Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum Eröffnungsempfang des 20. Poesiefestivals in Berlin

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

Eine lange „Nacht der Poesie“ in einer der kürzesten Nächte des Jahres, die unter dem Motto „Weltklang“ das zeitgenössische Lyrik-Universum vermisst:

Da haben Sie sich für die 20. Ausgabe des Poesiefestivals wieder einmal eine Menge vorgenommen, lieber Thomas Wohlfahrt.

Dass Sie damit volles Haus haben, spricht nicht nur für den hervorragenden Ruf des Poesiefestivals. Es erzählt auch eine Menge über das Bedürfnis nach Worten, die tiefer gehen, die „welt-haltiger“ sind als die Alltagssprache, als der Informationsfluss in den Medien oder auch als die schnell konsumierbaren 280 Zeichen eines Tweets.

Trotz ihrer ganz eigenen Ausdrucksmöglichkeiten hat Lyrik ja den Ruf, hermetisch und schwer zugänglich zu sein – ein anspruchsvoller Genuss, nur für wahre Kenner.

Umso mehr freut es mich, dass Sie der Lyrik mit dem Poesiefestival alle Jahre wieder eine Bühne bieten und mit Formaten wie „Weltklang“ oder „Poet´s Corner“ Gedichte auch „auf den Marktplatz“ bringen: in die Stadt, in die Kieze, unter die Leute – und auch zu Jugendlichen und Kindern. Mit einem abwechslungsreichen Programm erweitert das Festival nicht nur seinen geografischen Radius und den Kreis der Lyrik-Leser und -Hörer; es lotet auch die Schnittstellen der Poesie zur Musik, zum Film und zur Bildenden Kunst aus und gibt damit neuen künstlerischen Ausdrucksweisen Raum. Damit ist das Festival in den vergangenen 20 Jahren zu einem internationalen Kristallisationspunkt der Dichtkunst geworden – zu einem Ort der Begegnung und des Dialogs.

Für das herausragende, für das enthusiastische und beharrliche Engagement, das diesen „Weltklang“ aus unterschiedlichen Facetten der Poesie und ihren Stimmen aus aller Welt ermöglicht, danke ich Ihnen, lieber Thomas Wohlfahrt, und Ihrem Team sehr herzlich.

150 Dichterinnen und Dichter aus 25 Ländern werden hier in den kommenden Tagen unter dem Motto „Endlich Zeit für Sprache“ ihre Werke vorstellen und damit unsere Sinne für die Kraft des Wortes schärfen.

Ob sie an so etwas wie „die magischen Qualitäten der Worte“ glaube, wurde die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller einmal gefragt. Ihre Antwort ist nachzulesen in einem kleinen Bändchen mit dem Titel „Lebensangst und Worthunger“. Ich zitiere: „[I]ch glaube, Wörter können alles. Die können schikanieren und die können schonen, und die können einen besetzen, und die können einen leerräumen. (…) Sie sind latent zu allem fähig.“

Wer, darf ich hinzufügen, wer wüsste das besser als wir Deutschen, die in ihrer Geschichte im Guten wie im Bösen, in der sprachlichen Vollendung durch große Dichter wie in der sprachlichen Verrohung in Zeiten der Diktatur, erlebt haben, wozu Worte imstande sind? Und auch in diesen Tagen, in denen der Traum von einem geeinten Europa auf wachsendes Unverständnis, erstarkenden Nationalismus und autoritäre Tendenzen stößt, auch in diesen Tagen bekommen wir wieder eine Ahnung davon, dass Worte nicht nur poetische Magie, sondern auch eine dunkle Macht entfalten können. Ich will hier gar nicht näher eingehen auf geistige Brandstifter, die mit menschenverachtenden Parolen gegen anders Lebende, anders Aussehende, anders Glaubende und anders Denkende hetzen. Verrohung beginnt immer in der Sprache: mit der Invasion von Kampfbegriffen in den öffentlichen Sprachgebrauch, mit der Verschiebung der Grenzen des Sagbaren. Deshalb ist das Gespür für die Macht der Worte so wichtig, und Sie sind es, liebe Lyrikerinnen und Lyriker, die dafür in besonderer Weise sensibilisieren. Deshalb freut es mich sehr, dass das Poesiefestival diesem Thema ein eigenes Forum widmet: gegen die „Diskursvergiftung“, für den „poetischen Widerstand“!

Ja, es ist „Endlich Zeit für Sprache“, um das diesjährige Festivalmotto aufzugreifen: In Deutschland, in Europa, in der Welt brauchen wir den poetischen Widerstand gegen die Diskursvergiftung, und ich bin überzeugt, dass die Lyrik politische Wirkung entfalten kann. Mit Blick auf das 30-jährige Jubiläum der Friedlichen Revolution, das wir am 9. November - dem Jahrestag des Mauerfalls - feiern, erinnere ich beispielsweise an den tschechischen Dichter Jaroslav Seifert, der 1984 für sein lyrisches Werk den Nobelpreis erhielt.

Ein Dichter muss - ich zitiere - „mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt, will er den Frost zwingen, uns Schauer über den Rücken zu jagen“, hat er einmal gesagt.

Mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt: Auch dafür steht das Poesiefestival - und die hier vernehmbare Vielstimmigkeit der gegenwärtigen Lyrik ist ein Beitrag gelebter Völkerverständigung, ein Beispiel „beglückender Selbstverständlichkeit“ beim Überqueren nationaler und sprachlicher Grenzen, wie es die Herausgeber des lesenswerten Bandes „Grand Tour. Reise durch die junge Lyrik Europas“, Federico Italiano und Jan Wagner, formuliert haben. Dieses Buch soll im nächsten Jahr, wenn Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft innehat, im Mittelpunkt eines Lyrikabends stehen, mit dem ich die von mir eingeführte Tradition der literarischen Abende im Bundeskanzleramt fortsetzen will. Sie sollen Aufmerksamkeit schaffen für die Wirkmacht der Poesie.

Darüber hinaus braucht es aber auch finanzielle Unterstützung, um der Lyrik eine Bühne zu geben. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir dem Poesiefestival vor zwei Jahren gemeinsam mit dem Land Berlin im Rahmen des Hauptstadtkulturfonds mehr Planungssicherheit und eine Etaterhöhung zusichern konnten. Mittel aus meinem Kulturetat erhält auch das bundesweite „Netzwerk Lyrik“, dessen Zentrum das Haus für Poesie in Berlin ist. Wir haben außerdem in diesem Jahr mit der Förderung durch die Bundeskulturstiftung den großen Kongress „Fokus Lyrik“ unterstützt - um nur drei Beispiele der Lyrikförderung des Bundes zu nennen.

Die wichtigste Unterstützung aber ist und bleibt das Eintreten für die Freiheit der Kunst. Das ist die Lehre, die Deutschland aus zwei Diktaturen gezogen hat. Angesichts der zunehmenden Zahl bewaffneter Konflikte, angesichts eingeschränkter Meinungsfreiheit und Zensur ist diese Freiheit vielerorts –selbst in Europa - in Gefahr. Deshalb finanziert die Bundesregierung das „Writers in Exile“-Programm, das wir gemeinsam mit dem deutschen PEN ins Leben gerufen haben. Es gewährt verfolgten Schriftstellerinnen und Schriftstellern vorübergehend Zuflucht und eröffnet ihnen künstlerische Freiheiten, die es in ihren Heimatländern nicht mehr gibt oder noch nie gab. Wie das Poesiefestival begeht auch das „Writers in Exile“-Programm in diesem Jahr sein 20-jähriges Jubiläum.

Verständigung und Demokratie, verehrte Damen und Herren, brauchen die Kraft der Poesie, brauchen Sprachkünstler, Querdenker und Freigeister, brauchen Dichterinnen und Dichter, die „mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt“ - und jene, die ihnen Gehör verschaffen und ihnen den Weg bereiten. Zu diesen Wegbereitern gehört das Poesiefestival, und dafür bin ich von Herzen dankbar. Herzlich Glückwunsch zu 20 Jahren „Weltklang“, lieber Thomas Wohlfahrt! Möge der Austausch im Rahmen des Festivals auch weiterhin all jene, die sich der Dichtkunst verschrieben haben, inspirieren und ermutigen, die Kraft der Poesie zum Klingen zu bringen und ihnen dafür die verdiente Aufmerksamkeit bescheren!