Interview mit der Heilbronner Stimme
Die Ukraine brauche unsere volle Solidarität und Unterstützung – auch in Kunst und Kultur, erklärte Kulturstaatsministerin Roth im Gespräch mit Hans-Jürgen Deglow. „Offenkundig soll die ukrainische Kultur wie Identität vernichtet werden“, so Roth weiter. „Dem müssen wir uns ganz klar entgegenstellen“, sagte sie.
- Interview mit Claudia Roth
Heilbronnner Stimme: Frau Roth, die Menschen in der Ukraine erfahren unermessliches Leid. Und auch das, was die Menschen geschaffen haben, ist bedroht: Wie gefährdet sind Kulturgüter in der Ukraine, was hören Sie von dort?
Claudia Roth: Dieser grausame Angriffskrieg des Putin-Regimes tötet in bestialischer Weise die Menschen in der Ukraine, diese werden vergewaltigt, müssen hungern, frieren und werden zur Flucht getrieben. Zunehmend werden jetzt auch Kulturgüter zerstört. In der Ukraine gibt es unter anderem mehr als 600 Museen und 3000 Kulturstätten, darunter sieben Welterbestätten. Alle diese Kulturorte sind durch diese Invasion der Kreml-Herrscher extrem bedroht. Offenkundig soll die ukrainische Kultur wie Identität vernichtet werden, deren Existenz, Traditionen und Geschichte Putin ja auch komplett leugnet. Dem müssen wir uns ganz klar entgegenstellen und hier helfen, wo wir helfen können.
Sie haben zusammen mit dem Auswärtigen Amt das Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine ins Leben gerufen. Wie kam es dazu, was kann die Initiative bewirken? Es geht um einen wichtigen Teil des kulturellen Erbe Europas ...
Sie haben vollkommen Recht: Das ukrainische Kulturerbe ist ein elementarer Teil des Kulturerbes von Europa. Es geht jetzt darum, die Kulturgüter und Kulturstätten der Ukraine zu schützen. Aus diesem Grund hat mein Haus gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt das „Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine“ ins Leben gerufen. Dadurch wollen wir die Hilfsmaßnahmen zum Schutz ukrainischer Kulturstätten jetzt koordinieren – zum Beispiel, indem wir Informationen darüber zusammenführen, welche Kulturstätten gefährdet sind, wo der größte Hilfsbedarf besteht und welche Hilfsangebote es gibt.
Wie wichtig ist hier das Engagement deutscher Kultureinrichtungen, Restauratoren, Museen?
Enorm wichtig. Denn die Politik kann diese Aufgabe nicht alleine meistern, wir brauchen die Fachexpertise. Ich freue mich deshalb sehr, dass unser Netzwerk von so vielen wichtigen Kulturorganisationen so engagiert mitgetragen wird, allen voran die Museumsorganisation ICOM Deutschland als zentraler Schaltstelle. Weitere Akteure des Netzwerks sind unter anderem die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, das Deutsche Archäologische Institut, die Kulturstiftung der Länder und die Deutsche UNESCO-Kommission. Um die Bibliotheken kümmert sich ganz konkret die Deutsche Nationalbibliothek, um die Archive das Bundesarchiv und um die Welterbestätten das Deutsche Nationalkomitee des internationalen Rates für Kulturdenkmäler ICOMOS. Außerdem habe ich dazu aufgerufen, dass Museen in Deutschland nun Patenschaften mit Museen in der Ukraine übernehmen, zum Beispiel von Museen in Städten hier und dort, die bereits Partnerstädte sind.
Sie haben vor einiger Zeit schon gesagt: „Zeigt mehr ukrainische Kunst und Kultur". Sind Sie zufrieden mit der Resonanz?
Am Tag nach Kriegsbeginn habe ich ukrainische Künstlerinnen und Künstler ins Kanzleramt eingeladen. Dieses Treffen ist mir sehr ans Herz gegangen. Ein ganz klarer Wunsch der Künstlerinnen und Künstler war: Gebt uns unsere Stimme, hört uns zu, lasst uns euch mit unseren Bildern, mit unserer Musik und Literatur zeigen, dass wir eine eigene, sehr reichhaltige Identität und Kultur haben. Dieser Wunsch hat mich sehr bewegt und bei mir dazu geführt, dass ich mich mit einer Bitte an die deutschen Kultureinrichtungen gewendet habe: Zeigt mehr ukrainische Kultur! Der Aufruf hat dann auch seine Resonanz gefunden und zu vielen Veranstaltungen geführt. Tatsächlich spielt ukrainische Kultur in den Feuilletons und in unserem Kulturleben seit dem Kriegsausbruch eine größere Rolle. Bei meinem Aufruf ging es übrigens nicht nur darum, mehr ukrainische Kultur zu zeigen. Wir sollten auch deutlich machen, dass wir die russische Kultur nicht der Instrumentalisierung durch die Kreml-Herren und ihrer Schergen überlassen. Das ist ein Putin-Krieg, kein Puschkin-Krieg.
Wie besorgt sind Sie darüber, dass mancherorts russisches Kulturerbe weggesperrt wird?
Wir dürfen nicht den Fehler machen, das autoritäre und repressive Putin-Regime mit Russland gleichzusetzen und deshalb russische Kultur zu boykottieren. Gerade jetzt sollten wir nicht aufhören, Tschaikowsky zu hören und Tschechow zu lesen! Und wir sollten auch nicht vergessen, dass gerade viele zeitgenössische russische Künstlerinnen und Künstler ihre Stimmen gegen diesen Angriffskrieg und Putin erheben, die auch unsere Unterstützung brauchen. Das Putin-Regime hat Russland mittlerweile in eine lupenreine Diktatur verwandelt und unterdrückt die Kultur- und Meinungsfreiheit massiv.
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, zivilgesellschaftliche Kontakte nach Osteuropa weiter zu pflegen, sie zu intensivieren?
Dieser Angriffskrieg des Putin-Regimes ist auch ein Krieg gegen Europa und die Idee der Demokratie. Deshalb müssen wir unsere so wertvolle Kultur der Demokratie in Europa jetzt stärken und verteidigen – bei uns in Deutschland und im Ausland, gerade auch in Osteuropa. Die Zivilgesellschaft ist da ein sehr wichtiger Partner, genauso wie Künstlerinnen und Künstler sowie Journalistinnen und Journalisten. Denn sie sind die Stimmen der Demokratie. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass diese Stimmen nicht verstummen, sondern im Gegenteil jetzt noch lauter werden. Solidarität ist das Gebot der Stunde. Daher arbeitet mein Haus gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt intensiv an einem Programm für geflüchtete Medienschaffende. Darüber hinaus stehen wir auch mit zivilgesellschaftlichen Initiativen wie Reporter ohne Grenzen im engen Austausch, um eine Soforthilfe für Journalistinnen und Journalisten aus der Ukraine, Russland und Belarus auf den Weg zu bringen. Wir wollen damit Medienschaffenden die Möglichkeit geben, weiter aus dem Exil heraus journalistisch zu arbeiten. Als Soforthilfe habe ich hierfür ad hoc eine Million Euro zur Verfügung gestellt, weitere finanzielle Hilfen planen wir gerade.
Sie haben überfallenen und vertriebenen Ukrainern sowie verfolgten Künstlern aus der Ukraine, aus Belarus und Russland Unterstützung zugesichert. Kultur sei nicht gegen Vereinnahmung gefeit. Laut einer aktuellen Bertelsmann-Studie gibt es heute erstmals seit Beginn der Erhebung (2004) mehr Autokratien/Diktaturen als Demokratien. Was bedeutet das für die Kunst - und die Verteidigung der Kunst?
Kultur und Medien sind Lebenselixier jeder Demokratie. Deshalb sind Kultur- und Medienschaffende immer unter den Ersten, die verfolgt, eingesperrt und unterdrückt werden, wenn eine Diktatur errichtet wird. Wir müssen gerade jetzt dafür sorgen, die Freiräume und die Widerspruchsfähigkeit von Kunst, Kultur und Medien zu erhalten und zu schützen. Denn diese Kunst- und Meinungsfreiheit stärkt unsere Demokratie und macht sie widerstandsfähiger. In diesem Sinne ist Kulturpolitik auch Sicherheitspolitik.
Wenn Sie auf diesen Krieg, diese große Krise heute blicken: Was bewegt Sie besonders?
Ein grausamer Angriffskrieg herrscht mitten in Europa: Menschen werden getötet, Zivilisten werden gefoltert, vergewaltigt und ermordet, Menschen müssen fliehen, Familien werden zerrissen und Existenzen zerstört – das erschüttert und bewegt mich zutiefst. Wie viele andere dachte ich, dass hätten wir in Europa überwunden. Die schrecklichen Bilder und Berichte über die Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine beschäftigen mit unentwegt. Dabei wird nicht nur die Ukraine angegriffen, sondern auch wir, unsere Kultur, unsere Freiheit, unsere Art zu leben, zu denken und zu lieben, unser demokratisches Zusammenleben. Deshalb kämpfen die Menschen in der Ukraine nicht nur für ihre Freiheit und ihre Demokratie, sie kämpfen auch für unsere Werte, für das europäische Modell von Demokratie, Freiheit und Pluralismus. Die Ukraine braucht deshalb unsere volle Solidarität und Unterstützung – auch in Kunst und Kultur.
Das Gespräch führte Hans-Jürgen Deglow.