bedeutung der kulturellen dimension des europaeischen einigungsprozesses - ansprache des bundeskanzlers in strassburg

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bundeskanzler dr. helmut kohl hielt anlaesslich der
verleihung des "europapreises fuer staatskunst" der stiftung
f.v.s. in strassburg am 12. november 1991 folgende
ansprache:

i.
ich danke herzlich fuer die auszeichnung, die mir heute
verliehen worden ist. fuer mich ist sie nicht nur ein zeichen
der anerkennung. ich fuehle mich dadurch auch in die pflicht
genommen, in einer historischen phase europaeischer politik
auch weiterhin mit aller kraft fuer die einigung unseres
kontinents einzutreten.
ich moechte ihnen, frau generalsekretaer, herzlich fuer die
freundliche begruessung danken und ihnen, herr senator
jung, fuer ihre worte in vertretung meines freundes alain
poher. vor allem aber danke ich ihnen, lieber herr
carstens, fuer die freundliche laudatio.
dass sie dabei in so herzlicher weise auch meine frau
angesprochen haben, hat mich ganz besonders beruehrt. in
diesen tagen haben meine familie und ich eine schlimme
heimsuchung erlebt. mein juengster sohn konnte gerade
heute die intensivstation verlassen, er befindet sich auf dem
weg der genesung.
ihnen, lieber herr toepfer, danke ich besonders. das
wirken der stiftung f.v.s. ist ein eindrucksvolles beispiel
dafuer, was privates engagement, schoepferische initiative
und phantasie fuer das gemeinwohl zu leisten vermoegen. die
wertvollen beitraege zur verstaendigung zwischen west und
ost, zwischen deutschen und franzosen, ihr vielfaeltiges
engagement zur foerderung von wissenschaft und kunst
sowie ihre wegweisenden initiativen zum schutz der natur
und zur pflege von kulturdenkmaelern verdienen hohe
anerkennung. all dies ist patriotisches wirken eines deutschen
und europaeischen weltbuergers. hierfuer gebuehrt ihnen und
der stiftung unser aller dank.
fuer sie, verehrter herr professor toepfer, war
unternehmerisches wirken stets nur ein teil ihrer lebensaufgabe.
ihr ideenreichtum und ihre tatkraft galten zugleich der
foerderung des allgemeinwohls. ihm fuehlten sie sich stets in
besonderer weise verpflichtet. die kunstpreise und
stipendien, die die von ihnen gegruendeten stiftungen vergeben,
sind ein spiegelbild der vielfalt, die das kulturelle leben
unseres vaterlandes und unseres ganzen kontinents
auszeichnen. fruehzeitig haben sie die bedeutung der einigung
europas erkannt und zu ihrer vertiefung beigetragen. fuer
dieses verdienstvolle wirken danke ich ihnen.
dass sie gerade strassburg als ort der preisverleihung
gewaehlt haben, ist gewiss auch zeichen fuer die grosse
bedeutung, die die deutsch-franzoesische freundschaft fuer die
europaeische einigung hat. aus der vermeintlichen erbfeindschaft
vergangener zeiten ist laengst eine enge freundschaft
geworden, die dem europaeischen einigungswerk viele
entscheidende impulse gegeben hat und gibt. wer wie ich aus
einer grenzregion kommt, fuehlt ganz besonders den
grundlegenden wandel, der sich im verhaeltnis beider laender
zueinander vollzogen hat.
es ist von besonderer symbolischer bedeutung, dass wir hier
im europaratsgebaeude zu gast sind. diese institution
verkoerpert wie keine zweite die einheit europas im geist der
menschenrechte - jenen "genius europas", von dem papst
johannes paul ii. 1988 in seiner rede vor dem europaeischen
parlament hier in strassburg gesprochen hat.
die politischen und gesellschaftlichen umbrueche in mittel-,
ost- und suedosteuropa haben das gewicht des europarats
vergroessert und werden dies auch weiterhin tun. ich freue
mich, dass nach ungarn und der csfr auch das
demokratische polen noch in diesem monat in den europarat
aufgenommen wird.
die menschen, die jahrzehntelang jenseits des eisernen
vorhangs ein leben unter kommunistischer diktatur fuehren
mussten, haben ihre selbstbefreiung in den jahren 1989, 1990
und 1991 stets auch als "heimkehr nach europa"
verstanden. die aufnahme der neuen demokratien in den
europarat drueckt besonders deutlich aus, dass sie in der
grossen familie der freien voelker unseres kontinents
herzlich willkommen sind.
von anfang an hat der europarat seine aufgabe auch darin
gesehen, das bewusstsein fuer die kulturelle einheit europas
wacdzuhalten und zu pflegen. auch in dieser hinsicht wird
seine bedeutung wachsen. oekonomische fragen sind fuer die
einigung unseres kontinents von wesentlicher bedeutung
- ich erwaehne hier nur die starken impulse, die von der
vorbereitung auf den europaeischen binnenmarkt 1992
ausgegangen sind, und auf den zwischen eg und efta
vereinbarten europaeischen wirtschaftsraum, der rund 380
millionen menschen umfassen wird.
dennoch habe ich immer wieder davor gewarnt - und tue es
auch heute -, die kulturelle dimension des europaeischen
einigungsprozesses aus dem auge zu verlieren. die
gemeinsame kultur ist das staerkste band, das europa
zusammenhaelt und auch in zukunft zusammenschliessen wird.
gerade die menschen in mittel-, ost- und suedosteuropa haben
sich das bewusstsein fuer die kulturelle einheit europas
bewahrt - und keine diktatur hat dieses
zusammengehoerigkeitsgefuehl jemals zerstoeren koennen.
sie haben stets wert darauf
gelegt, dass sie nicht nur geographisch, sondern auch aus
ihrem selbstverstaendnis, aus ihrer tradition, aus ihrer
geschichte heraus geistig und kulturell europaeer sind.

ii.
der eiserne vorhang existiert nicht mehr, die
bundesrepublik deutschland liegt nicht mehr am rande des
freien westens, sondern im herzen eines in freiheit
zusammenwachsenden europa. der tiefgreifende wandel in europa
bedeutet einen sieg der freiheit ueber die unfreiheit, einen
sieg der menschen ueber totalitaere systeme. er waere aber
auch nicht moeglich gewesen ohne die standfeste und
beharrliche politik der freiheitlichen demokratien des westens.
entscheidend war, dass wir, die freiheitlichen demokratien
des westens, anfang der achtziger jahre zwei schwere
bewaehrungsproben bestanden haben. die europaeische
gemeinschaft befand sich damals in einer phase der
stagnation. die atlantische allianz stand vor einer
aussergewoehnlichen herausforderung.
mit der durchfuehrung des nato-doppelbeschlusses 1983
hat die bundesrepublik deutschland einen unerlaesslichen
beitrag zur festigung des atlantischen buendnisses geleistet.
ich nehme gerne die gelegenheit wahr, ihnen, herr kollege
schmidt, fuer ihre leistung zu danken, denn ohne ihre
vorarbeit beim nato-doppelbeschluss waere so nicht
moeglich gewesen, was ich dann in ihrer nachfolge fuer die
bundesrepublik deutschland erreichen konnte.
die sowjetische fuehrung musste die aussichtslosigkeit ihrer
versuche erkennen, europaeische und amerikanische
sicherheit voneinander abzukoppeln und auf diese weise die
allianz zu spalten. ich bin davon ueberzeugt, dass diese
erfahrung eine wesentliche voraussetzung fuer die politik des
neuen denkens in der sowjetunion gewesen ist - praesident
gorbatschow hat mir das selbst bestaetigt.
ohne diese erfahrung waere es nicht zu den grossen erfolgen
bei abruestung und ruestungskontrolle gekommen, die
wiedervereinigung deutschlands laege noch in weiter
ferne, und die reformbewegungen in mittel-, ost- und
suedosteuropa waeren auf dem wege zu freiheit, demokratie
und marktwirtschaft noch nicht so weit vorangekommen.
diesen bewegungen ist auch durch die weitreichenden
fortschritte der europaeischen gemeinschaft der ruecken
gestaerkt worden.
auf dem europaeischen rat vom juni 1983 in stuttgart
wurden erstmals rueckschritte und stagnation ueberwunden
und neue anstoesse zur fortentwicklung der gemeinschaft
gegeben. ich habe damals erklaert: "wir muessen den weg zu
einem gemeinsamen ekropa fortsetzen. dazu gibt es keine
alternative, es sei denn den rueckfall in das 19.
jahrhundert."
wir haben seither die suederweiterung der gemeinschaft
durch die aufnahme portugals, spaniens und griechenlands
erfolgreich durchgefuehrt. gleichzeitig haben wir grosse
fortschritte bei der vertiefung der europaeischen
integration gemacht. in gut zwoelf monaten wird der grosse
europaeische binnenmarkt mit 340 millionen menschen
vollendet sein.
und es ist jetzt schon abzusehen, dass die europaeische
gemeinschaft noch in diesem jahrzehnt eine erneute
erweiterung erfahren wird. mit dem fuer mich sicheren beitritt
oesterreichs und schwedens mitte dieses jahrzehnts und mit
dem wahrscheinlichen beitritt finnlands und norwegens,
um nur einige zu nennen, wird sich die eg immer
umfassender als europaeische gemeinschaft darstellen.
in nicht ganz einem monat werden die staats- und
regierungschefs der eg in maastricht ueber die europaeische
wirtschafts- und waehrungsunion und die politische union
entscheiden. auch hier handelt es sich um weitere wichtige
etappen auf dem weg zu unserem grossen ziel - den
"vereinigten staaten von europa".
die politische und wirtschaftliche einigung europas und die
deutsche einheit waren fuer mich immer zwei seiten einer
medaille. die deutsche einheit haben wir erreicht, jetzt
widmen wir uns mit aller kraft der erfuellung des zweiten
grossen auftrags in der praeambel unseres grundgesetzes von
1949, die einigung europas herbeizufuehren. sonst wuerden
gerade wir deutsche die herausforderung der geschichte
verfehlen.
mit der vollendung der staatlichen einheit deutschlands
und im zuge des europaeischen einigungsprozesses wird von
deutschland zu recht ein staerkeres engagement erwartet,
um gemeinsam mit unseren partnern die politischen,
wirtschaftlichen und oekologischen herausforderungen in europa
und der welt zu bewaeltigen.

iii.
der europaeische rat in maastricht ist der testfall fuer die
bereitschaft der mitgliedstaaten der europaeischen
gemeinschaft, ihr schicksal unwiderruflich miteinander zu
verknuepfen. wir wollen die beiden regierungskonferenzen ueber
die politische union sowie die wirtschafts- und waehrungsunion
zum erfolg fuehren. zwischen beiden konferenzen besteht
fuer mich ein unaufloeslicher zusammenhang. die politische
union ist das unerlaessliche gegenstueck zur wirtschafts- und
waehrungsunion.
die bundesrepublik deutschland wird in maastricht keiner
vereinbarung zustimmen, in der nicht einigermassen adaequat
politische union und wirtschafts- und waehrungsunion
zusammenpassen. alles andere waere falsch, denn eine
wirtschafts- und waehrungsunion ohne den notwendigen
politischen rahmen waere auf dauer zum misserfolg verurteilt.
fuer mich steht fest, dass mit der schaffung der politischen
union eine staerkung der rechte des europaeischen
parlaments verbunden sein muss, denn wir wollen ein europa der
gewaltenteilung. ich moechte das gerade in strassburg
betonen: die kompetenzen des europaeischen parlaments
muessen deutlich erweitert und denen der nationalen parlamente
angenaehert werden.
wir wollen einen foederalen aufbau europas, das dem
prinzip der subsidiaritaet verpflichtet sein muss, denn beides
- foederalismus wie subsidiaritaet - hat sich bei uns und
anderswo in vielfaeltiger weise bewaehrt. "einheit in vielfalt"
ist unsere vision von europa. der dreiklang "heimat -
vaterland - europa" wird die zukunft der europaeischen
voelker bestimmen.
zur politischen union gehoert auch eine gemeinsame aussen-
und sicherheitspolitik. nur wenn die europaeer mit einer
stimme sprechen und gemeinsam handeln, werden sie aktiv
zur loesung der grossen probleme unserer zeit beitragen
koennen. ich nenne nur das stichwort jugoslawien. wir
kommen um die frage nicht herum, welches instrumentarium
europa benoetigt, um mit derartigen konflikten fertig zu
werden oder besser noch: ihnen vorbeugend zu begegnen.
viele, die jetzt ueber mangelndes engagement der eg
klagen, vergessen, dass man der europaeischen gemeinschaft
das instrumentarium zum gemeinschaftlichen handeln
bisher nicht gegeben hat. gerade die erfahrungen, die wir
jetzt in jugoslawien machen muessen, bestaerken mich in der
ueberzeugung, dass es hoechste zeit ist, auch die politische
union zu schaffen. ich weiss, dass wir uns damit eine aufgabe
gestellt haben, die keinen vergleich in der geschichte kennt,
und ich bin mir auch bewusst, dass wir noch viele
schwierigkeiten zu bewaeltigen haben.
die juengste deutsch-franzoesische initiative hat vor allem zum
ziel, in dem fuer das europaeische schicksal entscheidenden
bereich der aussen- und sicherheitspolitik zu einem
moeglichst engen schulterschluss zu kommen. es geht darum, dass
die europaeer - auch im sinne einer lastenteilung - staerker
zu ihrer eigenen verantwortung stehen und den
europaeischen pfeiler ausbauen, so wie es auch unsere
transatlantischen partner seit langem fordern.
ein vereintes europa ist auf dauer ohne gemeinsame
europaeische verteidigung nicht denkbar. dies ist weder
ausdruck des zweifels am atlantischen buendnis noch ein
versuch, konkurrierende zustaendigkeiten zu schaffen.
es geht hier in wahrheit nicht um ein entweder-oder,
sondern um ein sowohl-als-auch: wir brauchen die nato
noch fuer lange zeit - und wir brauchen den europaeischen
pfeiler in der allianz. wir wollen die praesenz der usa in
europa auch in zukunft, aber es liegt zugleich im interesse
des buendnisses - gerade auch unserer amerikanischen und
kanadischen freunde -, den europaeischen pfeiler zu staerken.

iv.
eine weitere aufgabe, die sich deutschland wie auch der
europaeischen gemeinschaft stellt, ist der ausbau der
wirtschaftlichen und politischen zusammenarbeit mit unseren
nachbarn in mittel-, ost- und suedosteuropa. es ist unsere
pflicht, unseren beitrag zu leisten, damit soziale
marktwirtschaft und demokratie dort auf dauer verankert
werden.
der gesamte westen sollte sich immer vergegenwaertigen,
dass eine solche entwicklung in seinem eigenen interesse
liegt. das gilt auch fuer die baltischen staaten und ebenso
fuer die republiken der sich erneuernden sowjetunion. wir
deutsche haben uns bereits in den vergangenen jahren stark
engagiert - und tun es auch weiterhin. aber wir koennen
diese last nicht alleine tragen. nur gemeinsame
anstrengungen aller westlichen industrienationen versprechen
auf dauer erfolg. ich moechte auf das entschiedenste jenen
auffassungen widersprechen, die da lauten: erst einmal
abwarten, was aus dem ganzen wird, und dann ueber hilfen
sprechen.
wir standen im august dieses jahres fuer drei tage vor der
frage: wird sich in der sowjetunion wieder alles aendern?
wird es einen rueckschlag geben? wird eine militaerdiktatur
entstehen? wenn dies so gekommen waere, haetten wir erneut
erhebliche finanzmittel fuer waffen ausgeben muessen, so wie
wir es zur verteidigung von frieden und freiheit aus guten
gruenden in den vergangenen jahrzehnten getan haben.
es ist eine glueckliche entwicklung, dass wir in den naechsten
jahren und jahrzehnten die chance haben, in einer
friedlichen zeit dieses geld dafuer auszugeben, dass gegner
und feinde von gestern partner und freunde von heute und
morgen sein koennen. vor kurzem sprachen wir in rom auf
dem nato-gipfel davon, dass mitgliedstaaten des
ehemaligen warschauer pakts heute ernsthaft hoffen, mitglied
der nato zu werden. daran erkennt man doch, wie sehr sich
das bild innerhalb weniger jahre geaendert hat.
zur gesamteuropaeischen verantwortung der eg gehoert
auch, dass die reformstaaten mitglied der gemeinschaft
werden koennen, sobald sie die politischen und wirtschaftlichen
voraussetzungen erfuellen. ein wichtiger schritt auf
diesem wege werden assoziierungsvertraege sein, wie sie zur
zeit zwischen der eg und den neuen demokratien polen,
ungarn und csfr verhandelt werden.

v.
meine damen und herren, wir leben mitten in einer zeit, in
der sich umwaelzende ereignisse geradezu ueberstuerzen. das
sollten wir uns immer wieder bewusst machen. der fall der
berliner mauer am 9. november 1989 war darin ein
entscheidendes datum. vaclav havel, ein buergerrechtler und
schriftsteller von europaeischem rang, wurde praesident der
csfr. leningrad heisst wieder st. petersburg, und in der
letzten woche ist die kpdsu in russland endgueltig verboten
worden. so hat die augustrevolution als antwort auf den
putschversuch in moskau das zeitalter des kommunismus
auf unserem kontinent endgueltig beendet.
in den fuenf jahren vom fall der mauer bis zu den naechsten
wahlen zum europaeischen parlament im sommer 1994
vollzieht sich in europa ein wandel, von dem vor kurzem kaum
jemand zu traeumen wagte. wir duerfen die faehigkeit zum
staunen und zur dankbarkeit nicht verlieren. sonst laufen
wir gefahr, den sieg der freiheit schliesslich als etwas
selbstverstaendliches hinzunehmen.
wenn wir europaeer die chancen, die sich uns allen heute
bieten, beherzt nutzen, dann koennen wir unseren kindern
einen kontinent des dauerhaften friedens und gesicherter
zukunft hinterlassen. daran mitzuarbeiten, darf ich sie alle
einladen.