die geistige identitaet europas als kraft fuer die zukunftsgestaltung - rede des bundesministers des auswaertigen

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der bundesminister des auswaertigen, hans-dietrich
genscher, hielt bei der 445. schaffermahlzeit am
10. februar 1989 im rathaus zu bremen folgende rede:

meine herren!

die einladung, heute in dem altehrwuerdigen bremer
rathaus vor ihnen sprechen zu duerfen - nicht bei
irgendeiner gelegenheit - sondern aus anlass der "445.
schaffermahlzeit", habe ich mit bewegung und mit
dankbarkeit angenommen.
es gibt keine stadt in deutschland, die, wenn ich von meiner
heimatstadt halle/saale absehe, einen so tiefen eindruck in
mir hinterlassen hat, wie diese weltoffene freie hansestadt
bremen.
hier habe ich meine ersten beruflichen und politischen
schritte in der bundesrepublik deutschland getan, nachdem
ich 1952 meine heimat verlassen hatte. hier habe ich den
buergersinn einer freien gesellschaft erfahren, der von jeher
bremen gekennzeichnet hat. unser heutiger gastgeber, das
"haus der seefahrt", hat diesen buergersinn ueber
jahrhunderte beispielhaft mitgepraegt: buergersinn, gewachsen
aus christlicher verantwortung und naechstenliebe. eine
buergerinitiative aus solidaritaet und sozialer verantwortung,
wuerde man heute sagen.
als dem gastredner obliegt es mir, im namen aller hier
anwesenden auswaertigen gaeste, dem "haus der seefahrt"
und allen schaffern von 1989 fuer ihre einladung herzlich zu
danken. nicht nur die freundlichen begruessungsworte der
schaffer, sondern auch die warme gastlichkeit dieser runde
beweisen wieder einmal: wer sagt, die bremer seien kuehl,
meint ihren kopf - und dies zu recht - und nicht ihr herz.
in diesem alten rathaussaal begegnet uns bester
hanseatischer geist. der horizont der bremer endete niemals
am stadtwall. die buerger dieser stadt waren immer in
besonderem masse offen fuer das, was europa und die welt
bewegt. die geschichte der hanse, in der bremen eine so
hervorragende rolle spielte, ist europaeische geschichte. die
hanse hat europa nicht nur wirtschaftlich zusammengefuehrt.
indem sie gemeinsame, staedtisch buergerliche
lebensformen und institutionen entwickelte, hat sie ein
stueck europaeischer kultur und zivilisation mitgepraegt.
der blick zurueck schaerft unser bewusstsein dafuer, dass
wir heute wiederum die chance haben, europa, das ganze
europa, zu einer neuen bluete zu fuehren.
wir treffen uns zu einem zeitpunkt, da mit recht gesagt
werden kann, dass europa in bewegung geraten ist.
wiederum stellt unser alter kontinent seine vitalitaet, seine
kreativitaet unter beweis. europa besinnt sich auf sich selbst,
es besinnt sich auf seine geschichte, auf seine kultur, auf
seine traditionen. es besinnt sich auf seine schoepferischen
kraefte, und es erkennt, dass im dialog der weg in eine
bessere zukunft gesucht werden muss.
goethe bemerkte einmal, dass kein mensch die ganze
wahrheit erkennen koenne. wohl aber sei es moeglich, dass
die gedanken aller einzelnen menschen zusammen, die
gedanken der menschheit also, die wahrheit enthielten.
das aber heisst nichts anderes, als dass jeder mensch an der
wahrheit teilhat, dass jeder behaupten kann und darf, dass
ohne ihn ein teil der wahrheit ewig verborgen geblieben
waere.
wenn dem aber so ist, dann ist jeder mitmensch, seien
seine ueberzeugungen von den meinen auch noch so
verschieden, ebenfalls ein traeger der wahrheit, den ich
aals solchen zu achten habe. die folge jeder ideologie, die
behauptet, ueber die wahrheit - ueber die ganze wahrheit -
zu verfuegen, ist immer gewalt, die ihrerseits stets mit
der behaupteten wahrheit gerechtfertigt wird. so ist die
herrschaft einer ideologie auch immer die herrschaft der
gewalt. wir haben uns mit der zugehoerigkeit zur gemeinschaft
der westlichen demokratien gegen diesen herrschaftsanspruch,
wir haben uns fuer toleranz, und damit fuer freiheit
und dialog entschieden. der wahrheit kommen wir nur
naeher im gespraech mit dem anderen menschen.
in der welt von heute geht es darum, im gespraech zwischen
west und ost, zwischen nord und sued die internationalen
beziehungen zu entfeinden. es geht darum, im gespraech
die faehigkeit zu erlangen, sich in die lage des anderen zu
versetzen, ihn selbst so besser zu verstehen und auch seine
sicht der dinge zu erkennen. kurzum, es geht darum,
vorurteile abzubauen und sie zu ersetzen durch den willen,
den anderen ernst zu nehmen in seinem wollen, aber auch
mit seinen sorgen und mit seinen problemen.
eine gesellschaft, in der jeder mit jedem im gespraech um
die wahrheit ringt, wird zu einer wahrhaft menschlichen
gesellschaft, zu einer wahrhaft menschlichen ordnung.
unsere freiheitliche demokratie ist eine solche humane
gesellschaft. sie ist nicht irgendein zufallsprodukt der
europaeischen geschichte. sie ist das ergebnis der hoechsten
gedanken des europaeischen geistes.
auf diesen gedanken, die, wenn sie konsequent zu ende
gedacht werden, letztlich zur demokratie fuehren muessen,
beruht die geistige einheit europas. es muss das geschichtliche
ziel europaeischer politik sein, dieser geistigen einheit
durch eine europaeische friedensordnung - vom atlantik bis
zum ural - auch politische gestalt zu geben. eine ordnung,
in der die wuerde des menschen, in der seine einmaligkeit
der massstab aller dinge ist, in der also die menschenrechte
und das selbstbestimmungsrecht der voelker geachtet
werden.
in dieser geistigen einheit liegt auch unsere gemeinschaft
mit den demokratien nord-amerikas begruendet. diese
werte gemeinsam zu bewahren und zu verteidigen, ist die
substanz des westlichen buendnisses. diese substanz
macht unser buendnis so fest und so dauerhaft, und nur
diese substanz macht es zu einem buendnis von
gleichberechtigten. diese geistige einheit macht die
demokratien nord-amerikas zu einem teil europas.
in der nachkriegszeit, in der zeit des kalten krieges, der
zu einem naehrboden fuer das entstehen von ideologischen
feindbildern wurde, schien fuer lange zeit die identitaet
europas verloren. es vollzogen sich geistige entwicklungen,
die die europaeische identitaet vernachlaessigten. im osten
sezte man die ideologie ueber die europaeische identitaet und
ueber die rechte des einzelnen, und im westen gab es genug
menschen, die gedankenlos west-europa mit dem ganzen
europa gleichsetzten.
der kalte krieg verdeckte fuer lange zeit die unzerstoerbare
und unteilbare identitaet europas, die staerker ist als alle
ideologien. diese identitaet gruendet sich auf die gemeinsame
geschichte, auf ihre hoehepunkte und ihre irrwege, auf die
gemeinsame kultur, zu der alle voelker grosses beigetragen
haben, und auf das bewusstsein der gemeinsamen
verantwortung fuer die zukunft unseres kontinents.
die ideologischen gegensaetze, politische und militaerische
konfrontation, fuehrten zu einer tiefen trennung der beiden
teile europas. aber jahrzehnte der trennung haben aus
einem europa nicht zwei europa gemacht, und auch aus
einer deutschen nation nicht zwei deutsche nationen. in
dieser unbezweifelbaren feststellung liegt zugleich die
erkenntnis: unser deutsches schicksal ist fest eingebettet
in das schicksal europas. was europaeer von europaeern
trennt, trennt auch deutsche von deutschen.
was europaeer mit europaeern wieder zusammenfuehrt, fuehrt
auch deutsche mit deutschen zusammen. das ist die
europaeische bestimmung der deutschen, und das ist unsere
europaeische verantwortung, und es ist unsere europaeische
chance. zu recht wird deshalb von der
verantwortungsgemeinschaft der deutschen gesprochen.
das bewusstsein europaeischer identitaet wird immer staerker -
in west und in ost. ungeachtet fortbestehender gegen-
saetze und hoechst unterschiedlicher wertordnungen erweist
sich die geschichtliche, die kulturelle, die geistige identitaet
europas als die starke kraft fuer die zukunftsgestaltung
unseres kontinents.
es ist die dynamik dreier historischer prozesse, die heute
europa bestimmt. zuallererst ist es die dynamik der
europaeischen gemeinschaft auf dem wege zur europaeischen
union. der gemeinsame binnenmarkt, der gemeinsame
sozialraum, der gemeinsame waehrungsraum, der
gemeinsame technologieraum - das alles sind grosse
perspektiven, die grosse kreative kraefte freisetzen.
es handelt sich dabei nicht nur um einen oekonomischen
vorgang. in wahrheit ist der oekonomische erfolg ein
ergebnis der freien entfaltung der persoenlichkeit. freiheit
und menschenwuerde erleben einen friedlichen triumph. die
soziale marktwirtschaft ist die anwendung unserer
freiheitlichen ordnung auf wirtschaft und gesellschaft. man
kann mit guten gruenden sagen, dass die entwicklung in der
europaeischen gemeinschaft heute die zukunftstraechtigste
entwicklung in der welt ist.
die welt um uns herum erkennt das oft besser als mancher
innerhalb der europaeischen gemeinschaft. es scheint das
schicksal der europaeischen gemeinschaft zu sein, dass sie
im inneren unterschaetzt und von aussen ueberschaetzt wird.
die europaeische gemeinschaft ist ein sieg ueber nationale
egoismen, ueber machtpolitisches denken und ueber vorurteile.
unsere gemeinschaft ist der groesste und schoenste sieg
der europaeischen geschichte. er kostete keinen tropfen
blut und kein menschenleben. aber er gewinnt uns die
zukunft.
der aufbau der europaeischen gemeinschaft forderte und
brauchte eine neue offenheit der menschen, der
gesellschaften und der staaten - er brauchte eine neue
aufgeschlossenheit. dass die mitgliedstaaten der eg die
scheuklappen des chauvinismus ablegten, dass sie vorurteile
abwarfen, dass sie eine neue offenheit erprobten, das ist ihre
historische leistung, das ist die antwort, die unser teil
europa in uebereinstimmung mit den besten traditionen des
europaeischen geistes gibt.
von existentieller bedeutung fuer stabilitaet, sicherheit und
wirtschaftliche entwicklung unseres europaeischen
einigungswerkes ist das buendnis zwischen den usa und den
europaeischen demokratien. deshalb ist die bekraeftigung
dieser transatlantischen partnerschaft die erste
standortbestimmung, wenn es um die klaerung der ausgangsposition
fuer die zukunft geht. die transatlantische partnerschaft ist
mehr als eine interessen- oder sicherheitsgemeinschaft. es
ist die uebereinstimmung der werte, es ist das bekenntnis zu
freiheit und menschenwuerde, die das fundament unserer
verbindung ausmachen.
die absage an den protektionismus, das bekenntnis zu
einem freien welthandel gehoeren zu den gemeinsamen
errungenschaften der europaeischen und
nordamerikanischen demokratien. weil wir unsere europaeische
offenheit als geschichtliche leistung empfinden, werden wir nun
nicht in provinzielles denken zurueckfallen und aus unserer
gemeinschaft eine wirtschaftliche festung europa machen.
das wuerde sich nicht nur gegen unsere freunde und partner
richten, sondern auch gegen unsere eigenen interessen,
denn die gemeinschaft ist existentiell auf einen freien
welthandel angewiesen.
wer zugbruecken hochzieht, macht als erstes sich selbst und
seine mitbuerger zu gefangenen. das ist nicht die politik der
freiheit, und es ist nicht die politik der zukunft. europa muss
ein kontinent der offenheit sein. nur eine auf offenheit
angelegte europaeische gemeinschaft bleibt sich selbst treu
und der welt ein verlaesslicher partner.
der gemeinsame binnenmarkt mit ueber 320 millionen
europaeern, die freizuegigkeit von menschen und kapital, von
guetern und dienstleistungen - das ist mehr als die summe
der zwoelf demokratischen volkswirtschaften. das ist die
mobilisierung einer grossen wachstumsreserve fuer die
weltwirtschaft. noch ist das erwartung, nicht realitaet.
aber schon diese erwartung hat dem integrationsprozess
eine unumkehrbare dynamik verliehen.
in den usa hat eben ein neuer praesident sein amt angetreten.
george bush ist ein in vielen aemtern erprobter mann, er
ist ein bewaehrter freund europas, wir wuenschen ihm fuer
seine amtsfuehrung eine glueckliche hand. in seiner amtszeit
werden wir die aufgabe haben, den transatlantischen
beziehungen eine neue und noch staerkere qualitaet zu geben.
mit sich immer staerker ausweitender globalisierung der
wirtschaft, des umweltschutzes, der zwischenstaatlichen
beziehungen, gewinnt das europaeisch-amerikanische
verhaeltnis an zusaetzlicher bedeutung.
diese entwicklung uebertraegt der europaeischen
gemeinschaft, den usa und japan als den grossen
wirtschaftszentren dieser welt eine noch groessere verantwortung.
die europaeische gemeinschaft ist ein modell regionaler
zusammenarbeit. regionale zusammenschluesse gibt es auch
in anderen teilen der welt. die sechs asean-staaten
sind ein beispiel ebenso wie der golf-kooperationsrat.
mit beiden unterhaelt die eg kooperationsvertraege - auf
deutsche initiative.
aber auch die beiden anderen grossen wirtschaftlichen
kraftzentren suchen regionale zusammenarbeit. das
freihandelsabkommen usa-kanada ist ein beispiel dafuer, und
manches spricht dafuer, dass sich japan, zusammen mit den
"kleinen tigern" in ost-asien, auf einen yen-block
hinbewegt. das fuehrt regional zur beseitigung von
handelshindernissen - eine entwicklung, die zu begruessen ist.
es kommt jetzt darauf an, dass aus regionaler zusammenarbeit,
nicht durch abschirmung nach aussen, handelsbloecke
entstehen, die der grundidee des gatt - der idee des
freien welthandels - den boden entziehen. jetzt muessen
sich weltwirtschaftliche verantwortung und partnerschaft
im westlichen dreieck - europa-nordamerika-japan -
bewaehren. der protektionismus grosser wirtschaftsraeume
muesste noch schlimmere wirkungen fuer die weltwirtschaft
haben als der national-staatliche protektionismus der
vergangenheit.
in den handelspolitischen beziehungen zwischen der eg
und den usa darf deshalb transatlantische verantwortung
nicht durch handelspolitische rechthaberei ueberdeckt
werden. bei dieser ermahnung zeige ich nicht zuerst nach
washington, sondern auf europa. die europaeische
gemeinschaft muss erkennen, dass die zunehmende selbstfindung
europas, dass die schaffung des gemeinsamen
binnenmarktes, dass der weg zur europaeischen union fuer
die vereinigten staaten neue herausforderungen mit sich
bringt. es wird wirklichkeit, was praesident kennedy vor
einem vierteljahrhundert mit der forderung nach dem
europaeischen pfeiler der westlichen gemeinschaft wollte,
die gleichgewichtigkeit der transatlantischen beziehungen.
es bedarf jetzt des verantwortlichen handelns auf beiden
seiten des atlantiks, darin nicht eine gefahr, sondern die
chance ebenbuertiger partnerschaft zu erkennen, einer
partnerschaft mit gleichen rechten, mit gleichen pflichten
und mit gleicher verantwortung. so wie die europaeische
gemeinschaft eine immer staerkere wirkung auf die
weltwirtschaft entfaltet - nicht nur im verhaeltnis zu den
usa und japan, sondern auch im verhaeltnis zu den
entwicklungslaendern, so strahlt sie aus auf das ganze europa.
die europaeische gemeinschaft ist ein kernelement der
heutigen und kuenftigen struktur europas. der gemeinsame
binnenmarkt wird zu einem wachstumsmotor fuer die
weltwirtschaft, und noch viel mehr fuer das ganze europa
werden.
in einer zeit zunehmender interdependenz und verflechtung
ist der binnenmarkt nicht nur eine chance fuer die zwoelf
mitgliedstaaten, sondern fuer alle wirtschaftlichen partner
der eg - allen voran die efta-staaten. aus den jahren der
wachstumsschwaeche in der eg am anfang der achtziger
jahre wissen wir, dass sich daraus fatale folgen auch fuer
unsere europaeischen partner ausserhalb der eg ergaben.
auch fuer die zukunft europas darf binnenmarkt nicht heissen:
mehr protektionismus auf groesserer flaeche, sondern groessere
entfaltung mit mehr offenheit nach aussen. die efta-staaten
sollten die grosse chance erkennen, die auch fuer sie in
einer wirtschaftlich starken europaeischen gemeinschaft
liegt. natuerlich werden die efta-staaten wie die
mitgliedstaaten der eg selbst komplizierte anpassungsprozesse
zu durchlaufen haben. aber welche perspektive eroeffnet sich
am ende des tunnels - mit einem markt von 320 millionen
verbrauchern, mit dem engste zusammenarbeit fuer die
efta-staaten sich wirklich lohnt? niemand ist diesem
markt in jeder hinsicht so nahe wie die efta-staaten.
die bundesrepublik deutschland wird im verhaeltnis zu den
efta-staaten alles tun, um im wege enger konsultationen
auf eine dynamische und harmonische vertiefung der
beziehungen hinzuwirken.
die europaeische gemeinschaft ist ein stueck schon
verwirklichter europaeischer friedensordnung. aber die
gemeinschaft ist nicht das ganze europa. auch das
verpflichtet uns zur offenheit.
"die annaeherung der beiden teile europas", sagt praesident
mitterrand, "ist fuer uns europaeer die grosse aufgabe am
ende dieses jahrhunderts". das ist uns deutschen aus dem
herzen gesprochen, es beweist erneut die tiefgreifende
uebereinstimmung der deutschen und franzoesischen politik.
nur durch annaeherung wird eine europaeische
friedensordnung moeglich. nur so kann europa wieder enger
zusammenruecken. es ist ja immer noch das eine europa, um
das es geht.
wenn sich heute reformbewegungen in den sozialistischen
staaten - recht verschieden in der form und auch in der
intensitaet - vollziehen, wenn die neue fuehrung in der
sowjetunion schritt fuer schritt kritisch die eigene geschichte
aufarbeitet, wenn 1000 jahre christianisierung russlands
feierlich begangen werden, wenn die rechte des einzelnen
schritt fuer schritt gestaerkt werden, wenn in budapest von
marktwirtschaft die rede ist und vom mehrparteiensystem,
wenn ueber gewerkschaftspluralitaet in warschau offiziell
verhandelt wird, dann zeigt das das ganze ausmass der
veraenderungen.
natuerlich muss die frage gestellt werden, wohin soll das
fuehren, ist es ernst gemeint? oder ist es nur eine taktische
variante?
die antwort des westens muss nuechtern und realistisch sein.
sie muss die frage beantworten, ob diese entwicklung auch
in unserem interesse liegt. wenn wir das bejahen - und wir
tun es - dann liegt es auch in unserem interesse, konstruktiv
darauf einzugehen. es geht nicht um vorleistungen zu
lasten unserer sicherheit, es geht nicht darum, dass der
westen abruestet, und der osten bleibt ueberlegen.
verantwortliche sicherheitspolitik kann nicht auf
erwartungen fuer morgen bauen. aber zu verantwortlicher
politik gehoert es auch, sich bietende chancen zu nutzen,
durch zusammenarbeit vertrauen zu schaffen, durch dialog
spannungsursachen zu beseitigen, durch verhandlungen
abruestung zu erreichen.
es geht in der sicherheitspolitik darum, durch
verhandlungen die oestliche ueberlegenheit abzubauen, und,
wie die nato es vorgeschlagen hat, auf beiden seiten umfang
und struktur der streitkraefte allein an der notwendigkeit der
selbstverteidigung zu orientieren. es muss dabei bleiben:
wer mehr hat, muss mehr abruesten.
es liegt mir daran, an dieser stelle ein wort zu den soldaten
unserer bundeswehr zu sagen.
entspannung, dialog, zusammenarbeit und
abruestungsverhandlungen sind ganz gewiss keine gefahr fuer
die verteidigungsbereitschaft in unserem land, wohl aber
koennen sie zu mehr sicherheit auf unserem kontinent beitragen.
unsere wehrpflichtarmee ist ein teil unserer gesellschaft,
sie ist ausdruck des willens unserer demokratie, ihre
freiheit und ihren aeusseren frieden zu bewahren. der dienst
in der bundeswehr ist deshalb freiheits- und friedensdienst.
aus diesem verstaendnis heraus hat unsere bundeswehr
keine feindbilder, und sie braucht sie auch nicht. fuer eine
institution eines demokratischen staates sind feindbilder
wesensfremd. es muesste im uebrigen schlecht bestellt sein
um unseren demokratischen staat und um unser westliches
buendnis, wenn sie fuer ihre rechtfertigung der feindbilder
beduerften.
auch in einer kuenftigen kooperativen friedensstruktur fuer
europa wird unsere bundeswehr ihren friedensauftrag
haben. ich halte es fuer falsch, aus einem abnehmenden
bedrohungsgefuehl in unserer bevoelkerung auf abnehmende
verteidigungsbereitschaft zu schliessen. das wird der
haltung unserer buerger nicht gerecht und auch nicht der
pflichterfuellung unserer soldaten.
das empfinden unserer buerger, dass die gefahr einer
militaerischen konfrontation geringer ist als
frueher, dass heute mehr abruestungschancen
bestehen als frueher, ist doch richtig, es beruht
auf einer zutreffenden analyse. aber dies fuehrt doch
unsere buerger nicht zu dem falschen schluss, dass deshalb
die bundeswehr ueberfluessig sei. unsere buerger wissen gut
genug, dass ihre sicherheit auf der existenz unserer
bundeswehr, auf unserem buendnis und auf einer
verantwortungsvollen friedenspolitik der bundesregierung
beruht. das ist der sicherheitspolitische konsens, der von
der grossen mehrheit in unserem land getragen wird. dieser
konsens wird sich auch in zukunft als tragfaehig erweisen.
dieser konsens wuerde nur dann gefaehrdet, wenn wir
realistische chancen zur verbesserung des west-ost-verhaeltnisses
und zur abruestung nicht nutzten. und fuer die motivation
unserer soldaten entsteht nur dann eine gefahr, wenn sie
von der politik mit ihrem auftrag allein gelassen werden.
der auftrag der bundeswehr, einschliesslich aller uebungen
und manoever, ist ein von der politik erteilter auftrag. diesen
auftrag hat die politik zu vertreten. die politik darf das nicht
auf die soldaten und ihre familien abladen. der auftrag
unserer bundeswehr ist teil unserer politik der aktiven
friedenssicherung, das ist heute so und wird auch in
zukunft so sein.
unsere politik der verbesserung des west-ost-verhaeltnisses
laesst sich leiten von der einsicht, dass eine sowjetunion,
die sich oeffnet nach innen und aussen fuer den westen ein
besserer partner ist als eine sowjetunion, die sich nach
innen verhaertet und nach aussen abschliesst.
wenn die reformer in der sowjetunion ihre ziele erreichen
wollen, muessen sie auf eine ausweitung des freiheitsraums
sowohl des einzelnen buergers als auch der verschiedenen
gesellschaftlichen gruppen hinwirken.
je weiter dieser prozess fortschritte macht, um so
kooperationsfaehiger wird die sowjetunion in jeder hinsicht
fuer die westlichen demokratien. ich denke, dass andrej
sacharow recht hat, wenn er sagt, der westen muesse nicht
gorbatschow fuerchten, sondern wenn es etwas zu fuerchten
gebe, dann den gedanken, gorbatschow koenne sich nicht
durchsetzen mit seiner politik.
wenn ich von den drei dynamischen prozessen spreche,
die europa heute bestimmen, so habe ich zuerst auf die
entwicklung in der europaeischen gemeinschaft verwiesen,
sie ist die attraktivste entwicklung.
die zweite dynamische entwicklung ist die reformpolitik in
der sowjetunion und anderen sozialistischen staaten. sie
bedeutet schritt fuer schritt mehr kooperationsfaehigkeit,
sie ermoeglicht damit den dritten dynamischen prozess,
naemlich die verbesserung der west-ost-beziehungen.
es ist offenkundig, dass in einer solchen phase der
entwicklung in europa grosse chancen liegen, aber auch viele
unwaegbarkeiten - vor allem angesichts der in vieler hinsicht
revolutionaer anmutenden veraenderungen im osten.
in einer solchen entwicklung bedarf es viel
staatsmaennischer weitsicht, um das wuenschenswerte von dem
machbaren zu unterscheiden, um realismus und wunschdenken
auseinanderzuhalten. vor allem aber gilt es zu erkennen,
dass zusammenarbeit zum beiderseitigen vorteil gefordert
ist, nicht suchen nach einseitigen vorteilen, nicht ausnutzen
von schwaechen, die jeden prozess durchgreifender
veraenderungen begleiten. stabilitaet und nicht gegenseitige
destabilisierung muss das ziel sein.
letztlich geht es darum, ein europa zu schaffen, in dem
kooperation an die stelle von konfrontation tritt, ein europa,
in dem das bemuehen um ueberwindung des trennenden das
handeln auf allen seiten bestimmt. das ist gemeint, wenn
von der selbstbesinnung europas die rede ist. es soll ein
europa sein der pluralitaet, das heisst der pluralitaet in den
einzelnen staaten, aber auch unter den staaten.
ein europa also, in dem hoechst unterschiedliche politische
und gesellschaftliche ordnungen miteinander in friedlichem
wettbewerb leben. eine europaeische friedensordnung also,
wie die nato sie schon 1967 vorgeschlagen hat. diese
selbstbesinnung europas ist notwendig, angesichts der
grossen menschheitsaufgaben, vor denen wir stehen.
weltweit waechst das bewusstsein, dass die menschheit vor
neuen herausforderungen steht. herausforderungen, die
groesser sind als jemals zuvor in der menschheitsgeschichte.
herausforderungen, bei denen chancen und gefahren
nahe beieinander liegen.
chancen, weil neue einsichten und neues denken die
hoffnung geben, dass gegensaetze durch dialog ueberwunden
werden, dass kooperation an die stelle von konfrontation
tritt. chancen, weil neue technologien unsere welt
humaner gestalten koennen.
aber wenn wir versagen, dann versagen wir nicht nur fuer
uns, dann koennen wir fuer alle zukunft der
menschheitsgeschichte ein ende bereiten. es geht um gefahren,
die keinem volk allein drohen. sie kennen keine grenzen,
weder staatliche noch ideologische noch natuerliche. es sind
gefahren fuer die ganze menschheit.
die menschheit ist zur ueberlebensgemeinschaft auf
unserem immer dichter besiedelten raumschiff erde geworden.
wir koennen nur gemeinsam ueberleben oder gegeneinanser
untergehen: im krieg der voelker gegeneinander, im
krieg des menschen gegen die natur, im krieg des
menschen gegen sich selbst, gegen sein wuerde und seine
einmaligkeit.
wir brauchen eine neue aufgeschlossenheit fuer die
zusammenarbeit zwischen west und ost, zwischen nord und sued,
fuer die entmilitarisierung der internationalen beziehungen,
fuer ruestungskontrolle und abruestung, fuer den weltweiten
schutz der natuerlichen lebensgrundlagen, fuer die loesung
der probleme der dritten welt, fuer die loesung der
drueckenden verschuldungsprobleme, fuer die entwicklung der
wirtschaftsbeziehungen, fuer den kulturellen dialog.
europa - dem ganzen europa - faellt dabei eine entscheidende
rolle zu. fuer den uebergang in das neue jahrtausend
hat unser kontinent nach einer wechselvollen, oft tragischen
geschichte eine kuehne vision: die vision von einer
europaeischen friedensordnung vom atlantik bis zum ural.
1967 wurde diese vision entworfen. entworfen von der
gemeinschaft der westlichen demokratien. es war das
westliche buendnis, es war die nato, die mit dem
harmelbericht das ziel einer europaeischen friedensordnung
vom atlantik bis zum ural setzte. doch viel musste geschehen,
um den weg dahin zu ebnen.
heute erleben wir die grosse anziehungskraft, die unser
freiheitliches modell - die auf freiheit und menschenwuerde
gegruendete demokratie - entfaltet. was man von diesem
modell der freiheit fuer sich uebernehmen kann - ja, um des
eigenen vorteils willen uebernehmen muss - das ist die unter
den reformern in den sozialistischen staaten diskutierte
frage. das beweist attraktivitaet und kraft der idee der
freiheit. jeder schritt, der dort in richtung auf mehr freiheit
getan wird, ist besinnung auf die gemeinsame europaeische
identitaet, und in dieser besinnung liegt zugleich der
ausgangspunkt der dynamik fuer die annaeherung zwischen ost
und west.
unser standort, der standort der bundesrepublik deutschland,
ist dabei unzweifelhaft. wir gehoeren zur gemeinschaft
der westlichen demokratien. diese zugehoerigkeit ist
endgueltig, weil sie gleichbedeutend ist mit der freiheitlich-
demokratischen grundordnung unserer verfassung. wir sind keine
wanderer zwischen den welten. aber es ist auch unsere
aufgabe, zu arbeiten fuer die annaeherung zwischen west
und ost.
der franzoesische dichter und diplomat paul claudel sagte
1945: "deutschland ist nicht dazu da, die voelker zu spalten,
sondern . . . all die unterschiedlichen nationen, die es
umgeben, spueren zu lassen, dass sie ohne einander nicht
leben koennen."
so verbinden sich in vorher nie dagewesener weise unser
demokratischer staat, unsere zugehoerigkeit zur
gemeinschaft der westlichen demokratien - zur eg und zur
nato also - und unsere berufung, hinzuarbeiten auf die
ueberwindung des trennenden in europa, und das bedeutet
auch auf die wiederbesinnung europas auf sich selbst.
meine herren, erkennen wir die chance, die sich fuer europa
bietet, nehmen wir sie wahr mit augenmass und realismus,
aber auch mit der entschiedenheit und mit der
entschlossenheit, ohne die es keinen fortschritt gibt auf
dieser welt. aber vergessen wir nie, fortschritt gibt es nur
in freiheit.