Abschied von Heinz Westphal (Teil eins von vier) - Trauerstaatsakt im Deutschen Bundestag - Ansprache des Bundestagspräsidenten

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Zu Ehren des am 30. Oktober 1998 verstorbenen Vizepräsidenten des Deutschen
Bundestages und Bundesministers a.D. Heinz Westphal hat Bundespräsident Roman
Herzog einen Trauerstaatsakt angeordnet. Der Trauerstaatsakt fand am 19.
November 1998 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn statt:

Ansprache des Bundestagspräsidenten

Der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, hielt bei dem
Staatsakt folgende Ansprache:

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Eichel in Ihrer
Eigenschaft als Vertreter des Herrn Bundespräsidenten,
sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Glogowski
als amtierender Präsident des Bundesrates,
sehr geehrte Frau Westphal,
sehr geehrte Familie Recht,
sehr geehrte Angehörige,
Herr Landtagspräsident, Exzellenzen,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

der Deutsche Bundestag gedenkt heute seines langjährigen Vizepräsidenten
Heinz Westphal, der am 30. Oktober im Alter von 74 Jahren verstorben ist. Wir
trauern um einen engagierten Parlamentarier und überzeugten Demokraten, der
mit kühlem Kopf und heißem Herzen unbeirrbar für seine Überzeugungen eintrat.
Über fünfzig Jahre stellte er sich selbstlos in den Dienst unseres
demokratischen Gemeinwesens, setzte sich streitbar, aber immer mit Augenmaß
für die parlamentarische Demokratie, für soziale Gerechtigkeit und für
Völkerverständigung und Frieden ein.

Am 4. Juni 1924 in Berlin geboren, entstammte Heinz Westphal einem
sozialdemokratischen Elternhaus. Sein Vater, Max Westphal, war in der Weimarer
Republik Leiter der Sozialistischen Arbeiterjugend, preußischer
Landtagsabgeordneter, Mitglied des SPD-Parteivorstandes und ein Freund Paul
Löbes und Erich Ollenhauers. Nach dem Besuch der Oberrealschule absolvierte
Heinz Westphal eine Lehre als Flugmotorenschlosser und mußte wie so viele
seiner Jahrgänge unfreiwillig als Soldat bei der Luftwaffe in den Krieg
ziehen. Er erlebte, wie sein Vater von den Nationalsozialisten verfolgt und
inhaftiert wurde. 1942 starb Max Westphal an den Folgen der KZ-Haft.

Die Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit, gerade auch die Begegnungen
mit verfolgten Frauen und Männern in seinem Elternhaus haben Heinz Westphal
tief geprägt. Er gehört zu jener Generation, die sich nach dem Untergang des
totalitären NS-Regimes aus tiefer Überzeugung für den Aufbau der
parlamentarischen Demokratie einsetzte. 1945 trat Heinz Westphal, der
Familientradition folgend, der SPD bei. Sein besonderes Augenmerk galt der
politischen Jugendarbeit. Der Wiederaufbau einer freien sozialistischen
Jugendbewegung in Westdeutschland war vor allem auch seiner Initiative zu
verdanken. Er gehörte zu den Neubegründern der Berliner SPD. Hier war er von
1946 bis 1947 Jugendsekretär, von 1948 bis 1950 Vorsitzender der
Sozialistischen Jugend und schließlich Verbandssekretär der Sozialistischen
Jugend Deutschlands. 1947 versuchte er in Verhandlungen mit der FDJ erfolglos,
die Gründung eines gesamtdeutschen Dachverbandes aller Jugendorganisationen
durchzusetzen. Im gleichen Jahr wurde er im Ostsektor Berlins von den
Kommunisten verhaftet und für kurze Zeit inhaftiert. Im Jahr 1953 wurde Heinz
Westphal, was schon sein Vater gewesen war: Vorsitzender der Sozialistischen
Jugend Deutschlands "Die Falken". Darüber hinaus gehörte er zu den
Mitbegründern des Bundesjugendringes. Bis Mitte der sechziger Jahre war er vor
allem in der Jugendpolitik seiner Partei tätig. Mit dem ihm eigenen Sinn für
Selbstironie bezeichnete er sich in einer Zeit, als er bereits auf die Vierzig
zuging, gerne als "Berufsjugendlichen".

1965 zog Heinz Westphal erstmals in den Deutschen Bundestag ein. Ein
Vierteljahrhundert lang gehörte er als direkt gewählter Abgeordneter des
Wahlkreises Wanne-Eickel/Wattenscheid und später Herne unserem Parlament an.
Als engagiertes Mitglied im Haushaltsausschuß hat er sich insbesondere für die
sozialen Aspekte des wirtschaftlichen Strukturwandels im Ruhrgebiet
eingesetzt. Zwischen 1969 und 1974 war er Parlamentarischer Staatssekretär im
Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit - ein Bereich, in dem er
seine langjährigen Erfahrungen aus der Jugendarbeit einbringen konnte. In den
Folgejahren wurde er zum Finanzexperten seiner Fraktion, deren Vorstand er
seit 1974 angehörte.
Von April bis Oktober 1982 übernahm Heinz Westphal unter Bundeskanzler
Helmut Schmidt das Amt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung.

Unser verstorbener Kollege war kein Mann der spektakulären Auftritte. Er zog
es vor, effektiv, aber unauffällig zu wirken. So hat sich Heinz Westphal stets
den Bürgerinnen und Bürgern seines Wahlkreises wie seiner Region besonders
verpflichtet gefühlt. Er setzte sich persönlich für ihre Sorgen und Probleme
ein und engagierte sich für Behinderte und sozial Benachteiligte. Der frühere
Bundeskanzler Helmut Schmidt hat ihn treffend als einen "Anwalt der kleinen
Leute" bezeichnet. Heinz Westphal ist stets von der Auffassung ausgegangen,
daß Politik vor allen Dingen Dienst an den Menschen sein muß.

Im Deutschen Bundestag wurde er wegen seiner Loyalität, seiner
Menschlichkeit, Beharrlichkeit, Verläßlichkeit und persönlichen Bescheidenheit
über die Parteigrenzen hinaus geschätzt. Man wußte, wofür Heinz Westphal stand
und wofür er auch streiten konnte. Aber er vermochte auch zuzuhören, Argumente
aufzunehmen und andere Auffassungen zu akzeptieren.

Seine Persönlichkeit prädestinierte ihn für ein hervorgehobenes Amt im
Deutschen Bundestag. Nach der Bundestagswahl 1983 wurde er von der
SPD-Fraktion als Vizepräsident des Deutschen Bundestages vorgeschlagen. Dieses
Amt hat er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Parlament im Jahre 1990 mit
Souveränität und mit Humor ausgefüllt. Sein Stil der Sitzungsleitung, der
seinem Vorbild Paul Löbe verpflichtet war, fand über die Parteigrenzen, die
Fraktionsgrenzen hinweg Anerkennung.

Neben seinem Engagement für soziale Gerechtigkeit hat Heinz Westphal sich
stets nachdrücklich für die Sicherung des Friedens und für die
Völkerverständigung eingesetzt. Als langjähriger Vorsitzender des
Verwaltungsrates des Deutschen Entwicklungsdienstes wies er immer wieder auf
die Notwendigkeit der Solidarität mit den Entwicklungsländern hin. Als
Präsident und späterer Vizepräsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft hat
er sich intensiv für ein besseres Verständnis zwischen unseren beiden Völkern
eingesetzt. Heinz Westphal regte den Jugendaustausch zwischen beiden Ländern
an und begründete das Europäische Jugendwerk.

Die Jugendarbeit ließ ihn auch nach dem Ausscheiden aus unserem Parlament
1990 nicht los. Neben vielfältigen anderen Aufgaben wie zum Beispiel dem
Einsatz für die Internationale Gedenkstätte Auschwitz engagierte er sich als
Vorstandsmitglied im Internationalen Bund für Sozialarbeit für
Jugendhilfeeinrichtungen in den neuen Bundesländern. Aber auch die Betreuung
des Archivs der Arbeiterjugendbewegung lag ihm besonders am Herzen. In allen
Feldern seines politischen Wirkens hat Heinz Westphal in vorbildlicher Weise
gezeigt, daß die parlamentarische Demokratie eine persönliche Verpflichtung
bedeutete, sich einzusetzen für soziale Gerechtigkeit, für Verständigung
zwischen den Völkern und für Frieden. Ein wahrlich reiches und engagiertes
Leben.

Wir verneigen uns heute mit Respekt und Dankbarkeit vor dem Lebenswerk von
Heinz Westphal. Ihnen, sehr geehrte Frau Westphal, Ihrer Tochter Sigrid und
allen Angehörigen gilt unser tiefempfundenes Mitgefühl. Heinz Westphal hat
sich um unser Land verdient gemacht. Der Deutsche Bundestag wird seinem
langjährigen Mitglied und Vizepräsidenten ein ehrendes Andenken bewahren.