Rede von Kulturstaatsministerin Grütters auf der Veranstaltung "Allianz der Akademien. Eine Konferenz Europäischer Kulturinstitutionen"

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Im Wortlaut Rede von Kulturstaatsministerin Grütters auf der Veranstaltung "Allianz der Akademien. Eine Konferenz Europäischer Kulturinstitutionen"

Kulturstaatsministerin Monika Grütters begrüßte in ihrer Rede die Idee einer "Allianz der Akademien" - "in der Hoffnung, dass die beteiligten Kultureinrichtungen gemeinsam [...] auf europäischer Ebene stärker sichtbar und hörbar werden und dass so die Bedeutung der Kultur für Zusammenhalt in Vielfalt stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt."

Freitag, 9. Oktober 2020 in Berlin

 "''Imagine‘ war (…) das, woran John glaubte – dass wir alle ein Land, eine Welt, ein Volk sind.“ John Lennon, dem diese Worte Yoko Onos galten, wäre heute 80 Jahre alt geworden. Mit "Imagine", einem der wirkmächtigsten Popsongs aller Zeiten, hat er dem Traum von einer besseren Welt ein musikalisches Denkmal gesetzt: dem Glauben, "dass wir alle ein Land, eine Welt, ein Volk sind" – und dass sich die Welt mit dieser Überzeugung verändern lässt.

Dass zumindest Europa sich mit dieser Überzeugung verändern lässt, lehrt uns die europäische Geschichte. In Deutschland haben wir gerade das 30. Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung gefeiert und an die Menschen erinnert, deren Träume und Hoffnungen, deren Fantasie und Vorstellungskraft in Deutschland und in Staaten des ehemaligen Ostblocks Mauern und Grenzzäune zum Einsturz brachten und dem Zusammenwachsen Europas den Weg ebneten. Sie besaßen neben Kühnheit und Kampfgeist vor allem eines: eine Vorstellung von einer besseren Welt, von einem besseren Leben in Freiheit und Einheit.

Diese Vorstellungskraft brauchen wir heute vielleicht mehr denn je, um über den nationalen Horizont hinaus zu denken und die europäische Einheit in Vielfalt zu stärken. Deshalb, liebe Frau Prof. Meerapfel, freue ich mich sehr über die Initiative der Akademie der Künste, aus Anlass der deutschen EU-Ratspräsidentschaft über einen Schulterschluss zwischen den europäischen Kunstakademien und Kulturinstitutionen, über eine "Allianz der Akademien" nachzudenken, deren Ziel ein vielfältiges, weltoffenes, demokratisches Europa ist. Ihnen allen, meine Damen und Herren, die Sie im Rahmen der Konferenz über dieses Europa der Kulturen mitdiskutieren werden, danke ich herzlich für Ihr Engagement. Es freut mich sehr, dass es gelungen ist (ob hier vor Ort oder digital), Vertreterinnen und Vertreter aus allen EU-Mitgliedsstaaten zusammenzubringen. Mit ihrer gesamteuropäischen Ausrichtung, ihrem integrativen Ansatz und ihrem politischen Anliegen nimmt die heutige Konferenz im Rahmen des Programms der BKM zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine besondere Stellung ein.

Die enormen Herausforderungen, vor denen Europa aktuell steht, lassen sich mit den Mitteln der Politik und der Wirtschaft, mit Macht und Geld allein nicht lösen. Erschüttert vom „Brexit“ Großbritanniens und vom Erstarken nationalistischer Strömungen, bedroht durch die Erosion demokratischer Grundwerte wie der Presse- und Kunstfreiheit in manchen europäischen Ländern, zermürbt vom zähen Ringen um gemeinsame Lösungen etwa für eine europäische Asylpolitik und konfrontiert mit den zerstörerischen Folgen der Corona-Pandemie braucht die Europäische Union mehr als vielleicht je zuvor in ihrer Geschichte jene Kräfte, die über alle Grenzen und Gräben hinweg Verstehen und Verständigung ermöglichen: die Kräfte der Kunst und Kultur. Denn um Verstehen und Verständigung ist es in Europa gerade nicht zum Besten bestellt. In einem Gastbeitrag für eine deutsche Wochenzeitung schrieb der bulgarische Intellektuelle Ivan Krastev vor einiger Zeit, die Situation in Europa erinnere ihn an einen Roman, in dem ein in vielen Sprachen redegewandter Linguist versehentlich das falsche Flugzeug besteigt und in einer fremden Stadt landet, in der er niemanden versteht und keine der Sprachen, die er beherrscht, ihm weiterhilft. „Ich fürchte“, so Krastev, „dass das heutige Europa ebenjener Stadt ähnlicher wird (…).“

Was kann die Kunst dazu beitragen, Verstehen und Verständigung zu ermöglichen? Ich glaube, eine ganze Menge. Ob Poesie, ob Malerei, ob Film oder Musik, Theater oder Tanz: Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen bescheren, wo unterschiedliche Herkunft ab- und ausgrenzt. Kunst kann Perspektiven verschieben und Vorstellungsräume erweitern – und damit auch die Grenzen der Empathie. Kunst kann Verbindendes sichtbar machen, wo das Trennende die Wahrnehmung beherrscht. Kunst schafft Raum für Debatten und ist Quelle von Inspiration und Irritation, Reflexion und Innovation. Aus diesen Gründen begrüße ich die Idee einer „Allianz der Akademien“, in der Hoffnung, dass die beteiligten Kultureinrichtungen gemeinsam – ggf. auch im losen Verbund - auf europäischer Ebene stärker sichtbar und hörbar werden und dass so die Bedeutung der Kultur für Zusammenhalt in Vielfalt stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt. Und nebenbei bemerkt: Aus eben diesen Gründen verdienen Künstlerinnen und Künstler, Kultureinrichtungen und die kulturelle Infrastruktur in den europäischen Ländern besondere Unterstützung – erst recht jetzt, da infolge der Covid-19-Pandemie in Gefahr ist, was über Jahre gehegt und gepflegt wurde.

Deshalb setze ich mich, unterstützt von meinen europäischen Amtskolleginnen und -kollegen, im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Moment mit Nachdruck dafür ein, dass die Corona-Aufbauhilfen der EU auch Künstlerinnen und Künstlern, Kreativen und Kultureinrichtungen zugutekommen. Auch über Erfahrungen mit Unterstützungsmaßnahmen auf nationaler Ebene bin ich mit meinen Amtskolleginnen und -kollegen im Austausch. In Deutschland laufen seit Juli nach und nach die Förderungen aus dem Rettungs- und Zukunftspaket NEUSTART KULTUR an, mit dem wir den Kulturbetrieb unseres Landes nach der pandemiebedingten Auszeit wiederbeleben und dauerhaft erhalten wollen. Für diesen „Neustart“ stehen aus dem Bundeskulturetat für dieses und das nächste Jahr insgesamt rund eine Milliarde Euro mehr für den Kulturbereich zur Verfügung. Das Programm stößt auf enorme Resonanz. Es ist bewusst vor allen Dingen auf die Sicherung der Infrastruktur ausgerichtet. Denn sie ist der Schlüssel, um Arbeitsmöglichkeiten und damit Einkommen für Künstlerinnen und Künstler wie auch für alle anderen im Kulturbereich Tätigen zu garantieren.

Die so genannte Kulturmilliarde kann ihre Not nur lindern, aber natürlich nicht alle Probleme lösen. Umso wichtiger ist es, sehr differenziert darüber nachzudenken, wie man mit pragmatischen Konzepten das Bühnengeschehen weitestmöglich wieder zum Laufen bekommen kann. Das ist das Mindeste, was wir den Künstlerinnen und Künstler schuldig sind! Kultur ist keine Delikatesse für Feinschmecker, sondern Brot für alle. Die Wiederbelebung des kulturellen Lebens in Deutschland und Europa verdient deshalb dieselben Anstrengungen, die auch anderen Branchen zuteilwerden! Pauschal sehr restriktiv vorzugehen, wird weder dem Kulturbetrieb in seiner Vielfalt noch den existentiellen Nöten der Kultureinrichtungen und der Künstlerinnen und Künstler gerecht – und übrigens auch nicht ihrer zentralen Bedeutung für eine starke und lebendige Demokratie! Als treibende Kräfte gesellschaftlicher Selbstreflexion und Verständigung sind Künstlerinnen und Künstler für eine Demokratie ebenso überlebensnotwendig wie für jeden einzelnen als Inspiration für Träume und für die Suche nach Antworten auf existentielle Fragen des Menschseins. Mögliches sichtbar zu machen und Wirklichkeit veränderbar zu zeigen, gehört dabei zu den künstlerischen Kernkompetenzen. Kunstwerke und Kulturorte schaffen Raum für Utopien. Künstlerinnen und Künstler sind die Botschafter des Möglichen in der Wirklichkeit – auch in der europäischen Wirklichkeit.

„Dass wir alle ein Land, eine Welt, ein Volk sind“, davon träumte nicht nur John Lennon. „Alle Menschen werden Brüder“, heißt es bei Ludwig van Beethoven, im berühmten Schlusschor der 9. Symphonie, die zur Europa-Hymne wurde.

Und seit jeher waren es vor allem Künstlerinnen und Künstler, deren Horizont weit über die Grenzen ihres Heimatlandes hinausreichte – und das schon zu einer Zeit, als der europäische Gedanke, wie wir ihn heute kennen und leben, noch nicht einmal als Utopie am politischen Horizont erkennbar war. Am preußischen Hof Friedrichs des Großen beispielsweise gaben sich europäische Geistesgrößen die Klinke in die Hand. Voltaire etwa war dort längere Zeit Gast. Goethe hat sich als berühmtester Italienreisender der Geschichte im europäischen Gedächtnis verewigt. Der Norweger Edvard Grieg studierte in Leipzig und blieb der Stadt, in der er später Freundschaft mit Johannes Brahms und Peter Tschaikowsky schloss, ein Leben lang verbunden. Für Heinrich Heine war Paris das „Foyer des europäischen Geistes“. Rainer Maria Rilke, in Prag geboren, hat zum Teil auf Französisch und sogar auf Russisch geschrieben, und Stephan Zweig nannte Europa „meine geistige Heimat“

Kurz und gut: Über den nationalen Tellerrand hinaus zu schauen und sich international auszutauschen, das war und ist gerade für Künstlerinnen und Künstler wertvolle Inspiration. Nicht zuletzt ihrer Neugier und Weltoffenheit verdanken wir den kulturellen Reichtum, auf den wir in Europa so stolz sind. Und ich bin sicher: Ihre Neugier und Ihre Weltoffenheit werden Europa auch in Zukunft inspirieren. Ihre Träume von einer besseren Welt werden auch in Zukunft Mut und Aufbruchsstimmung wecken. Ihre Werke werden Menschen weiterhin über Grenzen hinweg miteinander in Fühlung bringen – selbst in Zeiten, in denen Solidarität bedeutet, Abstand zu halten. Kunstfreiheit und kulturelle Vielfalt sind deshalb das Beste, was ein geeintes Europa nationalistischen Strömungen und populistischen Rufen nach Abschottung und Ausgrenzung entgegensetzen kann. In diesem Sinne, meine Damen und Herren, wünsche ich Ihrer Konferenz, die dem freien Wort und dem freien Geist huldigt, einen guten und konstruktiven Verlauf.