besuch des generalsekretaers der vereinten nationen - ansprache des bundespraesidenten in berlin

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bundespraesident roman herzog hielt bei einem empfang
zu ehren des generalsekretaers der vereinten nationen,
dr. boutros boutros-ghali, und frau leia-maria
boutrosghali im schloss bellevue in berlin am 20. januar
1995 folgende ansprache:

herr generalsekretaer, verehrte gnaedige frau,
meine damen und herren,

meine frau und ich, wir freuen uns, sie beide heute
in berlin begruessen zu koennen. es ist unser erstes
persoenliches zusammentreffen und ihr erster offizieller
besuch in berlin. berlin war ueber viele jahrzehnte
hinweg das symbol des ost-west-gegensatzes. heute
wird hier in besonderem masse der umbruch spuerbar,
den europa und die welt in den vergangenen jahren
erlebt haben.
sie sind beide alte freunde unseres landes und haben
sich schon haeufig bei uns aufgehalten. es war daher
vielleicht kein zufall, dass sie, herr generalsekretaer,
in ihrer damaligen eigenschaft als stellvertretender
ministerpraesident ihres landes im november 1991
in bonn waren, als sie vom sicherheitsrat der vereinten
nationen fuer ihr jetziges hohes amt nominiert wurden.
obwohl sie unser land schon so gut kennen, bringen
sie beide, und wir wissen das zu schaetzen, immer
wieder neues interesse mit. sie, frau boutros-ghali,
haben dieses mal ausdruecklich darum gebeten, das
neue haus der geschichte der bundesrepublik deutschland
in bonn zu besichtigen. wir freuen uns, dass bonn
mit dem umzug des freiwilligendienstes der vereinten
nationen nun zu einer sogenannten vn-stadt wird.
ihr amt, herr generalsekretaer, an das viele menschen
und voelker erwartungen und hoffnungen knuepfen, legt
ihnen grosse verantwortung auf. sie haben es verstanden,
dieser in einer herausragenden art und weise gerecht
zu werden. aber sie wissen so gut wie ich: auch
an der spitze einer organisation oder eines staates
ist man nur der erste diener. die eigenen wuensche
und vorstellungen koennen und duerfen die kraefte und
faehigkeiten des gemeinwesens nicht ueberschreiten.
das gilt in besonderem masse fuer die vereinten nationen.
sie ist nur das, was ihre mitgliedstaaten ihr erlauben
zu sein.

viele von uns haben in den vergangenen jahren gehofft,
dass dauerhafte friedenssicherung in greifbare naehe
gerueckt sei. nicht nur das ende des kalten krieges,
auch der durchbruch beim friedensprozess im nahen
osten und der revolutionaere wandel in suedafrika
schienen dies zu belegen. heute wissen wir, dass
wir von der bewaeltigung der aufgabe noch weit entfernt
sind. der blutige und tragische konflikt im ehemaligen
jugoslawien fuehrt gerade uns in europa dies taeglich
drastisch vor augen, ebenso das blutvergiessen in
tschetschenien.
trotz grosser anstrengungen, besonders bei der friedenssicherung,
sehen sich die vereinten nationen heute der kritik
ausgesetzt. an der schwelle ihres 50. jahrestages
droht die gerade erst neu aufkeimende hoffnung der
menschen in die vereinten nationen als garant von
friedlicher entwicklung, menschenrechten und stabilitaet
wieder verloren zu gehen.

das darf nicht geschehen. wir brauchen die vereinten
nationen, wir deutsche in besonderem masse. in der
mitte europas und gepraegt von der erfahrung zweier
weltkriege sind wir vor anderen gefordert, uebersteigertes
nationales denken zu ueberwinden und zu gemeinsamen
partnerschaftlichen handeln der staaten zu kommen.
in einem glaubwuerdigen system kollektiver sicherheit
unter dem dach der vereinten nationen liegt der
schluessel fuer frieden und stabilitaet auch in europa.
wie sie selbst in der "agenda fuer frieden" sagten,
kommt es darauf an, dass der neue gemeinschaftsgeist
in den vereinten nationen auch zu dem erforderlichen
politischen willen fuehrt, schwierige aber erforderliche
entscheidungen zu treffen. ich meine, die vereinten
nationen brauchen deshalb groessere klarheit, wann
und unter welchen umstaenden sie eine friedensoperation
durchfuehren. sie selbst haben darauf hingewiesen.
der verhuetung von konflikten muss groessere aufmerksamkeit
geschenkt werden. ebenso wichtig ist aber der aufbau
friedensschaffender strukturen nach den jeweiligen
konflikten, damit kein rueckfall erfolgt. notwendig
scheint mir auch eine groessere arbeitsteilung zwischen
den vereinten nationen und den regionalen organisationen,
wie etwa der osze. eine last, die auf mehreren schultern
ruht, laesst sich besser tragen. eine intensive diskussion
ueber diese fragen ist in den vereinten nationen
in gang gekommen, sie, herr generalsekretaer, tragen
dazu wesentliche impulse bei.
jetzt haengt es vom entschlossenen willen ihrer mitglieder
ab, den vereinten nationen die noetige und unverzichtbare
unterstuetzung zu geben. ich bin froh, dass die klaerung
der verfassungspolitischen lage in deutschland die
noetigen voraussetzungen geschaffen hat, damit auch
mein land hierzu im angemessenen umfang beitragen
kann. unter den politischen kraeften deutschlands
besteht weitgehender konsens darin, dass die vereinten
nationen auch bei friedensoperationen auf unsere
mitwirkung zaehlen koennen.
deutschland wird sich seiner verantwortung auch
im rahmen seiner mitgliedschaft im sicherheitsrat
stellen und dabei an die erfahrungen der jahre 1977/78
und 1987/88 anknuepfen. wie sie wissen, sind wir
auch bereit, im rahmen einer staendigen mitgliedschaft
der durch die vereinigung gewachsenen internationalen
verantwortung gerecht zu werden.
herr generalsekretaer, sie haben juengst, wie ich finde
sehr zu recht, darauf hingewiesen, dass friedenssicherung
nur eine der herausforderungen fuer die vereinten
nationen ist. der schutz der menschenrechte und
der umwelt, die eroeffnung von entwicklungschancen
fuer alle menschen sind ebenso wichtig. sie sind
im uebrigen die beste praevention von konflikten.
deswegen duerfen wir in unseren anstrengungen insbesondere
fuer die verwirklichung von entwicklungschancen fuer
alle menschen nicht nachlassen. vorrangig sind:
- die foerderung nachhaltiger wirtschaftlicher, sozialer
und umweltvertraeglicher entwicklung der laender des
suedens,
- die entschlossene bekaempfung der armut,
- die aktive und nachdrueckliche foerderung ihrer
eingliederung in die weltwirtschaft, denn protektionismus
schadet allen.
leider gibt es anzeichen, die auf ein nachlassen
des entwicklungsengagements der industrielaender
hindeuten. dem muessen wir entschlossen entgegenwirken.
sie haben in ihrer "agenda fuer entwicklung" sehr
deutlich aufgezeigt, wie notwendig fortschritte
sind, und der diskussion darueber, wie es weitergehen
soll, wichtige impulse gegeben. wie schon die von
ihnen vorgelegte "agenda fuer den frieden" muss auch
die "agenda fuer entwicklung" zum kompass fuer die
weiterentwicklung fuer die vereinten nationen in
den kommenden jahren werden.
in wenigen monaten werden die vereinten nationen
feierlich ihren 50. jahrestag begehen. sie koennen
dann auf eine beeindruckende bilanz zurueckblicken:
aus 51 mitgliedern im jahre 1945 sind heute 185
geworden. die vereinten nationen haben sich wahrhaft
zu einer globalen organisation entwickelt.
fuer zahllose menschen ueberall auf der welt sind
die vereinten nationen heute ein garant des zugangs
zu nahrung, ausbildung und gesundheitlicher versorgung.
sie sind heute ein synonym fuer internationale solidaritaet,
ein beweis dafuer, dass gemeinschaftliches handeln
der voelker moeglich ist. sie selbst, herr generalsekretaer,
haben dazu wesentliches beigetragen. im namen meiner
landsleute darf ich ihnen dafuer unseren dank aussprechen.
von unserem entschlossenen handeln wird abhaengen,
ob die vereinten nationen auf diesem weg erfolgreich
voranschreiten, ob sie frieden, menschenwuerde und
entwicklung fuer alle menschen verwirklichen. in
der zuversichtlichen hoffnung, dass dies gelingen
moege, lassen sie uns gemeinsam das glas erheben:
auf ihr persoenliches wohl, herr generalsekretaer,
und auf das wohl von frau boutros-ghali sowie auf
eine erfolgreiche zukunft der vereinten nationen.