Besuch des Bundespräsidenten in der Republik Albanien am 28. Februar und 1. März 1995 - Rede vor dem albanischen Parlament

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Der Bundespräsident und Frau Christiane Herzog statteten der
Republik Albanien am 28. Februar und 1. März 1995 einen
Besuch ab.

Rede vor dem albanischen Parlament

Bundespräsident Roman Herzog hielt vor dem albanischen
Parlament am 28. Februar 1995 in Tirana folgende Rede:

Herr Präsident,
verehrte Abgeordnete des albanischen Parlaments,

es ist für mich eine große Ehre und es bewegt
mich tief, daß ich heute vor Ihnen sprechen darf. Ich danke
Ihnen, Herr Präsident, für die so freundschaftlichen Worte, die
Sie in Ihrer Begrüßung für mich gefunden haben. Es verdient
vermerkt zu werden, daß ich schon der dritte Vertreter des
deutschen Staates bin, dem seit Ihrer Wahl am 22. März 1992
die Ehre einer Rede in diesem Hohen Hause zuteil wird. Nach
den langen Jahren des Schweigens zwischen unseren beiden
Ländern ist das ein Zeichen dafür, daß die Öffnung zur
Demokratie auch die offene Bekundung von Sympathie
zwischen unseren Ländern und die von vielen angestrebte
Intensivierung unserer Beziehungen erlaubt. In den Jahren der
Diktatur, die sich zwischen unsere Völker stellte, die Mißtrauen
säte und überall feindliche Verschwörungen witterte, wäre das
undenkbar gewesen. Mit Ihrer Wahl, mit diesem
demokratischen Parlament hat das albanische Volk
Überwachung und Kontrolle abgeschüttelt. Sie haben dem
Pluralismus und dem freien Wettbewerb politischer Ideen und
Konzepte Raum gegeben und Sie haben sich Europa und der
Welt geöffnet. Die Deutschen begrüßen mit Freude die
eingeleitete Integration Albaniens in Europa. Sie können in
Europa den Platz eines souveränen Staates einnehmen, der
Ihnen rechtens zusteht und den Sie in Ihrer Geschichte viel zu
selten einnehmen konnten. Bei der durch die erzwungene
Isolation Ihres Landes so lange verzögerten Gestaltung der
Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern haben die
beiden Parlamente eine Vorreiterrolle gespielt. Die
gegenseitigen Besuche von Parlamentariern haben Vertrauen
und persönliche Beziehungen etabliert. Die Gespräche über
Aufgaben und Prozeduren eines Parlaments, auch die
technische und administrative Unterstützung, haben zu
besserem Verständnis der Situation des jeweiligen Partners
geführt. Sie haben sich unter deutschen Parlamentariern eine
Lobby für Albanien geschaffen. Albanien hat sich
mit dem Sturz der Diktatur und mit der freien und
demokratischen Wahl dieses Parlaments eindeutig zu einem
Europa bekannt, das sich gemeinsamen Werten verpflichtet
fühlt. Somit verbinden uns heute das gemeinsame Bekenntnis
zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie
die Grundsätze der Humanität, der Demokratie und der
Rechtsstaatlichkeit. Dieses Parlament kontrolliert gemeinsam
mit der rechtsprechenden Gewalt die in den Händen der
Exekutive konzentrierte Macht. Es ist damit Hüter der Werte,
die uns verbinden. Die Vordenker des modernen,
demokratischen Verfassungsstaats hatten die überragende
Rolle, die freie und unabhängige Medien beim Schutz der
Rechte des Individuums vor einer mächtigen Exekutive ebenso
wie vor einer Diktatur, auch einer Diktatur der jeweiligen
Mehrheit, spielen, noch nicht voraussehen können. Den Schutz
der Freiheit, dieses unverzichtbaren Elements eines
freiheitlichen Staates, möchte ich Ihnen, möchte ich diesem
Parlament ans Herz legen. Als ehemaliger Verfassungsrichter
möchte ich allerdings gleichzeitig die hohe Bedeutung der
Verfassungsgerichtsbarkeit hervorheben. Sie soll Streit
zwischen den Verfassungsorganen ausräumen und für die
Einhaltung der allgemeinen Grundregeln im Staate sorgen. Aus
eigener Erfahrung weiß ich, wie sehr die Institution eines
starken und unabhängigen Verfassungsgerichts auch in
Deutschland zum System eines funktionierenden
demokratischen Zusammenspiels beigetragen hat. Herr
Präsident, wenn sich in Deutschland das Interesse für
Albanien durch den von Ihnen begonnenen
Umgestaltungsprozeß vertieft und erweitert hat, so hat unser
Interesse füreinander doch eine lange Tradition. Der Ursprung
und die Sprache Ihres alten Volkes hat schon unseren großen
Gelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz in seinen Albanerbriefen
zwischen 1705 und 1709 beschäftigt. Andere nach ihm, wie
Johann Thunmann im Jahr 1774 oder von Hahn und Franz
Bopp im Jahr 1853, haben sich immer wieder mit der Identität
und der illyrischen Abkunft der Albaner auseinandergesetzt
und Untersuchungen zu ihrer Sprache angestellt. Diese
Forschungen werden bis auf den heutigen Tag weitergeführt.
Nun hat sich das Interesse im Laufe der Jahrhunderte von der
Sprachwissenschaft natürlich auf alle anderen Lebensbereiche
erweitert, nicht zuletzt, weil Europa immer enger
zusammengewachsen ist. Heute beeinflussen negative und
positive Entwicklungen auf dem Balkan sehr direkt unser
eigenes Leben in Deutschland und umgekehrt. Neben anderen
ist dies einer der Gründe dafür, warum wir uns für
Albanien auch materiell nachdrücklich engagieren.
Unsere Hilfen für die Entwicklung Albaniens gehören pro Kopf
der Bevölkerung zu den höchsten in der Welt. Hinzu kommt
der Anteil Deutschlands an den Hilfen der Europäischen Union.
Wasserversorgungsprojekte gehören ebenso zu den
deutschen Hilfen wie Austauschprogramme, Beratung zur
Neugestaltung von Institutionen und Gesetzen, Seminare und
Deutschkurse. Ausdruck unserer traditionellen Sympathie und
des Wunsches, die Beziehungen zwischen unseren Ländern
enger zu gestalten, ist die Gemeinsame Erklärung, die soeben
in der Präsidentschaft unterzeichnet wurde. Sie braucht gute
Beziehungen nicht erst zu begründen, aber sie ist Ausdruck
dessen, was bereits existiert und wir auf beiden Seiten für jetzt
und für die Zukunft uns wünschen. Albanien grenzt an
die wichtigste Krisenregion Europas. Wir möchten
Albanien ermutigen, jeden möglichen Beitrag zu leisten,
damit der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien sich nicht weiter
ausdehnt. Das Konzept, Grenzen zu verändern, um ethnisch
homogene Staaten zu schaffen, paßt nicht mehr in die Zeit,
nahe an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Der Krieg im
ehemaligen Jugoslawien zeigt uns die tragischen
Konsequenzen derartiger Politik. Zu den zentralen Konzepten
unserer Zeit für ein friedliches Zusammenleben von Völkern
und Staaten gehören die Unverletzbarkeit, aber auch
Durchlässigkeit von Grenzen. In der Europäischen Union
stellen Grenzen heute praktisch kein Hindernis für die Bürger
mehr dar. Die Höhe der auf den beiden Seiten von Grenzen
erhobenen Steuern ist für manchen inzwischen ein wichtigeres
Argument bei seiner Entscheidung über seinen Wohnort als die
Fahne oder gar die Amtssprache seiner Gemeindeverwaltung.
Dies sollte eines hoffentlich nahen Tages auch in dieser Region
gelten. Die Achtung der Grenzen muß ihre Entsprechung aber
in der unbedingten Achtung von Menschen- und
Minderheitsrechten finden. Hierzu gehört die Akzeptanz, wenn
nicht gar Unterstützung der Kultur von Minderheiten, deren
gleichberechtigter Zugang zu den Medien wie eine
angemessene Berücksichtigung ihrer besonderen Interessen
im Erziehungssystem. Nur so lassen sich Probleme vermeiden
oder zumindest friedlich lösen. Wir wissen, daß die Hälfte des
albanischen Volkes in anderen Staaten lebt, und teilen ihre
Sorgen über die anhaltende Unterdrückung der Albaner im
Kosovo. Sie ist durch nichts zu rechtfertigen. Eine Regelung
der Kosovo-Frage bleibt Teil einer umfassenden Lösung für
das ehemalige Jugoslawien, ohne die die Reintegration von
Serbien und Montenegro in die Staatengemeinschaft nicht
stattfinden wird. Wir wünschten uns eine Lösung unter
Beachtung des Grundsatzes der Unverletzlichkeit der Grenzen,
die eine Wiederherstellung der Autonomie des Kosovo umfaßt.
Hier kann Albanien durch mäßigendes Einwirken auf die
Führung des Kosovo eine konstruktive Rolle spielen. Dies gilt
entsprechend für die Unterstützung der Bemühungen der
Internationalen Jugoslawienkonferenz, einen Ausgleich
zwischen Slavomazedoniern und albanischer Minderheit in
Mazedonien zu fördern. Herr Präsident, meine Damen und
Herren Abgeordneten, wir alle tragen Last und Verantwortung
einer langen Vergangenheit, die Errungenschaften und Erfolge
umfaßt, die oft aber furchtbar und mit schweren Fehlern
belastet war, sowohl in unseren Völkern als auch in den
Beziehungen zwischen ihnen. Niemand kann die Geschichte
leugnen, niemand kann sie verdrängen oder umschreiben, sie
ist das Fundament, auf dem wir stehen, sie ist das Erbe, mit
dem wir uns auseinandersetzen müssen. Aber wir sind Teil der
Geschichte, wir tragen Verantwortung für die Zukunft. Eine
Zukunft, die wir selbst mitgestalten können, ja müssen, und an
der unsere Generation einst von unseren Enkeln gemessen
wird. Lassen Sie uns an der Gestaltung einer friedlichen,
freiheitlichen und menschenwürdigen Zukunft arbeiten -
gemeinsam arbeiten. Lassen Sie uns die Freundschaft
zwischen Deutschland und Albanien weiter festigen.
Lassen Sie uns gemeinsam an Europa weiterbauen.
Albanien kann wichtige Steine beim Bau dieses Europa
setzen. Als Durchgangsland zwischen West und Ost und
zwischen Nord und Süd haben Sie ein Interesse an Ausgleich
und Entspannung mit Ihren Nachbarn. Deutschland hat selbst
die Erfahrung gemacht, daß die Überwindung jahrhundertealter
Zwistigkeiten zwischen Nachbarstaaten möglich ist. Das
deutsch-französische Verhältnis zeigt, wieviel Früchte
intensives Bemühen um Ausgleich tragen kann. Wir hoffen, daß
es Albanien gelingen wird, diesen Ausgleich mit seinen
Nachbarn zu schaffen, auch wenn hierbei über Schatten
gesprungen werden muß und Kompromißbereitschaft
unabdingbar ist.
Neben Geschichte und Sympathie verbindet Deutschland mit
Albanien dessen fortschreitende Verankerung in die
europäischen und transatlantischen Strukturen. Deutschland
hat sich für diese Verankerung mit Nachdruck eingesetzt und
wird dies auch weiterhin tun. Gemeinsam sind wir der
Auffassung, daß die Europäische Union die entscheidende
Rolle für die weitere Entwicklung Albaniens und seine
wirtschaftliche und politische Annäherung an Europa spielt.
Deutschland wird den weiteren Ausbau der Beziehungen Ihres
Landes zur Europäischen Union im Rahmen seiner
Möglichkeiten nach Kräften fördern. Das am 11. Mai 1992 in
Brüssel unterzeichnete und am 6. Oktober 1992 von diesem
Parlament ratifizierte Handels- und Kooperationsabkommen
bietet hierfür eine solide und breite Basis. Die Europäische
Union wird auf dieser Grundlage die gegenseitigen
Beziehungen weiter ausbauen und mit ihren Hilfsprogrammen
Albanien auf seinem Weg in eine demokratische,
rechtsstaatliche, marktwirtschaftliche und politisch stabile
Zukunft unterstützen. Die Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa ist mit 53 Teilnehmerstaaten die
umfassendste europäische beziehungsweise transatlantische
Sicherheitsinstitution. Albanien wurde unter deutschem
Vorsitz in diese Organisation aufgenommen. Ausschlaggebend
für diese 1991 getroffene Entscheidung waren die positiven
Eindrücke, die der damalige deutsche Außenminister Genscher
bei seinem ersten Besuch in Ihrem Land sammeln konnte.
Durch ihre Aktivitäten hat die OSZE wichtige Zeichen gesetzt.
Will sie auch in Zukunft ihren Anforderungen gerecht werden,
muß sie weiter gestärkt werden. Ihr Erfolg hängt aber auch
entscheidend davon ab, daß alle Teilnehmerstaaten gewillt
bleiben, die übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen und die
OSZE in ihren Aktivitäten engagiert zu unterstützen.
Albanien gibt hierfür ein positives Beispiel durch die
Stationierung einer OSZE-Mission, die bei der Überwachung
der gegen Serbien/Montenegro verhängten Sanktionen hilft.
Eine besonders wichtige Rolle gerade im Bereich der
präventiven Diplomatie der OSZE kommt dem Hohen
Kommissar für Nationale Minderheiten zu. Der erste
Amtsinhaber, der ehemalige niederländische Außenminister
Max van der Stoel, erfüllt diese Aufgabe mit großem
Engagement. Wir haben mit Befriedigung zur Kenntnis
genommen, daß er sich über die Verhältnisse in Ihrem Land
grundsätzlich positiv geäußert hat. Wir bauen darauf, daß
Albanien auch weiter mit ihm zusammenarbeiten und
seine Empfehlungen zur Verbesserung des Zusammenlebens
von Mehrheit und Minderheit wohlwollend aufnehmen wird.
Dies wird den Ausgleich mit Ihrem südlichen Nachbarn
erleichtern. Wir Europäer sind hieran brennend interessiert!
Die Zusammenarbeit mit den Ländern der mittel- und
osteuropäischen sowie der südosteuropäischen Region ist in
den letzten Jahren zu einer wesentlichen Aufgabe der
Atlantischen Allianz geworden. Kein Staat steht heute
unbetroffen abseits, wenn in Europa Sicherheit und Stabilität
eines anderen Staates gefährdet sind. Sicherheit läßt sich nicht
mehr durch das Gleichgewicht des Schreckens erreichen,
sondern nur in einer allumfassenden Stabilitätsgemeinschaft.
Daher haben wir uns auch für eine schnelle Aufnahme
Albaniens in den Nordatlantischen Kooperationsrat eingesetzt
und es begrüßt, daß Ihr Land das Angebot der Partnerschaft
für den Frieden aufgegriffen hat. Die Zusammenarbeit in der
Partnerschaft für den Frieden wird dazu beitragen, Ihr Land an
der kooperativen Sicherheit teilnehmen zu lassen, die in
Europa entsteht. NATO und WEU haben zudem von den
Vereinten Nationen Aufträge übernommen, um eine friedliche
Regelung des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien zu fördern.
Wir würdigen, daß Albanien die Bemühungen bei der
Durchführung der Embargomaßnahmen vor seiner Küste
unterstützt. Der Europarat schließlich ist ein Hüter von
gemeinsamen Werten und Idealen in seinen Mitgliedstaaten. Die
grundlegenden Prinzipien von pluralistischer Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte setzen
die Standards, die seine Mitgliedstaaten - sowohl die
bisherigen als auch die neuen - erfüllen und weiterentwickeln
müssen. Deutschland mißt der möglichst baldigen
Mitgliedschaft Albaniens im Europarat, in dessen
Parlamentarischer Versammlung Ihr Land Sondergaststatus
genießt, hohe Bedeutung zu, für die Integration Albaniens in
die Europäische Staatengemeinschaft. Die Fortschritte bei der
demokratischen Entwicklung Albaniens machen uns
zuversichtlich, daß nun auch die letzten Schritte hin zu einer
Mitgliedschaft im Europarat zurückgelegt werden. Um diese
Schritte sicher zu gehen, sollte die Unterstützung durch den
Europarat vorbehaltlos in Anspruch genommen werden. Die
Erfahrungen des Rates, mit denen er bereits in den
vergangenen Jahren eine Reihe von neuen Demokratien aus
Mittel- und Osteuropa erfolgreich bis hin zur Aufnahme
unterstützt hat, zum Beispiel bei der Formulierung wichtiger
Gesetze und einer Verfassung, sollte auch Albanien
nutzen. Meine Damen und Herren, wir Deutsche wissen, daß
Ihr Land noch vor gewaltigen Aufgaben steht, um die Bürde
von fast 50 Jahren Isolation und Diktatur abzuschütteln. Ihre
allmählich enger werdenden Beziehungen zu den Staaten und
Institutionen Europas und der transatlantischen Gemeinschaft
zeigen aber auch, daß Sie diesen Weg nicht alleine gehen. Ihre
Freunde nehmen Anteil an der Entwicklung in Ihrem Land. Ich
bin überzeugt, daß diese Anteilnahme und Solidarität Ihnen Mut
und Kraft für die Bewältigung der vor Ihnen liegenden
Aufgaben geben wird. Ich wünsche Ihnen alles Gute dazu.