bildungschancen in europa - rede von bundesminister Möllemann in dietzenbach

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der bundesminister fuer bildung und wissenschaft, juergen
w. moellemann, hielt zum thema "bildungschancen in
europa" am 8. mai 1989 im kolleg des buergerhauses,
dietzenbach, folgende rede:

meine damen und herren!

europa '92 im zeichen des binnenmarktes, der bis zum
31. dezember 1992 vollendet sein soll, stellt auch eine
herausforderung fuer den bildungsbereich dar.
der binnenmarkt wird mehr chancen, mehr wettbewerb,
mehr mobilitaet bringen, das ist die kuerzeste formel, auf
die dieses ehrgeizige projekt gebracht werden kann.
zu einem sehr grossen teil wird der binnenmarkt - darueber
muessen wir uns im klaren sein - hier in der bundesrepublik
deutschland stattfinden. ein grosser arbeitsmarkt, der groesste
in der eg, hohe loehne, nach der schweiz die hoechsten in
der welt, hohe arbeitsproduktivitaet, hoeher als in den usa,
hohe sozialleistungen im rahmen hoher
lohnnebenverguetungen, die hoechsten lohnnebenverguetungen in
der welt ferner die tatsache, dass die bundesrepublik standort
zahlreicher eg-weit und weltweit taetiger unternehmen ist - das
alles sind faktoren, die die bundesrepublik fuer auslaendische
waren, dienstleistungen und vor allem fuer auslaendische
arbeitnehmer, auch hoeher- und hochqualifizierte, ab 1992
noch attraktiver machen, als sie es schon ist.
daraus entsteht ein gewisser arbeitsmarktdruck, gerade
auch fuer besser qualifizierte, und ein gewisser
qualifikationsdruck fuer arbeitskraefte, fuer kuenftige und
bereits berufstaetige, auch hier im eigenen lande. der
binnenmarkt beginnt vor der haustuer.
daneben gibt es die chancen des europaweiten
arbeitsmarkts, die chance, auf dauer oder voruebergehend
in einem eg-land taetig zu werden.
wie ist unser bildungswesen darauf vorbereitet? kann es
diese qualifikationsprozesse, die im hinblick auf europa '92
erforderlich sind, leisten?
es gibt eine neue bildungsnachfrage, und die lautet:
vermittlung von europa-kompetenz fuer den beruflichen und
privaten bereich als voraussetzung fuer die wahrnehmung
des rechts auf freizuegigkeit. der bildungsbereich muss das
formale recht der freizuegigkeit materiell anfuellen. sind
unsere bildungsangebote auf diese neue nachfrage
eingestellt?
meine antwort: die bildungseinrichtungen der
bundesrepublik deutschland haben selbst und vermitteln ihren
teilnehmern bereits diese kompetenz.
dies ist auch in der deutschen wirtschaft die vorherrschende
meinung. jugendliche, die unsere bildungseinrichtungen
mit einer abschlussqualifikation verlassen, muessten im
regelfall gute chancen auf dem hiesigen und auf dem
europaeischen arbeitsmarkt haben.
zum allgemeinbildenden schulwesen ist zunaechst
festzustellen, dass wir eine oeffentliche diskussion
grossen ausmasses ueber mangelnde qualitaet, ueber
leistungsverfall und schulversagen, anders als in vielen
europaeischen nachbarstaaten, in der bundesrepublik
gluecklicherweise nicht zu fuehren brauchen.
lehrerbildung, lehrerausstattung, lehrerbesoldung,
lehrplaene, lehrbuecher, schulgebaeude und anderes mehr
koennen sich im europaeischen vergleich sehen lassen.
ich moechte als zweites das an stundenzahl umfangreiche
fremdsprachenangebot erwaehnen, das eine staerke des
deutschen bildungswesens ist. ich appelliere an alle
beteiligten - schueler, eltern, lehrer, bildungspolitiker -
davon nicht abzulassen und eher noch etwas zuzulegen.
fremdsprachenlernen ist kein privileg fuer hochbegabte und
weitgereiste. fremdsprachen lernen kann jeder, der dazu
motiviert ist, unabhaengig von alter, einkommen und
intelligenzquotient. laender wie luxemburg, belgien, die
niederlande, die schweiz, die am schnittpunkt von grossen
europaeischen sprachgebieten liegen, sind ein beweis dafuer.
eine weitere staerke unseres allgemeinbildenden
schulwesens ist der hochentwickelte schueleraustausch. rund
23000 schueler aus dem in- und ausland werden jaehrlich
vom paedagogischen austauschdienst der
kultusministerkonferenz in austauschmassnahmen mit zirka 60
laendern vermittelt. das ist ein stueck weltoffenheit, das wir
fuer unsere jugend brauchen.
das berufliche bildungswesen der bundesrepublik
deutschland geniesst international hohes ansehen. der
trend zur qualifizierung, den wir immer unterstuetzt und
vertreten haben, haelt europaweit und weltweit an. wir
koennen hier durchaus mithalten und sind weithin sogar
schrittmacher. ueber die berufliche bildung und/oder ueber
eine hochschulausbildung erreichen heute rund 90 prozent
eines jahrgangs eine abschlussqualifikation. das ist
international gesehen eine stolze zahl.
der hohe ausbildungsstand der deutschen beschaeftigten ist
der massgebliche faktor fuer die hohe arbeitsproduktivitaet
und damit fuer die wettbewerbsfaehigkeit des industrie-
und dienstleistungsstandorts bundesrepublik deutschland.
nach allen verfuegbaren informationen duerften die
absolventen deutscher bildungseinrichtungen im europaeischen
vergleich sehr gut liegen und im europaeischen
beschaeftigungssystem sehr gute chancen haben.
fuer die unternehmerseite liegen hierzu ergebnisse einer
umfrage vor, die der deutsche industrie- und handelstag
vorgenommen hat. danach sieht die haelfte der deutschen
unternehmer keine probleme, sich in dem entstehenden
binnenmarkt zurechtzufinden. nur knapp 10 prozent der
befragten unternehmer befuerchten schwierigkeiten. die
positive einstellung wird von den befragten damit
begruendet, dass die bundesrepublik deutschland in allen
europaeischen laendern nr. 1 oder nr. 2 als importeur und
exporteur ist. die deutschen investitionen in europa machen
wertmaessig fast 45 prozent der deutschen
auslandsinvestitionen aus. von etwa 15000 deutschen unternehmen,
die ausserhalb der bundesrepublik produzieren und verkaufen,
haben allein 6300 ihren standort in der eg (ausserhalb der
bundesrepublik).
unser hochschulwesen ist hochgradig ausdifferenziert,
so dass sowohl praxisorientierte als auch theorie- und
forschungsorientierte angebote gemacht werden koennen.
fuer die vorbereitung auf die berufstaetigkeit auf dem
groesseren europaeischen markt ist es besonders wichtig,
studierenden die moeglichkeiten zu geben, fruehzeitig im
ausland erfahrungen sammeln zu koennen. es gibt bereits heute
viele angebote, an einer partnerhochschule im eg-ausland zu
studieren. eine grosse anzahl von hochschulen und
fachhochschulen haben mit hochschulen in anderen eg-
laendern gemeinsame studienprogramme und studenten-
austauschprogramme entwickelt. mitte 1988 unterhielten
deutsche fachhochschulen 560 auslandsbeziehungen und
deutsche universitaeten 1000 auslandsbeziehungen,
egweit und darueber hinaus. das sind wiederum stolze zahlen.
im rahmen des von der gemeinschaft aufgelegten
erasmus-programms werden inzwischen hochschulen, die mit
hochschulen in anderen eg-laendern in eine kooperation
eintreten wollen, finanziell unterstuetzt.
ich will aber auch erwaehnen, dass es hinsichtlich unseres
bildungswesens, seiner fitness fuer europa oder seiner
europafaehigkeit auch einige merkposten gibt.
unsere partner in der eg sind auch nicht untaetig. ich
erwaehne nur einmal das beispiel frankreich. dort ist das
bildungsbudget der groesste einzeletat. mein franzoesischer
kollege hat fuer 1989 sogar noch einen ueberproportionalen
etatzuwachs erreichen koennen, fuer den hochschulbereich
von 9,1 prozent. ich habe fuer die bundesrepublik
deutschland im laufenden haushaltsjahr immerhin eine steigerung
von 7,7 prozent durchgesetzt. auf die entwicklung in
unserem nachbarland kann ich jedoch, was den bildungsetat
anbetrifft, nur mit einer mischung aus anerkennung und
neid blicken. fuer 1990 habe ich im uebrigen fuer den haushalt
des bundesministeriums fuer bildung und wissenschaft eine
steigerungsrate von 20 prozent angefordert.
frankreich hat darueber hinaus die absicht erklaert, bis zum
jahre 2000 80 prozent eines jahrgangs zum baccalaureat,
sprich abitur, zu fuehren. dies ist ein deutlicher indikator
fuer die politische zielsetzung, moeglichst vielen jungen
menschen eine verbesserte anspruchsvolle qualifikation zu
vermitteln. diese bildungspolitische aufgabe stellt sich auch
fuer uns. allerdings wuerde ich fuer die bundesrepublik
deutschland eine derartige zielsetzung nicht als leitvorstellung
akzeptieren. ich glaube vielmehr, dass die differenzierte
bildungslandschaft in der bundesrepublik den jugendlichen
mehr moeglichkeiten bietet, eine ihren spezifischen
neigungen und leistungen entsprechende anerkannte
qualifizierung zu erreichen.
naechster merkposten: in der bundesrepublik deutschland
liegt das berufseintrittsalter von hochschulabsolventen in
der regel um mehrere jahre hoeher als bei absolventen
aus anderen eg-laendern, bedingt durch lange schulzeit
(13 jahre), ausgedehnte studienzeiten, lang hingezogene
pruefungsverfahren und zeitverluste an den uebergangsstellen
(abitur/wehrdienst beziehungsweise zivildienst,
wehrdienst/immatrikulation und so weiter) auf grund
mangelnder abstimmung zwischen schulbehoerden,
militaerbehoerden, hochschulen und so weiter. auslaendische
hochschulabsolventen haben auf grund ihres geringeren alters
wettbewerbsvorteile gegenueber deutschen bewerbern auf
dem europaeischen arbeitsmarkt.
wir muessen alles tun, um die bildungs- und ausbildungszeiten
von hochschulabsolventen zu straffen. das bedeutet:
- verkuerzung der gymnasialzeit von neun auf
acht jahre. entsprechende schulversuche, die dies
erproben wollen, werden vom bundesministerium fuer
bildung und wissenschaft finanziell gefoerdert.
- verkuerzung der uebergangszeiten. im maerz das
schriftliche abitur ablegen, im mai das muendliche, ende
juni das abiturzeugnis entgegennehmen und erst am
15. september das hochschulstudium aufnehmen oder
erst am 1. oktober den wehrdienst beziehungsweise den
zivildienst antreten koennen, ist eine unzumutbare
zeitverzoegerung. eine dauerhafte regelung, insbesondere
zwischen den kultusministern der laender und den wehr- und
zivildienstbehoerden, ist hier unerlaesslich.
- verkuerzung der promotionszeiten. der vom
bundesministerium fuer bildung und wissenschaft
gefoerderte aufbau des postgraduiertenstudiums nach
amerikanischem vorbild wird hier, so hoffe ich, die notwendige
straffung auf zwei jahre bringen und auf mittlere sicht
auch rueckwirkungen im sinne einer straffung der vor
dem postgraduiertenstudium liegenden studienzeiten
fuehren. wir muessen in der bundesrepublik deutschland
die studiengaenge nach angelsaechsischem vorbild in sich
anders strukturieren, in der weise, dass
zwischenausstiege mit arbeitsmarktrelevanten qualifikationen
moeglich oder sogar wie in grossbritannien, usa und japan die
regel sind.
weiterer merkposten: die ueberlangen studienzeiten beruehren
auf mittlere sicht auch die bundesrepublik deutschland
als bildungsstandort. bei europaweiter mobilitaet in einem
europaeischen bildungsraum mit europaweit anerkannten
abschluessen und zwischenabschluessen wird laengerfristig
auch ein wettbewerb der hochschulen um studenten
eintreten, insbesondere auch um leistungsfaehige studenten,
und ein kriterium wird dabei die laenge der ausbildungszeit
sein.
merkposten: forschungsstandort bundesrepublik
deutschland: von herausragender bedeutung fuer die weitere
wirtschaftliche, technologische, arbeitsmarktpolitische und
soziale entwicklung der bundesrepublik deutschland wird
die frage sein, ob sie als forschungsstandort attraktiv
bleibt.
das gegenwaertige bild ist durchaus uneinheitlich.
spektakulaeren abwanderungsfaellen wie seinerzeit des
mathematikers falting und jetzt des chemie-nobelpreistraegers
deisenhofer steht gegenueber, dass z.b. der max-planck-
gesellschaft immer wieder gelingt, hochqualifizierte
wissenschaftler aus dem ausland zurueckzugewinnen.
fuer mitte der neunziger jahre kann sogar damit gerechnet
werden, dass juengere wissenschaftler aus dem eg-raum
wegen der guten arbeitsbedingungen in unseren instituten
und wegen unserer gehaltsstruktur im staerkeren masse
zuziehen und bei uns konkurrieren werden, wobei
insbesondere in der industrieforschung diese auslaendischen
wissenschaftler auf grund ihres alters (stichwort: kuerzere
studiengaenge, haeufig keine wehrpflicht) gegenueber deutschen
hochschulabsolventen wettbewerbsvorteile haben.
eine verlagerung von wissenschaftlicher forschung ins
ausland ist in letzter zeit im bereich der gentechnik und
der tierversuche zu beobachten, nicht zuletzt auf grund
hiesiger mentalitaetskurven und -spruenge. es ist dabei
allerdings auch zu bedenken, dass weltweit taetige firmen
weitere gruende haben, ins ausland zu gehen. sie verlagern
eiinen teil ihrer forschungsstaetten dahin, wo ihre
produktionsstaetten und verteilungsketten bereits sind,
naemlich in ihre hauptauslandsmaerkte.
im uebrigen muss gesehen werden, dass das forschungsbudget
der bundesrepublik deutschland nur einen anteil von
gut 9 prozent an den forschungsausgaben der westlichen
welt hat, das der vereinigten staaten von amerika dagegen
54 prozent und das von japan 19 prozent. mit 9 prozent
flaechendeckend auf allen gebieten eine spitzenposition
erreichen zu wollen, ist illusorisch.
wir sind daher auf internationale kooperation in der
forschung angewiesen. das kann und muss beispielsweise
geschehen
- im rahmen der freiwilligen kooperation mit unseren
partnern in der eg oder
- auf der grundlage der kompetenzen, die die
gemeinschaft durch die einheitliche europaeische akte im
forschungsbereich erhalten hat, was zu einem eg-
forschungs- und entwicklungsrahmenprogramm 1987 bis
1991 mit einem gesamtvolumen von 5,4 mrd. ecu, etwa
12 mrd. dm, gefuehrt hat.
dieses programm gibt zahlreichen jungen wissenschaftlern
beschaeftigungsmoeglichkeiten. allerdings sind die eg-
forschungsmassnahmen stark anwendungsbezogen.
gegenueber der grundlagenbezogenen hochschul-forschung ist
hier die industrieforschung bei der verteilung der mittel in
einem vorteil. es ist das anliegen der bundesregierung,
die hochschulforschung staerker an dem eg-rahmenprogramm
zu beteiligen.
daneben muss die freiwillige forschungskooperation in der
eg verstaerkt werden. europas vereinigte budgets fuer
forschung und entwicklung machen heute 65 mrd. ecu aus.
damit sind sie zusammen gerade so stark wie japans
fuebudget allein (65 mrd. ecu) und etwa halb so stark wie
das der usa (122 mrd. dollar).
nach einem neuen bericht des europaeischen parlaments
verfuegt japan heute ueber mehr wissenschaftliche
einrichtungen als die bundesrepublik deutschland, frankreich,
italien und grossbritannien zusammen. auch japans
wissenschaft ist heute in schluesselsektoren praesent oder
sogar dominant. angesichts dieser herausforderung muessen wir
unsere wissenschaftlichen anstrengungen weiter
verstaerken. ich habe deshalb jetzt ein zweites bund-laender-
sonderprogramm fuer die hochschulen gefordert, in dessen
rahmen 10000 junge wissenschaftler und
wissenschaftlerinnen taetig werden sollen.
soweit die merkposten. nun noch zu zwei unbegruendeten
merkposten:
in kreisen des deutschen handwerks wird gelegentlich die
sorge geaeussert, die entwicklungen in der eg koennten dazu
fuehren, dass die beruflichen standards sinken und dadurch
die leistungsfaehigkeit des handwerks und die
nachwuchssicherung fuer die gewerbliche wirtschaft schaden
nehmen koennten.
umgekehrt ist gelegentlich aus dem eg-ausland zu hoeren,
das festhalten der bundesrepublik deutschland an der
meisterpruefung stelle eine mobilitaetsbarriere fuer die
niederlassungsfreiheit auslaendischer handwerker dar. notwendig
sei deswegen eine eg-regelung ueber meisterpruefungen.
hierzu ist folgendes zu sagen: die niederlassungsfreiheit im
handwerk ist auf der grundlage einer eg-richtlinie vom
7. juli 1964 geregelt. danach ist fuer die taetigkeit eines
staatsangehoerigen aus dem eg-ausland die ablegung der
meisterpruefung nicht erforderlich. es reicht vielmehr aus,
dass der betreffende mindestens sechs jahre lang
ununterbrochen im herkunftsland als selbstaendiger oder
betriebsleiter in dem handwerk taetig war, das er in der
bundesrepublik ausueben will.
die eg-richtlinie ist durch die eg-handwerksverordnung
vom 4. august 1966 in deutsches recht umgesetzt worden.
sie gilt fuer fast alle der 126 handwerke. ausgenommen sind
sieben berufe: schornsteinfeger, orthopaedieschuhmacher,
augenoptiker, hoergeraeteakustiker, bandagist,
orthopaediemechaniker und zahntechniker.
die auslaendischen bewerber, die die voraussetzung
erfuellen, werden in die handwerksrolle eingetragen. in
den letzten jahren wurden jaehrlich zwischen 60 und 200
handwerker aus anderen eg-mitgliedstaaten in die handwerksrolle
eingetragen. eine ueber die handwerkerniederlassung-
richtlinie aus dem jahre 1964 hinausgehende
meisterpruefungs-eg-richtlinie ist daher aus der sicht der
bundesregierung nicht erforderlich.
das thema oeffentlicher dienst und freizuegigkeit in der
gemeinschaft hat in den letzten wochen und monaten
starke aufmerksamkeit auf sich gezogen. die oeffentliche
diskussion war nicht immer frei von emotionalen aussagen
bis hin zu der behauptung, hier werde das ueberkommene
berufsbeamtentum der bundesrepublik deutschland
gefaehrdet. ich moechte daher auf dieses thema zum schluss
noch etwas naeher eingehen.
der ewg-vertrag regelt in artikel 48 die freizuegigkeit der
arbeitnehmer in den mitgliedslaendern der gemeinschaft,
das heisst die volle bewegungs- und betaetigungsfreiheit
unabhaengig von der nationalitaet. diese regelung ist
unmittelbar geltendes recht. ein arbeitnehmer, der sich in
seinem freizuegigkeitsrecht beschraenkt sieht, kann sich
durch beschwerde bei der eg-kommission unmittelbar auf diese
gewaehrleistungen berufen. die kommission ist dann von
amts wegen verpflichtet, gegen diese verletzung
einzuschreiten, notfalls durch einleitung eines
vertragsverletzungsverfahrens nach artikel 149 ff. ewg-vertrag
vor dem europaeischen gerichtshof.
von der freizuegigkeit ausgenommen ist nach artikel 48
absatz 4 ewg-vertrag der oeffentliche dienst. die definition,
was oeffentlicher dienst ist, unterliegt jedoch je nach
mitgliedstaat erheblichen schwankungen, die von 3 prozent bis
annaehernd 15 prozent der jeweiligen gesamtbevoelkerung
reichen. gegenwaertig steht derselbe beschaeftigungsbereich
in dem einen mitgliedsland fuer freizuegigkeit offen, waehrend
er in einem anderen mitgliedsland geschlossen ist. hier
setzt die kommission der europaeischen gemeinschaften
an. sie moechte erreichen, dass sich die definition der
oeffentlichen verwaltung an gemeinschaftlichen vorgaben
orientiert und hinsichtlich des anteils der beschaeftigten
an der gesamtzahl der beschaeftigten eines landes zu einer
gewissen bandbreite verdichtet.
nach auffassung der kommission fallen insbesondere die
bereiche forschung, bildung, gesundheit, oeffentliche
versorgungseinrichtungen wie strom- und gaswerke und so
weiter nicht unter die definition "oeffentliche verwaltung" und
muessten folglich, so die kommission, fuer die freizuegigkeit
geoeffnet werden.
die bundesregierung wird in kuerze gegenueber der
kommission zu diesem vorschlag stellung nehmen und
voraussichtlich die haltung einnehmen, dass eine schematische
ausklammerung ganzer bereiche nicht sachgerecht ist,
auch nicht der rechtsprechung des europaeischen
gerichtshofes entspricht. nach ansicht der bundesregierung
muss vielmehr auf die jeweils ausgeuebte funktion des beamten
oder bediensteten abgehoben werden. ein polizeibeamter
uebt hoheitliche funktionen aus, der koch und das personal
in der kantine des polizeipraesidiums dagegen nicht.
ich darf im uebrigen in diesem zusammenhang daran
erinnern, dass in der bundesrepublik deutschland bereits wemte
bereiche des oeffentlichen dienstes die auslaenderbeschaeftigung
kennen. in opernhaeusern und symphonieorchestern
steht eine grosse zahl von auslaendischen kuenstlern unter
vertrag. in den schulen liegt der muttersprachliche
unterricht der kinder auslaendischer arbeitnehmer in der
verantwortung muttersprachlicher lehrer, die in der haelfte der
laender der bundesrepublik deutschland im dienst des
jeweiligen bundeslandes stehen. ich wuerde mir wuenschen,
dass schrittweise auch der fremdsprachenunterricht an
unseren schulen von muttersprachlichen lehrern
uebernommen wird. franzoesischunterricht durch franzosen.
warum nicht? in den begueterten familien des 19. jahrhunderts
war dies eine selbstverstaendlichkeit. warum nicht heute fuer
jedermann?
das deutsche berufsbeamtentum wird durch freizuegigkeit
im oeffentlichen dienst nicht in frage gestellt. ebenso sind
befuerchtungen unbegruendet, die qualitaet des oeffentlichen
dienstes koennte leiden. es geht im gegenteil darum, fuer ein
bestimmtes amt den qualifiziertesten zu finden, unabhaengig
von nationalitaet. letztlich wird damit das prinzip des
leistungswettbewerbs verstaerkt, das dem deutschen
oeffentlichen dienstrecht nicht fremd ist, ja ihm zugrunde
liegt. meine damen und herren, die bemuehungen in bund,
laendern, gemeinden und in der wirtschaft, aber auch in den
anderen eg-laendern, ihre bildungseinrichtungen und
bildungsangebote fuer die europaeische dimension zu oeffnen,
finden inzwischen nachhaltige unterstuetzung, auch
finanzielle unterstuetzung, durch die gemeinschaft.
der bildungshaushalt der eg ist inzwischen auf 120 mill.
ecu, etwa 240 mill. dm, angewachsen (stand 1989), die
umfangreichen mittel des europaeischen sozialfonds fuer
berufsbildungsmassnahmen zugunsten von
langzeitarbeitslosen und jugendlichen nicht mitgerechnet
(1,2 mrd. ecu, etwa 2,5 mrd. dm).
knapp zwei drittel der mittel, 88,2 mill. ecu, etwa 190 mill.
dm, werden fuer austauschprogramme verwendet, von
denen es gegenwaertig sechs gibt:
- comett. programm zur foerderung der
grenzueberschreitenden zusammenarbeit zwischen hochschule und
wirtschaft im bereich der technologien. 24 mill. ecu im
jahre 1989.

- erasmus. programm zur foerderung der mobilitaet von
hochschulstudenten. 52 mill. ecu im jahre 1989.
- programm zur foerderung des austausches junger
arbeitskraefte. 5 mill. ecu im jahre 1989.
- yes. jugendaustauschprogramm. 6 mill. ecu im jahre
1989.
- jugendaustauschprogramm mit den europaeischen
laendern des rgw. 100000 ecu im jahre 1989.
- austausch von lehrern an hoeheren schulen. 600000
ecu im jahre 1989.
ich appelliere an alle verantwortlichen im bildungsbereich,
diese bruesseler fleischtoepfe zur kenntnis zu nehmen
und nach moeglichkeit (durch gezielten antrag)
hineinzugreifen.
auslandsaufenthalte sind die gelegenheit, die laender der
gemeinschaft kennenzulernen, unter umstaenden erste
berufliche kontakte zu knuepfen, und vor allem bestehende
sprach- und mentalitaetsgrenzen zu ueberwinden, die
stabilsten und zugleich die einzigen grenzen, die es auch
im kuenftigen europa noch geben wird.
was bleiben wird, ist die menschliche huerde, die nur durch
einfuehlungsvermoegen und menschenkenntnis zu nehmen
ist, eigenschaften, die zur qualitaet unserer waren und
dienstleistungen und zum hohen stand unseres
fachwissens hinzukommen muessen, wenn wir in europa
erfolgreich sein wollen.