Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Wolfgang Schäuble:
- Bulletin 14-1
- 29. Januar 2020
Herr Präsident!
Herr Bundespräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Bundesratspräsident!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Es gibt kein heilsames Schweigen über Auschwitz. Wir müssen über Auschwitz sprechen. Über das, wofür es eigentlich keine Worte gibt, wie Elie Wiesel vor 20 Jahren in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag gesagt hat. Diese unauflösbare Spannung spüren wir – auch 75 Jahre nachdem Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit haben.
Auschwitz erinnert daran, wie verführbar wir Menschen sind, wie zerbrechlich unsere Zivilisation ist, wie schnell unsere humanistische Substanz Schaden nimmt; wie angreifbar ihr ethisches Fundament bleibt, wenn wir es nicht verteidigen.
"Das, was man unter Vergangenheit versteht, muss immer neu ausgehandelt werden. Es gibt in dieser Frage kein heilsames Schweigen." Diesen Gedanken formulierte Jan Assmann. Der Friedenspreisträger und Historiker hat sich immer wieder mit der Frage befasst, warum wir uns erinnern und wie sich ein gemeinsames Gedächtnis herausbildet: in einem mühsamen, vielschichtigen Prozess, in dem das gelähmte und lähmende Schweigen erst nach und nach schwindet.
Wir müssen über Auschwitz sprechen und über die Verantwortung, die wir als Konsequenz und Lehre aus dem Geschehenen tragen, jede Generation neu. Sie ist eng verknüpft mit der Verpflichtung, die Würde des Menschen und seine unveräußerlichen Rechte zu achten, sie zu schützen und zu verteidigen. Keinen Raum mehr dafür zu lassen, andere Menschen zu stigmatisieren, auszugrenzen, zu verfolgen. Und sie ist auch verbunden mit unserer historischen Verantwortung für die Existenz und Sicherheit Israels, für die Pflege der besonderen deutsch-israelischen Beziehungen, für das Festigen dieser außergewöhnlichen Freundschaft, die sich der historischen Abgründe stets bewusst bleibt und gleichzeitig in die Zukunft gerichtet ist.
Deshalb ist es uns eine besondere Ehre, dass Sie, sehr geehrter Herr Präsident Rivlin, unserer Einladung gefolgt sind und zu uns sprechen werden. Das bedeutet uns viel. Das ist wichtig für uns in dieser besonderen Stunde, in der wir gemeinsam erinnern: Deutschland und Israel, vertreten durch unsere beiden Staatsoberhäupter.
Wir gedenken der Millionen Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen: der europäischen Juden, der Sinti und Roma, der slawischen Völker, die zu "Untermenschen" degradiert wurden, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Kriegsgefangenen und aller dem Hungertod Ausgelieferten. Wir erinnern an die aus politischen Gründen oder religiösen Motiven Verfolgten und Ermordeten, an diejenigen, die sich mutig dem NS-Regime widersetzten, die ihre Menschlichkeit bewahrten und das mit dem Leben bezahlten. Wir erinnern an das Leid von Homosexuellen, an die Menschen mit Behinderungen und an das Schicksal der als "Asoziale" Ausgestoßenen. Wir denken auch an all jene, die dem Tod zwar entkommen konnten, aber seelisch zerbrochen sind. Und an die Nachkommen, die bis heute vom Trauma des Holocaust gezeichnet sind.
Ein heilsames Schweigen über Auschwitz gibt es nicht, aber das Erinnern ist schmerzhaft, und der zeitliche Abstand ändert daran nichts. Zu entsetzlich war das, was geschehen ist, für die Opfer, von denen es vielen nie, anderen erst spät gelang, über das Erlittene zu sprechen. Umso stärker bewegt uns, dass dieser Gedenkveranstaltung Überlebende der NS-Verbrechen beiwohnen. Seien Sie uns auf den Tribünen herzlich willkommen!
Es hat auch lange gedauert, bis wir Deutschen uns über das Bekenntnis der Schuld, die unser Land trägt, hinaus dieser Vergangenheit wirklich gestellt haben. Es gab immer wieder Versuche – es gibt sie immer noch –, das Verbrechen kleinzureden oder umzudeuten. Das wird nicht gelingen. Es gehört zu unserem gesellschaftlichen Grundkonsens, diese historische Verantwortung anzunehmen. Sie ist für das Selbstverständnis unseres Landes konstitutiv. Wer an diesem Fundament rüttelt, wird scheitern. Es gibt kein heilsames Schweigen über Auschwitz.
Richard von Weizsäcker sprach 1985 von der Notwendigkeit, "ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Innern" zu errichten. Die Gedenkstunden des Deutschen Bundestages geben seit 25 Jahren inmitten unseres parlamentarischen Alltags diesem Nachdenken und Mitfühlen Raum. An einem historischen Ort, im Herzen der deutschen Demokratie, unweit der in Stein gefassten Mahnmale und begleitet von jungen Menschen aus zahlreichen Ländern. Ich freue mich, dass auch in diesem Jahr viele Jugendliche der Einladung des Bundestages zur internationalen Jugendbegegnung gefolgt sind, und ich begrüße sie alle herzlich! Ihr Interesse und Ihr Engagement machen Hoffnung, dass es uns gelingen kann, immer neue Formen und Wege der Erinnerung zu finden.
Die Jugendlichen haben in den vergangenen Tagen Auschwitz besucht, sie konnten dort mit Zeitzeugen sprechen. Zu den Überlebenden dieser Hölle hat der Künstler David Olère gehört. Wir haben heute Morgen im Bundestag eine Ausstellung eröffnet, die sein Leben und sein Werk zeigt. Er musste, als Angehöriger eines Sonderkommandos dazu gezwungen, in den Krematorien zu arbeiten, mit seinen Zeichnungen die privaten Briefe seiner Peiniger verzieren. Später hinterließ er mit seinen nachträglich geschaffenen Zeichnungen der Gaskammern und Krematorien verstörende und dabei zutiefst berührende Dokumente über das Grauen von Auschwitz. Der Pianist Igor Levit hat unsere Ausstellungseröffnung musikalisch bereichert.
Die Geschichte gibt uns keine Handlungsanleitungen. Aber wer sich mit ihr ernsthaft befasst, schärft seine Sensibilität für Entwicklungen in der Gegenwart und kann sie besser deuten. Und diese Sensibilität braucht es – auch heute. Gerade heute! 75 Jahre nach Auschwitz gibt es in Deutschland noch immer Antisemitismus und Rassismus –in vielen Facetten.
Mit Jeremy Borovitz und Rebecca Blady sind heute zwei Rabbiner unter uns, die zum Zeitpunkt des Anschlags von Halle in der Synagoge waren, ein Angriff, der erschreckende Mordlust gezeigt hat. Juden müssen in Deutschland wieder um ihr Leben fürchten! Dagegen hilft nur ein starker, ein konsequent handelnder Staat und eine couragierte Zivilgesellschaft, die verstanden hat, dass das Geschehene nicht vergangen ist. Weil das, woran wir heute erinnern, – in den Worten Imre Kertesz – nicht "die eigenartige und befremdliche Geschichte von ein oder zwei Generationen darstellt, sondern eine generelle Möglichkeit des Menschen".
Wir hören jetzt die Musik des jüdischen Komponisten Szymon Laks. Er hat Auschwitz überlebt als Leiter des Lagerorchesters. Dem Schweigen vieler setzte er nach dem Krieg seine Erinnerungen entgegen über die "Musik aus einer anderen Welt", wie er schrieb. Aus einer Welt unerträglicher Qual, aus der es für die wenigsten ein Entrinnen gab. Ilse Weber fiel ihr zum Opfer. Die jüdische Schriftstellerin komponierte im Lager Kinderlieder. Beim Gang in die Gaskammer soll sie ihr Wiegenlied "Wiegala" gesungen haben. Wir werden es zum Ausklang hören.