Besuch des Bundespräsidenten in Rumänien vom 15. bis 17. Mai 1995 - Vortrag an der Rumänischen Akademie

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Bulletin

  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

Bundespräsident Roman Herzog und Frau Christiane Herzog
statteten Rumänien in der Zeit vom 15. bis 17. Mai 1995 einen
Besuch ab.

Vortrag an der Rumänischen Akademie

Bundespräsident Roman Herzog hielt anläßlich seiner
Aufnahme als Ehrenmitglied in die Rumänische Akademie der
Wissenschaften am 16. Mai 1995 in Bukarest folgenden
Vortrag:

Sehr geehrter Herr Präsident,
verehrte Kollegen,
meine Damen und Herren,

es ist mir eine hohe Ehre, und es erfüllt mich mit Freude,
daß die Generalversammlung der Rumänischen
Akademie beschlossen hat, mich als Ehrenmitglied in diese
Institution aufzunehmen. Haben Sie herzlichen Dank! Diese
Entscheidung, die Sie getroffen haben, begreife ich nicht nur
als persönliche Ehrung, sondern zugleich als Bestätigung und
symbolische Unterstützung des seit 1989 in Gang gekommenen
Austausches von Wissenschaftlern zwischen unseren beiden
Ländern. Hier sind erfreuliche Fortschritte zu verzeichnen. Die
Zahlen haben sich seit der Revolution in Ihrem Lande
vervielfacht: Allein der Deutsche Akademische Austauschdienst
konnte seit dieser Zeit über 500 rumänische Studenten und
Wissenschaftler als Stipendiaten zu Forschungsaufenthalten in
Deutschland begrüßen. Durch viel persönliche Initiative auf
beiden Seiten, so habe ich mir berichten lassen, wurden aus
den ersten Begegnungen nach Jahren der Isolation schon bald
gemeinsame wissenschaftliche Projekte. Zahlreiche
Forschungsprogramme zwischen deutschen und rumänischen
Hochschulen sind hier zu erwähnen, darunter auch
deutschsprachige Studiengänge verschiedener Fachrichtungen
in Rumänien. Welche Bedeutung wir in Deutschland dieser
Zusammenarbeit beimessen, mögen Sie unter anderem daran
erkennen, daß zu der Delegation, die mich in Ihre Akademie
begleitet, der Präsident des Deutschen Akademischen
Austauschdienstes, Professor Berchem, und der Präsident der
Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Frühwald,
gehören. Ich will aber jetzt nicht über Wissenschaftsaustausch
reden, obwohl auch das ein lohnendes Thema wäre. Ich möchte
Ihnen vielmehr über die Erfahrungen berichten, die wir in
Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten mit unserer
Verfassung gemacht haben. Ich tue das zwangsläufig mit einer
doppelten Perspektive: mit der des Politikers, der auf der
Grundlage dieser Verfassung sein Land mitgestaltet. Und mit
der des Juristen, der sich über Jahrzehnte wissenschaftlich
und in richterlichen Ämtern mit diesem Grundgesetz befaßt
hat. 1949 stand Deutschland vor einem Neubeginn. Nach den
zwölf Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, in
denen alle Prinzipien von Recht und Demokratie pervertiert
wurden, und nach der Katastrophe des von Deutschland
entfesselten Krieges mit seinen Zerstörungen, mit den
geschundenen Menschen, mit dem Ergebnis eines geteilten
Landes mußte dieser Neuanfang den Bruch mit der
Vergangenheit bedeuten. Damals schufen unter tatkräftiger
Geburtshilfe der westlichen Alliierten die Länder und der
Parlamentarische Rat in den westlichen Zonen die
Bundesrepublik Deutschland. Das Ergebnis der Beratungen
des Parlamentarischen Rates war das Grundgesetz. Es
spiegelte die Erfahrungen der Diktatur wider, und es
formulierte zugleich die Hoffnungen für eine demokratische
Zukunft Deutschlands. Gedacht als Provisorium bis zur
Wiederherstellung der deutschen Einheit, erwies es sich
dennoch als besonders dauerhaft. Es war so solide formuliert,
daß wir uns später schwer taten mit Verbesserungen. Das
Grundgesetz hat nicht weniger vermocht, als im Westen
Deutschlands stabile politische Verhältnisse zu schaffen sowie
Freiheit und wirtschaftliche Prosperität für die Bürger zu
ermöglichen. Dieser anfangs gar nicht vorhersehbare Erfolg
des Grundgesetzes beruht vor allem auf vier Grundprinzipien,
die im Kern unantastbar sind: auf dem demokratischen, dem
rechtsstaatlichen, dem sozialstaatlichen und dem
bundesstaatlichen, d. h. föderalistischen Prinzip. In der
konkreten Ausgestaltung durch das Grundgesetz trägt jedes
der vier Prinzipien für sich dazu bei, den Schutz der
Menschenwürde des einzelnen zu gewährleisten und damit
dem obersten Ziel unserer Verfassung zu dienen. Das
Grundgesetz garantiert die Offenheit des politischen
Willensbildungsprozesses - sei es durch Wahlen der
Bevölkerung, sei es durch Abstimmungen in den Parlamenten
-, und es garantiert die freie Betätigung der Parteien. Im Ringen
um die beste Lösung muß es möglich sein, gegensätzliche
Standpunkte zu haben und ohne Behinderung zu vertreten.
Gerade das macht Demokratie aus und macht sie lebendig. Und
es erhöht auch die Chance, zu richtigen Lösungen zu kommen.
Der Widerstreit der Meinungen, auch der Streit der Parteien,
ist ein unverzichtbares Element der Demokratie, die ja nichts
anderes ist als ein Wettbewerb der Ideen zur Lösung der
Probleme des Gemeinwesens. In diesem Sinne ist auch bei uns
in Deutschland um elementare Fragen gestritten worden: Der
Westintegration der Bundesrepublik, der Schaffung einer
Armee oder der Ostpolitik in den siebziger Jahren, um nur
einige Themen zu nennen, gingen heftige Diskussionen in der
Bevölkerung und turbulente Debatten im Parlament voraus. Die
Entscheidungen in diesen Fragen sind, wie ich meine, zum
Wohle unseres Landes ausgefallen und haben zumindest
rückblickend breiten Konsens gefunden. Meinungsstreit ist
also keineswegs ein Sprengsatz für die Demokratie, sondern er
kann, wenn er sich in wechselseitigem Respekt und unter
Beachtung demokratischer Spielregeln vollzieht, integrativ
wirken, und ebenso hilft er, die besten Lösungen, zumindest
bessere Lösungen als ohne Meinungsstreit, zu finden. Die
deutsche Demokratie ist nach dem Grundgesetz in gutem
Sinne streitbar, und auch wehrhaft und abwehrbereit: im
Extremfall können politische Parteien, die die freiheitliche
demokratische Grundordnung bekämpfen, sogar für
verfassungswidrig erklärt und aufgelöst werden, Vereinigungen
mit derartigen Zielen können verboten werden. Auch diese
Regelungen sind als Antwort auf die Erfahrungen der
Nazidiktatur zu verstehen. Dem verfassungsrechtlichen
Postulat des Rechtsstaats kommt heute weitgehend die
Funktion zu, einen Staat materieller Gerechtigkeit zu
verwirklichen. Die Garantie der Grundrechte, die
Gewaltenteilung, die Rechtsbindung aller Staatsorgane,
Rechtssicherheit und ein umfassender und effektiver
gerichtlicher Schutz gegen Rechtsverletzungen durch die
öffentliche Gewalt sind seine wesentlichen Bestandteile. Seinen
sinnfälligsten Ausdruck hat dieses System in der Kontrolle aller
staatlichen Gewalt durch das Bundesverfassungsgericht
gefunden, dessen Präsident ich sechs Jahre lang war. Der
Parlamentarische Rat stattete es mit einer Kompetenzfülle aus,
die einzigartig ist. In meiner früheren Funktion war ich also -
wenn Sie so wollen - mächtiger als in meiner heutigen als
Staatsoberhaupt. Das Gericht kann über Streitigkeiten
zwischen dem Bund und den Ländern, über Streitigkeiten
zwischen Staatsorganen, über die Verfassungsmäßigkeit von
Gesetzen, über Grundrechtsbeschwerden jedes einzelnen
Bürgers, über das Verbot politischer Parteien und die
Verwirkung der Grundrechte entscheiden. Es ist ein oberster
Wächter über die Verfassung und damit ein Garant der
rechtsstaatlichen Demokratie. Die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts hat vor allem die Wirksamkeit der
Grundrechte entscheidend gestärkt: Der Eingriff des Staates in
ein Grundrecht seiner Bürger ist nach der Rechtsprechung des
Gerichts nicht erst dann unzulässig, wenn dessen
Wesensgehalt verletzt ist, sondern bereits dann, wenn ein
Eingriff intensiver, schwerer ist als nötig und als zumutbar.
Das Gericht hat aber auch die Bedeutung der Grundrechte als
objektiv-rechtliche Normen oder als Gestaltungsprinzipien
besonders betont. Auch insoweit sind sie allgemein verbindlich
für den Gesetzgeber, die Verwaltung und die Gerichte. In
dieser Funktion können sie nicht nur Abwehransprüche gegen
Eingriffe des Staates auslösen, wie das früher einmal gemeint
worden ist, sondern unter Umständen den Staat auch zum
Handeln verpflichten. Die Grundrechte bewirken deshalb
letztlich einen umfassenden Freiheitsschutz, den der Staat
durch gesetzliche Regelungen und durch tatsächliche
Leistungen zu erfüllen hat. Unser umfassendes
Rechtsschutzsystem fordert allerdings auch Kritik heraus. Es
verzögert Entscheidungsprozesse und macht Planungen
schwerer kalkulierbar. Böse Stimmen meinen bereits, der
Rechtsstaat entarte zum Rechtswegestaat. Es ist nicht zu
verkennen, daß Auswüchse und Mißbrauch das Gewollte ins
Gegenteil verkehren können. Ein Rechtsstaat, der in einer
Gesetzesflut versinkt, verliert seinen ursprünglichen Bezug zur
Gerechtigkeit. Ein Sozialstaat, der sich jenseits aller
Finanzierbarkeit aufbläht, setzt seine eigentliche
Schutzfunktion aufs Spiel. Und Grundrechte, die der Bürger
nur noch in seinem privaten Interesse und nicht auch im Blick
auf seinen Nächsten und auf die Gemeinschaft ausübt, solche
Grundrechte verkehren sich schnell in ihr Gegenteil. Das zu
verhindern, die Akzeptanz für unseren Staat vielmehr zu
fördern, das muß Ziel der Politik sein. Ich bin fest davon
überzeugt, daß uns hierbei in Deutschland auch der Umstand
hilft, daß Deutschland ein Bundesstaat ist. Wir Deutschen sind
in der Wolle gefärbte Föderalisten - ich als Bayer allemal. Es
gab bei uns immer eine Vielzahl von Stämmen. Sie - und kein
Zentralstaat - haben die deutsche Geschichte geprägt. Der
Deutsche ist immer zuerst Bayer oder Thüringer, Badener oder
Sachse. Aus dieser Vielfalt schöpfen wir unsere Kraft. So
sehen es auch die Bürger. Sie identifizieren sich mit ihrer
Region, mit ihrem Bundesland - auch wenn sich alle zugleich
als Deutsche fühlen und wenn sie vor allem und mehr als
Europäer empfinden. Föderalismus ist insoweit
konsensfördernd und trägt zum inneren Frieden unserer
Gesellschaft bei. Wenn Entscheidungen vor Ort getroffen
werden, gewinnen sie an Akzeptanz. Der einzelne steht dem
Geschehen näher und ist eher bereit, auch unangenehme
Folgen zu tragen, wenn er die Notwendigkeit einsieht. Wir
haben in Deutschland die Erfahrung gemacht, daß es auch dem
Bundesstaat zugute kommt, wenn Länder und Gemeinden
ausreichende Entscheidungsspielräume haben. Um so eher
werden sie zum Wohle des Ganzen die Entscheidungen des
Gesamtstaates mittragen, wenn sie aus eigener Einsicht in
neue Erfordernisse Befugnisse an diesen abgegeben haben.
Schließlich ist die Verteilung von Entscheidungen auf Bund,
Länder und Kommunen eine Sperre gegen Machtkonzentration
und Machtmißbrauch. Und dies allein schon würde die
Bundesstaatlichkeit rechtfertigen. So denken jedenfalls wir in
Deutschland. Der Parlamentarische Rat hat im Jahre 1949
gewiß nicht angenommen, daß sein Grundgesetz noch an der
Schwelle zum nächsten Jahrtausend Bestand haben könnte.
Einer meiner Amtsvorgänger, der erste Präsident der
Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, hat die
Bundesrepublik Deutschland seinerzeit als "Transitorium"
bezeichnet, weil ein Teil Deutschlands von ihm ausgeschlossen
war.
Am 3. Oktober 1990 haben wir nun die staatliche Einheit
Deutschlands vollendet. Das Grundgesetz wurde
gesamtdeutsche Verfassung. Die erfolgreiche demokratische
Revolution in der ehemaligen DDR hatte ihre Ziele erreicht:
Menschenwürde, freiheitliche Grundrechte, Demokratie,
Rechts- und Sozialstaatlichkeit gelten nunmehr für das
gesamte deutsche Volk. Dieser nüchterne staatsrechtliche
Befund verschleiert ein wenig, daß die Wiedervereinigung für
die Menschen in den östlichen Bundesländern auch einen
tiefgreifenden Umbruch des ihnen bis dahin bekannten
Rechtssystems beschert hat. Denn mit dem Inkrafttreten des
Einigungsvertrages, den die Regierungen der beiden Teile
Deutschlands ausgehandelt hatten, wurde nahezu das gesamte
Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland auch in der
ehemaligen DDR wirksam. Der Umgang damit war den meisten
neuen Bundesbürgern unbekannt, und vielen von ihnen ist er
es heute noch. Die Überwindung der Folgen jahrzehntelanger
staatlicher Trennung und totalitärer Machtausübung ist nun
einmal ein langwieriger Prozeß, der uns ständige Aufgabe sein
muß. Ich weiß, daß man an unserem Grundgesetz noch
manches verbessern könnte. Und - nebenbei - wir verändern
es auch gelegentlich. Denn die Verfassung muß lebendiges
Recht sein. Wenn die beiden gesetzgebenden Körperschaften -
Bundes- tag und Bundesrat - es jeweils mit Zweidrittelmehrheit
beschließen, sind Modifikationen möglich. Aber die
Grundprinzipien der Verfassung sind nicht nur unangetastet
geblieben, sie haben sich auch im Bewußtsein unserer
Bevölkerung zum Fundament und zum Schirm unserer
Demokratie entwickelt. Diese Demokratie mag ja durchaus eine
fehlerhafte Staatsform sein - aber die beste Staatsform, die es
unter Menschen je gegeben hat, ist sie eben doch. Unser
Grundgesetz hat sich bewährt. Es ist die freiheitlichste
Verfassung, die die Deutschen in ihrer Geschichte je hatten.
Für viele andere demokratische und rechtsstaatliche
Verfassungen in der Welt ist es zum Vorbild geworden. Und ich
bin froh, daß sich die Deutschen mit ihrer Verfassung
identifizieren. Denn eine Verfassung kann nicht allein dadurch
bestehen, daß sie im Gesetzbuch steht; sie muß in den Herzen
und Hirnen der Menschen sein. Manche sprechen gar von
Verfassungspatriotismus. Diese Bezeichnung ist, wie ich
meine, nicht ganz vollständig. Aber Verfassungspatriotismus
ist jedenfalls ehrenvoll und allemal besser als fehlgeleiteter
Nationalismus, unter dem wir in diesem Jahrhundert so viel
gelitten haben.