mit Verantwortung. Strategische
Einsicht deckt sich mit historischer Erfahrung. Politische Vision wird konkret
und praktisch wirksam. Stabilität gewinnen wir heute nicht mehr aus der
Balance rivalisierender Mächte, die um Einflußzonen konkurrieren. Das ist
Denken des letzten Jahrhunderts. Stabilität erhalten wir auch nicht mehr durch
das Gleichgewicht gegeneinander gerichteter militärischer Potentiale. Das
prägte die politisch vereiste Landschaft des Kalten Krieges. Heute und morgen
entsteht Stabilität aus der Geltung der Menschenrechte, aus gefestigten
demokratischen Strukturen, aus wirtschaftlichem Wachstum und sozialer
Gerechtigkeit. Stabilität im Äußeren wächst aus guter Nachbarschaft und
Kooperation. Polens Politik praktizierter Nachbarschaftsstabilität ist eine
Politik des guten Beispiels.

Stabilität in Europa wächst aus der Integration von kleineren und größeren
Ländern als gleichberechtigte Partner. Keine Nation darf je wieder zum Objekt
der Politik von Dritten oder zum Gegenstand des strategischen Wettbewerbs von
Großmächten werden. Die Geschichte dieses Jahrhunderts hat gezeigt, welches
Unheil aus Instabilität für alle in Europa wachsen kann.

Die existentielle, eindimensionale militärische Bedrohung der Vergangenheit
ist verschwunden ­ für Polen ebenso wie für Deutschland. Und für die absehbare
Zeit wird sie nicht wieder entstehen. Wir haben keinen Feind mehr. Aber es
gibt eine Fülle neuer, komplexer Risiken. Auf dem Balkan, im Kaukasus, im
Nahen Osten und in Nordafrika gibt es tief verwurzelte ethnische, religiöse
und nationalistische Gegensätze, die immer wieder zu grausamen Konflikten
führen. Wenn sich Fundamentalismus und Terrorismus verbinden und womöglich
Zugang zu Massenvernichtungswaffen finden, dann bedroht eine solche
Entwicklung uns alle. Der Feind heute heißt Instabilität. Es ist unsere
Aufgabe, für Stabilität zu sorgen ­ in Europa, aber auch in seinem Umfeld. Wir
können diese Aufgabe nur gemeinsam lösen; und wir brauchen dazu Polen. Ohne
Stabilität in Zentral- und Osteuropa gibt es keine Sicherheit in Europa, und
ohne Stabilität im Mittelmeerraum keine Sicherheit für Europa. Beides ist
Imperativ für alle Europäer. Denn Frieden und Sicherheit in und für Europa
sind unteilbar.

Wenn wir diese Stabilitätsphilosophie für Europa auf die euro-atlantischen
Institutionen anwenden, dann erwachsen daraus drei zentrale Aufgaben:

­ Wir müssen das freie und geeinte Europa schaffen ­ durch Öffnung der
Europäischen Union und der Nordatlantischen Allianz, und dabei müssen wir
zugleich mit Rußland, aber auch mit der Ukraine, eine neue Partnerschaft
entwickeln.

­ Wir müssen die NATO weiterentwickeln, damit sie für die wahrscheinlichsten
Herausforderungen gewappnet ist. Kooperation, Stabilitätstransfer und
Krisenbewältigung sind heute die wesentlichen Aufgaben der Allianz, auch wenn
sie weiterhin zur kollektiven Verteidigung fähig bleiben muß.

­ Wir müssen die Europäische Union durch Vertiefung und Erweiterung zu einer
wirklichen Politischen Union entwickeln. Dabei müssen wir Europas außen- und
sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit verbessern und sichtbar machen. Je
mehr uns dies gelingt, desto eher werden wir das Engagement Amerikas in und
für Europa erhalten, weil wir als gleichberechtigte Partner Nutzen,
Verantwortung und Lasten angemessen teilen.

III.

NATO und Europäische Union haben im westlichen Europa einen Stabilitätsraum
geschaffen, der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Andrzej Byrt, Ihr
Botschafter in Bonn, hat unlängst zu Recht geschrieben: "Die NATO hat sich in
den letzten 50 Jahren als stabilster Staatenverbund bewährt. Man muß acht
Jahrhunderte zurückgehen, um 50 Jahre zu finden, in denen im Bogen zwischen
Spanien und Polen kein Krieg geführt worden ist. Aus den gleichen Gründen
wurde die europäische Einigungsbewegung in Gang gebracht, die heute zur
Europäischen Union geworden ist."

Die integrative Kraft der Atlantischen Allianz hat Nordamerika und Europa mehr
gegeben als nur Sicherheit. Sie hat dem Übel der europäischen Machtpolitik ein
Ende bereitet. Stabilität gibt es auch im östlichen Europa nur, wenn wir NATO
und Europäische Union zukunftsfähig machen, sie öffnen für unsere
zentraleuropäischen Nachbarn und wenn wir diesen Prozeß in die richtige
Balance zu einer neuen Partnerschaft mit Rußland bringen.

Unser Stabilitätsinteresse deckt sich mit dem Wunsch der zentraleuropäischen
Nationen, nach der wechselvollen Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte
ein für allemal zur Familie der westlichen Demokratien zu gehören ­ was der
natürlichen geschichtlichen Logik entspricht. Der frühere Außenminister
Skubiszewski hat dies einmal das prioritäre Ziel der polnischen
Staatsstrategie genannt. Dafür stehen NATO und Europäische Union. Für den
einen mag die Integration in der EU eine Souveränitätseinbuße bedeuten. Für
andere bedeutet sie einen Gewinn an Sicherheit, Wohlfahrt und Gewicht ­ ganz
bestimmt für Polen und für Deutschland.

Die Nationen Zentraleuropas wollen zugleich vom politischen Grundrecht
Gebrauch machen, sich dem Bündnis anzuschließen, in dem sie sich am besten
aufgehoben fühlen. Dieses Recht der freien Bündniswahl ist eigentlich eine
Selbstverständlichkeit. Präsident Jelzin höchstpersönlich hat es zusammen mit
Präsident Clinton im Mai 1995 in einer Gipfelerklärung über europäische
Sicherheit bestätigt. Sie haben festgestellt, daß alle Staaten das Recht
haben, "freely to choose or change their security arrangements, including
treaties of alliance as they evolve". Dieser Grundsatz entspricht im übrigen
auch dem, was Deutsche und Russen im Zwei-plus-Vier-Vertrag bekräftigt haben.

Der Öffnungsprozeß der Allianz hat nicht nur begonnen; er ist auch
unumkehrbar. Er läuft zielgerichtet und schrittweise, stetig und transparent.
In diesen Monaten stehen keine Entscheidungen an. Aber in der NATO und bei den
Beitrittskandidaten wird an der Vorbereitung der Aufnahme neuer Mitglieder
systematisch gearbeitet. Dabei ist klar, daß diejenigen, die später beitreten,
Teil des Prozesses bleiben. Wir sehen mit Respekt, wie intensiv und konkret
sich Polen auf die Mitgliedschaft in den euro-atlantischen Organisationen
vorbereitet. Das im April vorgelegte vorzügliche Diskussionspapier zur
NATO-Erweiterungsstudie wird die Meinungsbildung in der Allianz sicher ebenso
fördern wie das ausgeprägte Engagement Polens im Programm Partnerschaft für
den Frieden. In diesem Jahr schafft die Allianz die Voraussetzungen dafür, daß
im Jahr 1997 formelle Beitrittsverhandlungen mit ersten Kandidaten aufgenommen
werden. Und nach meinen jüngsten Gesprächen im Bündnis bin ich sicher: Polen
gehört dazu.

Dann wird sich bewahrheiten, was Bundeskanzler Kohl in seiner Rede vor Sejm
und Senat im Juli letzten Jahres vorausgesagt hat: "Meine Botschaft lautet,
daß es unser Wunsch... ist, daß in einer sehr nahen Zukunft ­ unter ,naher
Zukunft` verstehe ich dieses Jahrzehnt ­ Polen seinen Weg in die Europäische
Union findet und sein Sicherheitsbedürfnis in der NATO erfüllt wird."

IV.

Eine europäische Sicherheitsarchitektur, die den Geboten moderner
Stabilitätspolitik folgt, ist nur mit und nicht gegen Rußland denkbar. Nach
eigenem Bekunden gibt es für Rußland heute keine Bedrohung mehr aus dem
Westen. Rußland braucht aber Stabilität an seiner Westgrenze, und es braucht
Kooperation mit uns, um die schwierigen Reformen im Innern zu meistern und um
sich den eigentlichen strategischen Herausforderungen aus anderen
Himmelsrichtungen konstruktiv widmen zu können.

Ich nutze daher gern die Gelegenheit, das legitime russische
Sicherheitsbedürfnis in Europa mit unserem Stabilitätsansatz für ganz Europa
zu verbinden. Ein wesentlicher Faktor für das Zusammenwirken der Länder
Europas mit Rußland ist die Europäische Union. Sie ist mit Rußland eine
politisch-ökonomische Partnerschaft eingegangen. Schon jetzt ist der Handel
Rußlands mit der Europäischen Union um ein Vielfaches größer als mit allen
anderen Schlüsselregionen der Welt. Die Beziehungen zum Westen sind trotz
mancher schriller Klänge so intensiv wie nie zuvor. Rußlands Integration in
die Weltwirtschaft führt über die Europäische Union.

Das fruchtbare Zusammenwirken wird sich zum beiderseitigen Nutzen noch
verstärken, wenn die Länder Ostmitteleuropas in die Europäische Union
integriert sind. Diese Länder sind die natürlichen, traditionellen
Handelspartner Rußlands; ihre Integration in die Europäische Union und die
ökonomische Dynamik, die sich daraus entfaltet, wird den Aufschwung nicht nur
in Polen, Tschechien, Ungarn und den anderen zentraleuropäischen Ländern
beflügeln. Dieses Wachstum wird auch Rußland selbst nutzen. Und ganz Europa
wird davon profitieren.

Die Länder Ostmitteleuropas werden das Rückgrat der Wirtschaftsbeziehungen der
Europäischen Union zu Rußland bilden. Sie werden eine Brücke sein, über die
sich die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Rußland
fruchtbar für beide Seiten entfalten können. Zusammen mit der erweiterten
Europäischen Union bildet die NATO eine Zone der Stabilität, an die sich
Rußland anlehnen kann. Die NATO-Öffnung ist konstitutiver Teil einer
Stabilitätsstrategie für Europa, die im Interesse aller Europäer liegt. Es
liegt natürlich an der russischen Führung und an den Menschen des Landes
selbst, die richtige Wahl zu treffen.

V.

Zbigniew Brzezinski ist zwar Amerikaner. Aber ich verrate kein Geheimnis, daß
auch in Washington sein Herz für Polen schlägt. Er hat zu Recht die
Zukunftsfähigkeit der Allianz in die Formel der "doppelten Erweiterung"
gefaßt; er spricht von "double enlargement" und meint: Das Bündnis muß sich
den neuen Demokratien im Osten öffnen. Es muß aber auch seinen strategischen
Gehalt und sein Aufgabenspektrum erweitern. Beides ist miteinander verbunden,
und beides muß gleichzeitig geschehen.

Die NATO ist nicht darauf ausgerichtet, alte Militärstrukturen effizienter zu
machen und diese weiter nach Osten zu rücken. Es geht auch nicht um Expansion
oder die Ausdehnung von Einflußzonen. Es geht um die Öffnung einer Neuen NATO
für souveräne, demokratische und marktwirtschaftlich ausgerichtete Staaten
Europas. Die Allianz ist und bleibt ein defensives Bündnis, das sich nicht
gegen irgend jemand richtet. Sie steht für Dialog, Kooperation und gemeinsame
Krisenbewältigung. Seit 1990 hat die Allianz eine neue Kultur der
Zusammenarbeit entwickelt. Aber sie gibt ihren Mitgliedern auch Sicherheit.
Die politische Strategie der Allianz läßt sich in zwei Begriffe fassen:
cooperation und reassurance. Die NATO bleibt das Fundament europäischer
Stabilität.

Für die vielfältigen neuen Herausforderungen braucht das Bündnis die richtigen
Strukturen. Die jetzigen Strukturen sind noch zu sehr auf die Erfordernisse
der früheren integrierten Verteidigung in Mitteleuropa ausgerichtet. Die Neue
NATO muß so flexibel werden, daß sie alle Aufgaben bewältigen kann ­ von der
kollektiven Verteidigung bis zur Bewältigung von Krisen, die nach Ort, Zeit
und Intensität nicht voraussehbar sind. Solche Operationen müssen offen für
die Teilnahme von Nicht-NATO-Staaten sein. Sie müssen auch dann möglich sein,
wenn nicht alle mitmachen.

Künftig muß die Allianz eine transatlantische Partnerschaft widerspiegeln, die
darauf gründet, daß sich Amerika weiter für die Sicherheit Europas engagiert,
aber auch selbst in den Genuß organisierter europäischer Solidarität kommt.
Die Neue NATO muß auch die Basis für europäisch geführte Operationen bilden ­
wenn Amerika sich in einer europäischen Krise nicht direkt engagiert. Nur wenn
Europa bereit und fähig ist, einen größeren Anteil an der Last und
Verantwortung für gemeinsame Sicherheitsinteressen zu übernehmen, kann es mit
einer erneuerten transatlantischen Partnerschaft rechnen, die in die Zukunft
trägt.

Gegenwärtig wird an der Strukturreform in Brüssel gezielt gearbeitet. Der
Nordatlantikrat wird auf seiner Frühjahrstagung in Berlin politische
Leitlinien verabschieden, die der Neuen NATO Inhalt und Profil geben. Neue
Mitglieder werden einem reformierten Bündnis beitreten.

Im früheren Jugoslawien bewährt sich die Neue NATO bereits ganz praktisch. Die
militärische Absicherung des Friedensvertrages von Dayton ist schon jetzt ein
Erfolg. Aber die zivile Implementierung kommt nur zäh voran. Noch gibt es kaum
Fortschritte bei der Versöhnung der Parteien. Was fehlt, ist die Bereitschaft
der Menschen, friedlich zusammenzuleben und das Land gemeinsam wieder
aufzubauen. Das verlangt entsprechenden politischen Willen aller
Konfliktparteien im früheren Jugoslawien. Die internationale Gemeinschaft kann
nur Hilfestellung leisten. Frieden und Stabilität müssen von innen heraus
wachsen. Unsere Soldaten können den Frieden nicht befehlen.

Das Bündnis arbeitet mit zahlreichen Nicht-NATO-Staaten zusammen. Polen
leistet mit seinem Verband einen wertvollen und anerkannten Beitrag ­
professionell und effektiv, in einer Konstellation, die wahrlich revolutionäre
Qualität hat: ein polnisches Fallschirmjägerbataillon als Teil der Nordischen
Brigade unter NATO-Befehl, mit dänischem Brigadekommandeur und amerikanischem
Divisionskommandeur ­ ein ebenso vielsagendes wie weitreichendes Signal. Diese
Zusammenarbeit zwischen Polen und der Allianz hat für beide Seiten eine neue
Dimension erreicht.

Polen erfahren genauso wie Ungarn, Tschechen und andere, daß es die alte NATO
nicht mehr gibt. Sie erfahren, was die Neue NATO ausmacht. Sie erleben schon
jetzt Bündniswirklichkeit. Eine bessere praktische Beitrittsvorbereitung gibt
es nicht. Und auch Rußland erfährt, daß Kooperation keine leere Formel ist,
sondern praktische Politik für Stabilität in Europa, an der Rußland teilhaben
soll.

Die Neue NATO grenzt niemanden aus; sie bedeutet Zugewinn an Sicherheit und
Stabilität für alle. Auch die Ukraine ist ein Partner von besonderer Bedeutung
für die Stabilität in Europa. Wir wollen dieses Land auf seinem Reformweg nach
Kräften unterstützen und die Zusammenarbeit verstärken. Der NATO-Gipfel in
Berlin wird ein klares Signal geben: Die Ukraine hat ihren eigenen und
dauerhaften Platz im europäischen Kooperationsverbund.

VI.

Sie, lieber Janusz Reiter, haben einmal gesagt: "Europa ist keine Aufgabe für
Träumer, das ist harte Arbeit. Man muß den Horizont im Auge halten, ohne bei
den nächsten Schritten zu stolpern." Die polnische Staatsführung gibt heute
ein Beispiel für umsichtige, verantwortungsvolle und zukunftsgerichtete
Stabilitätspolitik nach Ost und nach West. Der unbeirrte Kurs in Richtung
Integration in die euro-atlantischen Institutionen geht einher mit einer
Politik des Ausgleichs und der guten Nachbarschaft mit den östlichen und
südlichen Nachbarn, vor allem aber auch mit einer breit angelegten
Zusammenarbeit mit Rußland. Diese Politik dient der regionalen Stabilisierung
und damit der Stabilität ganz Europas. Wir sehen mit Freude, wie groß die
Unterstützung im polnischen Volk für diese Politik ist.

Polens wirtschaftliche Fortschritte sind mehr als bemerkenswert. Die
Wachstumsrate des Bruttoinlandprodukts im letzten Jahr ist die größte in ganz
Europa. Der wirtschaftliche Fortschritt gewinnt weiter an Breite und Tiefe.
Polen nimmt unter den Reformstaaten einen Spitzenplatz ein. Der Privatsektor
erbringt bereits rund 60 Prozent der volkswirtschaftlichen Leistung. Er ist
der entscheidende Motor des Aufschwungs. Es gibt Stimmen, die ­ bei
realistischer Würdigung aller Schwierigkeiten, die es noch gibt ­ von einem
Wirtschaftswunder an der Weichsel sprechen. Wichtigster Außenhandelspartner
Polens ist Deutschland. Und unser wichtigster Handelspartner in Mittel- und
Osteuropa heißt Polen.

Die polnischen Streitkräfte sind vom entschiedenen Willen geprägt, in ihrem
Selbstverständnis und ihrer Rolle im Staat, in ihren Strukturen, ihrer
Sprachausbildung und in ihrem inneren Gefüge rasch die Standards der NATO zu
erreichen. Die Reform der Streitkräfte ist weit gediehen. Unsere
Zusammenarbeit im bi- und trilateralen Rahmen mit Frankreich und Dänemark ist
dafür wichtige Stütze.

Die polnischen Streitkräfte und die Bundeswehr haben eine
Schrittmacherfunktion für die Partnerschaft zwischen unseren Ländern. Vielfalt
und Intensität unserer Zusammenarbeit sind ohne Beispiel in der Geschichte.
Wir haben miteinander ein Kooperationsprogramm, das dichter ist als mit allen
unseren anderen östlichen Nachbarstaaten. In diesem Jahr gibt es über 80
gemeinsame Vorhaben. Die Patenschaften zwischen deutschen und polnischen
Verbänden sind ein besonderes Symbol für die Aussöhnung zwischen unseren
Völkern. Sie werden ständig erweitert und vertieft. Die wachsende Zahl der
gemeinsamen Seminare und Übungen, der Personalaustausch bei
Truppenübungsplatz-Aufenthalten, die vielen Kultur- und Sportveranstaltungen
zeigen: Das Maß an Zusammenarbeit steht dem mit NATO-Partnern kaum mehr nach.

Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Gemeinden, der Garnisonen und
Truppenteile trägt Früchte. Die Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit
leistet wichtige Multiplikatorenarbeit, damit die Menschen das neue Verhältnis
zwischen Polen und Deutschland konkret erleben. Wir freuen uns, wie sehr die
Arbeit der Stiftung auch der Pflege deutscher Kultur in Polen zugute kommt.
Auch das Deutsch-Polnische Jugendwerk erfüllt unsere Zusammenarbeit mit immer
mehr Leben. Gerade der Austausch zwischen den jungen Menschen ­ innerhalb und
außerhalb der Streitkräfte ­ läßt das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit über
Grenzen hinweg entstehen. Die Menschen sollen spüren: Grenzen trennen nicht
mehr, sie verbinden.

Polen spielt für uns Deutsche wegen seiner Lage und unserer gemeinsamen
Geschichte eine ähnlich wichtige Rolle wie Frankreich. Unsere Völker haben aus
der Geschichte die richtige Lehre gezogen und bilden eine
Schicksalsgemeinschaft für Freiheit und Frieden. Wir streben zu Polen eine
ähnliche Beziehung wie zu Frankreich an.

VII.

Es gab einmal eine Zeit, in der die polnische Redewendung traurige Realität
beschrieb: "Solange die Welt besteht, war niemals der Deutsche dem Polen ein
Bruder." Wer unsere Beziehungen heute betrachtet, der weiß, daß die Umkehrung
dieses Wortes gilt: "Solange die Welt besteht, war noch nie der Deutsche so
eng dem Polen ein Bruder." Und diese Umkehrung stammt ebenfalls von einem
Polen: dem Grafen Ludwik Orpiszewski, der nach dem freiheitlichen Aufstand in
Polen 1831 freundliche Aufnahme in Deutschland fand. Damals war die geistige
Nähe der deutschen und polnischen Demokraten und Patrioten nur ein kurzes
Zwischenspiel. Heute haben wir die unvergleichliche Chance wie Verantwortung,
unsere neue Nähe zu einer dauerhaften Freundschaft auszubauen ­ einer
Freundschaft, die den künftigen Generationen eine Zukunft in Frieden und
Freiheit ermöglicht.

Im Herbst diesen Jahres werden Soldaten unserer beiden Nationen gemeinsam eine
Brücke über die Oder schlagen. Mein polnischer Kollege und ich werden uns auf
der Mitte dieser Brücke die Hand reichen. Wir werden für alle sichtbar machen:
Unsere Nationen bauen am neuen Europa, befriedet durch gute Nachbarschaft und
vereint im Streben nach Demokratie, Freiheit und Recht.