Rede von Staatsministerin Monika Grütters beim Arbeitstreffen der EU-Kulturministerinnen und –Kulturminister

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Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
meine sehr geehrten Damen und Herren!

Es hätte ein Tag im Lichte des reichen europäischen Kulturerbes werden sollen. Stattdessen ist unser heutiges Treffen überschattet von den Auswirkungen der COVID 19-Pandemie: Aus einer großen Kulturkonferenz wurde ein Arbeitstreffen im kleinen EU-Kulturministerkreis – mit einer politischen Agenda, die (genauso wie die gewöhnungsbedürftige Sitzordnung hier im Saal) einmal mehr vom Corona-Krisenmanagement geprägt ist.

Trotzdem – oder vielmehr: gerade deshalb – bin ich froh und dankbar, Sie alle heute persönlich hier im Kanzleramt begrüßen zu dürfen. Das ist in diesen Zeiten einerseits wahrlich keine Selbstverständlichkeit – und andererseits doch so dringend notwendig, allein schon als Signal der Solidarität: Künstlerinnen und Künstler, Kultureinrichtungen und Unternehmen der Kulturwirtschaft sind ja nicht nur diejenigen, die durch das notwendige Herunterfahren des öffentlichen Lebens besonders hart betroffen sind. Sie sind auch diejenigen, die besonders langfristig betroffen sind. Der Kultur- und Kreativsektor braucht deshalb unsere konzertierte Unterstützung – und nicht zuletzt darum geht es bei unserem heutigen Arbeitstreffen. In diesem Sinne: Herzlich willkommen in Berlin, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dass es sich auch im Kontext der Corona-Pandemie über das europäische Kulturerbe nachzudenken lohnt, zeigt ein kurzer Blick auf die Geschichte der Seuchenbekämpfung. Unsere kulturelle und städtebauliche Moderne sei wesentlich auch im Kampf gegen Epidemien entstanden, hieß es kürzlich im Feuilleton einer großen deutschen Wochenzeitung. Ob Cholera, Gelbfieber, Typhus oder Pest: Jede dieser Epidemien veränderte die Organisationsformen des Zusammenlebens und hinterließ Spuren auch im Erscheinungsbild der Städte. Die Erkenntnis beispielsweise, dass Cholera durch verunreinigtes Trinkwasser verbreitet wird, führte zum Verschwinden gemeinschaftlich geteilter Brunnen aus den Städten. 

Nicht nur Lehren aus dem Umgang mit Epidemien fanden städtebaulichen und kulturellen Niederschlag, sondern auch andere leidvolle Lernerfahrungen – insbesondere aus Kriegen und Konflikten, die über Jahrhunderte auf europäischem Boden ausgetragen wurden. Das bezeugen bis heute zahlreiche Meisterwerke der Kunst und Architektur, die zum europäischen Kulturerbe zählen. Sie tragen die Narben leidvoller Konflikte wie auch die Spuren bereichernden Austauschs zwischen Nationen und Kulturräumen, und sie vermitteln damit eindringlich, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas einander über nationale Grenzen hinweg verbunden sind, ja dass die EU viel mehr ist als eine Freihandelszone. Gerade in Zeiten, in denen Krisen und Konflikte Europas Einheit bedrohen, kann die Vergegenwärtigung des gemeinsamen kulturellen Erbes Zusammenhalt stiften.

Dafür stehen zahlreiche Beispiele bilateraler und multilaterale Zusammenarbeit im Kulturbereich. Dafür stehen die vielen erfolgreichen, zivilgesellschaftlichen Projekte des europäischen Kulturerbejahres 2018. Dafür steht das gemeinsame Konzert anlässlich des Übergangs der Ratspräsidentschaft von Kroatien auf Deutschland Anfang Juli – ein klangvolles Zeugnis der verbindenden Kraft unseres musikalischen Kulturerbes. Dafür steht aber auch die internationale Anteilnahme nach dem Brand der Kathedrale Notre-Dame, nach dem Hochwasser in Venedig, nach dem Erdbeben und dem Teileinsturz der Kathedrale in Zagreb, um drei prominente Beispiele der jüngeren Vergangenheit zu nennen. Notre-Dame ist nicht nur für Franzosen, der Markusplatz nicht nur für Italiener, die Altstadt Zagrebs nicht nur für Kroaten von hoher emotionaler Bedeutung. Es sind gemeinsame Bezugspunkte aller Europäer. Die Verantwortung dafür endet eben deshalb nicht an den jeweiligen Landesgrenzen. Angesichts der offensichtlich verbindenden Kraft kultureller Schätze geht deren Schutz uns alle an. Das kulturelle Erbe Europas stiftet Identität über Grenzen hinweg und verdient deshalb Solidarität über Grenzen hinweg. Die kroatische Ratspräsidentschaft hat mit ihren Ratsschlussfolgerungen zum Risikomanagement im Bereich des Kulturerbes einen wichtigen Schritt dafür getan.

Nicht nur der Schutz des gemeinsamen kulturellen Erbes trägt dazu bei, die europäische Einheit in Vielfalt zu sichern und zu stärken. Für Verständigung – die Voraussetzung eines friedlichen Miteinanders in der Vielfalt unterschiedlicher Interessen, Lebensweisen, Traditionen und Weltanschauungen in einem geeinten Europa – spielen Kunst und Kultur eine wichtige Rolle. Kunst ist unverzichtbar in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen. Sie ist Quelle von Inspiration und Irritation, Reflexion und Innovation. Sie schafft Raum für Debatten. Darüber hinaus trägt der Kultur- und Kreativsektor an die vier Prozent zur Wirtschaftsleistung der Europäischen Union bei. Künstlerinnen und Künstler, Kultureinrichtungen und die kulturelle Infrastruktur in den europäischen Ländern verdienen aus diesen Gründen besondere Unterstützung – erst recht jetzt, da infolge der Covid-19-Pandemie in Gefahr ist, was über Jahre gehegt und gepflegt wurde. Die gemeinsame Erklärung der Kultur- und Medienminister Anfang Mai hat den Weg zu gemeinsamen europäischen Maßnahmen geebnet. Von unserer heutigen Zusammenkunft erhoffe ich mir einen gemeinsamen Impuls für einen kraftvollen Neustart des kulturellen Lebens in Europa.

In Deutschland laufen gerade die Förderungen aus dem Rettungs- und Zukunftspaket NEUSTART KULTUR an, mit dem wir den Kulturbetrieb unseres Landes nach der pandemiebedingten Auszeit wiederbeleben und dauerhaft erhalten wollen. Für diesen „Neustart“ stehen aus dem Bundeskulturetat für dieses und das nächste Jahr insgesamt rund eine Milliarde Euro mehr für den Kulturbereich zur Verfügung – neben vielen hundert Millionen Euro aus den Bundesländern. Das Programm ist bewusst vor allen Dingen auf die Infrastruktur ausgerichtet, denn die Erhaltung der kulturellen Infrastruktur ist der Schlüssel, um Betriebsstätten, Arbeitsmöglichkeiten und damit Einkommen für Künstlerinnen und Künstler wie auch alle anderen im Kulturbereich Tätigen zu garantieren. In unserem Austausch gleich kann ich gerne die Details erläutern und bin gespannt, was Sie, liebe Amtskolleginnen und Amtskollegen, aus Ihren Ländern von den Corona-Krisenhilfen für den Kultur- und Kreativsektor berichten.

Lassen Sie uns heute darüber nachdenken, wie wir unsere Kräfte auf europäischer Ebene noch besser als bisher bündeln und die existentiellen Nöte von Künstlerinnen, Künstlern und Kulturverantwortlichen lindern können – auch im Interesse Europas! Denn europäischer Zusammenhalt in Vielfalt braucht nicht nur die Kunst der Diplomatie, sondern auch die Diplomatie der Kunst. Ob Poesie, ob Malerei, ob Film oder Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Einheit in Vielfalt durch Verständigung: Das schafft Kultur, und das ist nicht das Ergebnis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes; es ist vielmehr dessen Voraussetzung. „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“, lautet das Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Dafür braucht Europa die verbindende Kraft der Kultur. Und dafür braucht die Kultur unsere Unterstützung.

Ich bin froh, dass sich die Staats- und Regierungschefs – nach mehrtägigen Verhandlungen – bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft am 21. Juli auf einen Vorschlag zum Mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union verständigt haben. Bezieht man das Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ mit ein, so handelt es sich um die historische Summe von 1,8 Billionen Euro. Mit dem Vorschlag ist eine wichtige Hürde für einen zügigen Abschluss des Gesamtpakets genommen.

Dies ist auch für uns in der Kulturpolitik von Bedeutung. Denn wir können nun das Förderprogramm „Kreatives Europa“ zügig zu Ende verhandeln. Doch so wichtig es ist, schnell wieder in die Programmarbeit von „Kreatives Europa“ einzusteigen und hier ein Zeichen der Kontinuität zu setzen, so wenig eignet sich das Programm für den Wiederaufbau des hart getroffenen kulturellen und kreativen Sektors in Europa. Die Corona-Aufbauhilfen der EU müssen deshalb auch Künstlerinnen und Künstler, Kreative und Kultureinrichtungen zugutekommen! EU-Förderprogramme müssen generell stärker kulturpolitisch akzentuiert werden! Das sind zentrale kulturpolitische Anliegen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, über die wir sicherlich gleich noch ausführlicher diskutieren werden, und dabei hoffe ich auf Ihre Unterstützung, verehrte Amtskolleginnen und Amtskollegen!

In der Kultur schlägt das Herz Europas. Wenn es uns gelingt, die Kräfte der Kunst und des gemeinsamen Kulturerbes im europäischen Schulterschluss neu zu mobilisieren, kann die Corona-Krise das Vertrauen in die Europäische Union und damit auch den europäischen Zusammenhalt stärken. Das erfordert nicht zuletzt die Bereitschaft der Europäer, im Umgang mit dieser Krise voneinander zu lernen. Dazu dient der heutige Austausch vor der Fahrt ins Humboldt Forum – im Moment noch eine der größten Kulturbaustellen Europas. Es soll schon bald als Museum der Weltkulturen und internationaler Diskursort seine Pforten öffnen.

Zugegeben: Sie sind nicht die ersten ausländischen Gäste, die eine exklusive Vorschau bekommen. Der französischen Präsident Emmanuel Macron zum Beispiel war vor Ihnen auf der Baustelle, in Begleitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel; auch damals, 2018, ging es um Europa. Sie sind aber vermutlich die einzigen Gäste, für die das Humboldt Forum so kurz vor der Fertigstellung seine Pforten öffnet. Ich weiß, dass dort gerade unter Hochdruck gearbeitet wird und im Endspurt zur Eröffnung jede Minute kostbar ist. Umso mehr freue ich mich, dass dieser Rundgang möglich ist.

Das Humboldt Forum ist „Basislager für eine Weltreise“, so hat es Gründungsintendant Neil MacGregor einmal formuliert. Die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die hier präsentiert werden, bieten in Verbindung mit der benachbarten Museumsinsel und deren Kulturschätzen aus Europa und dem Nahen Osten nicht nur einmalige Einblicke in das kulturelle Erbe der Menschheit. Sie offenbaren darüber hinaus, dass es ein „Wir“ auch jenseits kultureller und nationaler Grenzen gibt. So wird im Humboldt Forum sichtbar, was auch die Bedeutung der Kultur für Europa ausmacht: Kultur ist kein Luxus für gute Zeiten, keine bloße Liebhaberei für Schöngeister und Besserverdiener, sondern integrative Kraft in zunehmend pluralistischen – und zunehmend polarisierten – Gesellschaften. Kultur ist Modus gesellschaftlicher Selbstverständigung gerade dort, wo unterschiedliche Lebensvorstellungen und Weltanschauungen sich vermeintlich unversöhnlich gegenüberstehen.

In diesem Sinne soll hier ein Ort der Verständigung mit internationaler Strahlkraft entstehen: ein lebendiger Ort möglichst breiter öffentlicher Debatten, ein Museum, das die Vielfalt der Gesellschaft nicht nur abbildet, sondern auch mitformt. Diesem Ruf macht das Humboldt Forum schon vor seiner Eröffnung alle Ehre, indem es notwendige Debatten anstößt und vorantreibt – zum Beispiel über die Frage des Umgangs mit Kunstschätzen aus außereuropäischen Kulturen. Die Kolonialzeit war lange ein blinder Fleck in unserer Erinnerungskultur, und viel zu lang war das in dieser Zeit geschehene Unrecht vergessen und verdrängt. Es endlich ans Licht zu holen, ist Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung mit den Menschen in den ehemaligen Kolonien. Das Humboldt Forum steht dabei exemplarisch für den glaubwürdigen und sensiblen Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten.

Was also erwartet Besucherinnen und Besucher künftig im Humboldt Forum?

Hoffentlich die Erkenntnis, dass uns Menschen überall auf der Welt trotz aller Differenzen und Konflikte mehr verbindet als uns trennt! Damit wäre für Demokratie und Verständigung in Europa und in der Welt schon viel gewonnen. Ich bin gespannt auf Ihre Eindrücke, meine Damen und Herren. Wenn wir den Tag nachher mitten im Weltkulturerbe Museumsinsel ausklingen lassen, haben wir noch einmal Gelegenheit, darüber zu diskutieren.