Staatsministerin Grütters im Interview mit "ZEIT GERMANY" .

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ZEIT: Frau Grütters, wir stehen hier auf der Terrasse Ihres Büros im Bundeskanzleramt, man blickt von hier aus über ganz Berlin. Wenn ein Studierender erstmals nach Deutschland kommt – wie erklären Sie ihm oder ihr dieses Land?

Grütters: Deutschland lässt sich erklären mit drei Kuppeln, die wir von hier aus sehen. Direkt gegenüber: der Reichstag, eines der meistbesuchten Parlamente der Welt mit dreieinhalb Millionen Besuchern im Jahr; das liegt an der Kuppel, die Sir Norman Foster auf das altehrwürdige Gebäude gesetzt hat, durch sie wird dort alles transparent und einnehmend. Dahinter sehen Sie die nächste Kuppel, das ist das Humboldt Forum, das wir demnächst eröffnen werden. Wir mussten den zentralen Platz der Republik im 21. Jahrhundert neu definieren - und wir werden dort nicht etwa unsere eigene Kultur feiern, sondern die außereuropäischen Kulturen. Die dritte, goldene Kuppel ist die Synagoge an der Oranienburger Straße, die für die Religion steht. An diesen drei Kuppeln erklären sich Politik, Kultur und Religion in der wechselvollen deutschen Geschichte.

ZEIT: Welche Dinge sollte dieser Studierende unbedingt sehen oder erleben?

Grütters: Um zu verstehen, wer die Deutschen sind, sollte man in der Tat erst einmal nach Berlin kommen: Das Brandenburger Tor steht für die Teilung der Welt, aber auch für die wiedergewonnene Freiheit. Es steht also für unsere Geschichte mit zwei Diktaturen in einem Jahrhundert und den Umgang damit. Die zweite Dimension ist die Kulturnation: die Theater, die Opernhäuser ...

ZEIT: ... also von Berlin gleich weiter nach Bayreuth – und dort in die Oper und Richard Wagner hören?

Grütters: Nein. Das Bayreuther Festival hat sicher Weltgeltung. Man könnte aber auch nach Detmold ins Opernhaus gehen, das Wagners Walküre neben anderen Werken auch spielt. Es gibt so viele beglückende Momente in der Kultur in diesem Land: etwa wenn man in eine der 5000 inhabergeführten Buchhandlungen geht. Wir haben in Deutschland ein dichtes Netz geistiger Tankstellen, bestehend aus 6800 Museen, aus 360 staatlich und privat geförderte Theaterbühnen. Das ist historisch gewachsen und einmalig auf der Welt. Deutschland besitzt einen einzigartigen Schatz von Opernhäusern und Profi-Orchestern.  Darin manifestiert sich das, was wir „Kulturnation“ nennen.

ZEIT: Also hätten wir Berlin und die Geschichte. Wir hätten die Kulturnation und die „geistigen Tankstellen“. Was noch?

Grütters: Made in Germany. Die Verlässlichkeit und die Qualität deutscher Produkte sind weltbekannt; die Stärke, die daraus erwächst, die Tugenden wie Fleiß und Zuverlässigkeit, die damit verbunden sind, man sieht das etwa an den vielen Mittelständlern und Familienunternehmen hierzulande. Und dann: der Wald. Der steht für die deutsche Seele. Die Naturverbundenheit, die Sehnsucht, das romantische Prinzip. All das verdichtet sich dort. So sind wir auf der einen Seite Intellektuelle und Vernunftmenschen, auf der anderen Seite wohnt dem deutschen Wesen dieses Sehnsuchtselement inne, etwas zutiefst Sentimentales.

ZEIT: Zuverlässig, aber auch sehnsüchtig – würden Sie persönlich sich auch so beschreiben?

Grütters: Ich mich persönlich? Na ja: Ich bin Steinbock – und sehe mich als geradezu prototypisch für dieses Sternzeichen: zuverlässig, gründlich und fleißig. Aber ich empfinde auch jeden Tag dieses Sentimentale: Das beginnt schon morgens beim Aufstehen, wenn ich mich freue, dass ich die Vögel höre und dass es mich ins Freie zieht. Ich schwärme für das, was uns die Künste bescheren: Ich kann geradezu ehrfürchtig ein Buch lesen. Oder ich werde ganz entrückt, wenn die Musik mich ergreift. Mein Vater hat einmal eine Beobachtung an mir gemacht; er ist mit mir ins Konzert gegangen und hat bemerkt: „Das ist der einzige Moment, in dem du aufhörst, nebenbei irgendetwas anderes zu tun.“

ZEIT: Gegen diese Selbstbeschreibungen als zuverlässig und sentimental zugleich stehen die vielen Vorurteile, die im Ausland über Deutsche herrschen. Welches Vorurteil ärgert Sie besonders?

Grütters: Das Vorurteil, wir wären humorlos zum Beispiel. Das stimmt ja nicht. Oder das Vorurteil, wir könnten nicht entspannt sein. Ich ärgere mich aber auch über das Vorurteil vom „hässlichen Deutschen“ oder gar die Vorstellung, alle Deutschen wären so.

ZEIT: Und wie versuchen Sie, diese Vorurteile zu kontern?

Grütters: Am besten widerlegt man Vorurteile, wenn man in der Welt eine gewisse Offenheit zeigt, nach dem Motto: „Ich bin hier, weil ich mich für euch interessiere“. Es gilt also, das Eigene fröhlich anzuerkennen und sich mit größtmöglicher Neugier anderen Kulturen zu widmen. Das passt zu mir – sonst wäre ich auch nicht Kulturstaatsministerin.

ZEIT: Wie würden Sie jungen Ausländern die „Kulturnation Deutschland“ näher erklären?

Grütters: Dass wir ein so dichtes Netz an Kultureinrichtungen haben, hat mit unserer Geschichte zu tun: Das deutsche Territorium war über Jahrhunderte in viele Kleinstaaten zersplittert. Dort haben Fürsten sich nicht nur einen Wettbewerb um militärische Stärke geliefert, sondern auch in Wissenschaft und Kultur gewetteifert. Und es waren Geistesgrößen, die Anfang des 19. Jahrhunderts zuerst die Einheit der Nation formulierten. Georg Herwegh, die Gebrüder Grimm, der große Heinrich Heine oder auch Georg Büchner beschrieben diese Einheit der Deutschen Nation im Geiste. Das war oft hart, weil einige deswegen regelrecht verfolgt wurden. Doch es ist die Kultur, die nationale Identität stiftet: die Sprache, (das Deutsche ist übrigens sehr wortreich, eine echte Literatursprache), das Schrifttum, die Musik, die Traditionen.

ZEIT: Gilt das nicht für jede Nation?

Grütters: Ja natürlich! In Deutschland wissen wir aus bitterer Erfahrung übrigens auch, dass jede Diktatur, jedes autoritäre System damit beginnt, Intellektuelle, Kreative und Geistesgrößen mundtot zu machen. Wir haben daraus gelernt und uns eine Verfassung gegeben, in der bereits im fünften Artikel die Freiheit der Kunst garantiert wird. Angeblich hat die Kunstfreiheit in keiner anderen Verfassung auf der Welt einen so noblen Rang.

ZEIT: Merkt man diesen hohen Rang der Kunstfreiheit auch im Alltag der Kunst?

Grütters: Absolut. In Deutschland werden zumindest keine konventionellen und affirmativen Theaterstücke geboten. Und so viele junge bildende Künstler wollen bei uns leben, weil sie hier ein Klima vorfinden, das ihre Produktivität und ihre Kreativität fördert und herausfordert. Unsere Kulturpolitik fördert den Mut zum Experiment; wenn das scheitert, hat das keine negativen Folgen. Nur so entsteht Fortschritt. Es leben wohl kaum irgendwo so viele Künstler wie hier in Berlin, es ist weltoffen, international, entspannt und sicher.  In den 70er und 80er Jahren war New York so ein „place to be“, dann London mit seinen „young british artists“, seit einiger Zeit ist Berlin der Sehnsuchtsort. Das ist ein Stimulus unseres Gemeinwesens, den wir ausdrücklich wollen und der uns viel Geld wert ist.

ZEIT: Sie geben viel Geld für Kultur aus, oft auch für Hochkultur, von der viele Bürger fern sind. Lohnt sich das?

Grütters: Ich bin fest überzeugt davon: Kultur ist nicht die Folge wirtschaftlichen Wachstums, sondern dessen Voraussetzung. Die Kunst geht mit ihren innovativen und kreativen Ansätzen dem wirtschaftlichen Wachstum voraus. Deshalb leisten wir uns  Kultur auch nicht nur in guten Zeiten, sondern fördern sie systematisch. Kultur ist natürlich ein wichtiger Standortfaktor. Kultur ist aber vor allem eins: Ausdruck von Humanität. Man kann Gesellschaften sehr wohl daran erkennen, wie sie mit ihrer Kultur umgehen.

ZEIT: Was heißt das in harten Zahlen?

Grütters: Wir geben ungefähr 1,7 Prozent unseres Steueraufkommens für Kultur aus, mehr als andere Länder. In absoluten Zahlen sind das knapp zehn Milliarden Euro, verteilt auf Bund, Länder und Kommunen. Und da in Deutschland die 16 Bundesländer die sogenannte Kulturhoheit haben, tragen sie über 40 Prozent davon, die Kommunen sogar über 45 Prozent – und der Bund ist mit 14 Prozent dabei.

ZEIT: Das klingt so ein bisschen nach happy-go-lucky – der Schatten der Vergangenheit ist aber natürlich da.

Grütters: Deutschland ist sich seines Erbes bewusst, gerade auch seiner Abgründe. Deshalb nimmt die Erinnerungskultur bei uns einen so breiten Raum ein. Und daher rührt auch die Verpflichtung, zeitgenössische Künste, die gesellschaftliche Avantgarde, systematisch zu fördern. Die Künste sind ein wichtiges gesellschaftliches Korrektiv.

ZEIT: Stellen Sie sich eine ausländische Leserin unseres Magazins mit noch unklarem Deutschlandbild vor. Die liest, wie Sie die offene Kulturnation loben, hört aber auch von der gesellschaftlichen Polarisierung, vom Populismus und von den Wahlerfolgen der rechten AfD. Wie geht das zusammen? Es ist ja nicht alles gut hier.

Grütters: Das ist leider zutreffend. Wir haben uns sehr bemüht, unsere Vergangenheit aufzuarbeiten – die Nazi-Zeit und die SED-Diktatur – und glaubten lange Zeit, es gäbe einen breiten, gesellschaftlichen Konsens, dass Ausgrenzung, Rassismus, Antisemitismus sich einfach verbieten. Und doch gibt es wieder antisemitische Entwicklungen und fremdenfeindliche populistische Parteien. Wir fragen uns daher: Reicht das, was wir tun, immer noch nicht aus, um uns mit unserer Vergangenheit zu konfrontieren? Wir befragen unsere Geschichte auf vielfältige Weise auf die Botschaften für unsere Gegenwart und Zukunft hin. Natürlich wird historisches Wissen in den Schulen vermittelt. Und es gibt sehr viele Bildungsprogramme. Wir erhalten zum Beispiel die authentischen Stätten der Erinnerung, die Zahl der Besucher in unseren KZ-Gedenkstätten steigt jedes Jahr an – vor allem kommen immer mehr junge Leute. Und dennoch gibt es diese negativen Entwicklungen in Deutschland. Doch dem steht erkennbar entgegen, dass die meisten Menschen in Deutschland sehr offen und auch zugewandt sind. Trotz der populistischen Parteien, trotz des rauer gewordenen Klimas: Die Mehrheit der Deutschen zeigt sich weltoffen, friedliebend und menschenfreundlich.

ZEIT: Woran machen Sie das fest?

Grütters: Ein besonders beglückender Moment war die Willkommenskultur, die man in der gesamten Bevölkerung erlebt hat, als 2015 so viele Flüchtlinge zu uns kamen. Und schauen Sie sich an, wie viele junge Leute aus aller Welt nach Deutschland kommen, weil sie daran glauben, sich hier verwirklichen zu können. Das ist doch ein großes Lob an Deutschland. Nach Berlin kommen zum Beispiel sehr viele Israelis und Italiener; es gelingt aber auch an anderen Orten, ein weltoffenes Gesicht zu zeigen – im Ruhrgebiet etwa, in Frankfurt am Main, in München. Überall gibt es sehr multinationale Gemeinschaften.

ZEIT: In ZEIT GERMANY findet sich auch ein Interview mit der deutschen Rapperin Sookee. Sie plädiert dafür, dass alle Minderheiten, ob nun Ethnien, Religionen aber auch Geschlechter, viel mehr integriert werden müssten. Aus ihrer Perspektive ist Deutschland immer noch eine Monokultur.

Grütters: Ich erlebe kaum, dass jemand ausgegrenzt wird oder nicht willkommen wäre. Eher im Gegenteil: Jahrelang ist darüber gestritten worden, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist. Heute ist das akzeptiert - und wir haben gerade die Fachkräfte-Einwanderung weiter erleichtert. Dass eine Gesellschaft, auch die deutsche, sich verändert und sich zum Beispiel daran gewöhnen musste, Homosexualität auf der offenen Straße zu akzeptieren – das sind Prozesse, die jede Gesellschaft durchmacht. Dass Frauen oder Männer unkorrekt miteinander umgehen, erlebt man einer in Berlin normalerweise nicht. Daher kann ich Sookees These kaum teilen.

ZEIT: Aber Frauen sind oft bei der Führung unterrepräsentiert, oder?

Grütters: Das ist leider so, ja. Wir haben das in unserem Bereich einmal  untersuchen lassen. Ausgerechnet in Kultur und Medien gibt es weniger Frauen in Führungspositionen als in vielen anderen Branchen – es gibt zum Beispiel sehr viele Männer als Chefredakteure. Dabei gilt doch die Kreativbranche als so avantgardistisch. Das versuche ich mit vielen Initiativen energisch zu verbessern. Einen Vorbehalt in der Gesellschaft als Ganzes sehe ich allerdings nicht.

ZEIT: Wenn jetzt jemand nach Deutschland kommt, um hier zu studieren. Was neben dem Studium selbst sehen Sie als seine Aufgabe? Sollte er sich einbringen und später hierbleiben? Sollte er später als Botschafter Deutschlands in der Welt agieren?

Grütters: All das ist gut! Wir alle gewinnen durch diesen Zuzug und durch die Internationalität. Wir sprechen eine Einladung an Zuwanderer aus, hier bei uns in Deutschland Weltbürger zu sein. Ich bin dankbar für jeden, der aus einem anderen Land hierherkommt, ob als Besucher oder auch für eine längere Zeit. Also bitte: Erst einmal gerne hier sein! Ich hoffe, dass wir ihr und ihm ein gutes Leben ermöglichen, sicher, relativ entspannt, aber auch mit den besten Möglichkeiten, Wissen zu erlangen an den Unis oder in der Kultur. Zweitens: Ich hoffe, dass jemand lange genug bleibt, um viel vom Lebensstil und von den ethischen Maßstäben unseres Miteinanders, von den hier gelebten Werten in Deutschland mitzubekommen. Und dann ist jede Entscheidung die richtige. Wir freuen uns über Ärzte, die hierbleiben, weil wir sie an unseren Krankenhäusern dringend brauchen. Ebenso freuen wir uns, wenn sie mit ihrem hier gelernten Wissen und Ihrem Wertebewusstsein in ihrem Heimatland wirken. Also: Die hierbleiben wollen, tun uns gut, und die zurückkehren, leisten hoffentlich in ihren Heimatländern ebenfalls viel Gutes.