"Kreative müssen von ihrer Leistung leben können"

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Blick auf eine Plakatwand an der Berliner Urania

Grütters: Der ganze Kulturbetrieb leidet zurzeit.

Foto: Sebastian Bolesch

SPIEGEL: Frau Grütters, ist Deutschland noch eine Kulturnation?

Grütters: Das ist hoffentlich nur eine rhetorische Frage, denn wir sind es gerade jetzt mehr denn je. Wir erleben über die indirekten Darbietungsformen via Bildschirm, im Netz, auf den Balkonen sehr viel Kultur. Die Kulturszene zeigt in dieser Krise, dass sie zäh und besonders lebhaft ist. Und ich tue alles, um das Überleben dieser Szene zu sichern, also sowohl den Institutionen wie den einzelnen Künstlerinnen und Künstlern zu helfen.

SPIEGEL: Das scheinen viele Kulturschaffende anders zu sehen. In dieser Woche wurde etwa ein offener Brief der privaten Berliner Theater verschickt, er klingt wie ein Flehen um Hilfe. Solche kleineren Institutionen, viele Freischaffende sind in Sorge. Müssen Sie da nicht viel aktiver werden?

Grütters: Es wird enorm viel Hilfe geleistet, über die Milliardensummen ist schon oft gesprochen worden. Es täte mir leid, wenn manche die Angebote nicht in der bestmöglichen Weise nutzen. Denn selbst wenn es kein eigenes Sonderprogramm nur für die Kultur gibt, so ist das Hilfsprogramm des Bundes doch auch und gerade auf die Bedürfnisse des kreativen Milieus abgestimmt.

SPIEGEL: Viele fürchten, Grundsicherung in Anspruch nehmen zu müssen, und das erscheint ihnen nicht als Hilfe, sondern als abwertendes Almosen.

Grütters: Darüber kann ich mich nur wundern. Es wird vorerst keine Vermögensprüfung vorgenommen, es reicht eine einfache Selbstauskunft. Bedürftige bekommen nicht nur die Grundsicherung, sondern zeitweilig auch die reellen Miet- und Heizungskosten ersetzt. Wenn Kinder da sind, gibt es weitere Zuschläge. In Nordrhein-Westfalen wurden darüber hinaus bis zu 2000 Euro pro Kreativem gezahlt, in Berlin 5000 Euro. Das geht weit über "Almosen" hinaus.

SPIEGEL: In Berlin war das Geld schnell aufgebraucht. Viele gingen leer aus.

Grütters: Irgendwann sind die Töpfe natürlich leer. Und selbstverständlich wurden die 5000 Euro verrechnet, wenn jemand zugleich das Sozialschutz-Paket des Bundes in Anspruch nehmen wollte. Finanziell ist es für die Kreativen übrigens oft vorteilhafter, an den Maßnahmen des Bundes statt denen der Länder teilzuhaben. Die Konstruktion der Hilfsmaßnahmen ist darüber hinaus nicht zuletzt ein Zeichen der Solidarität: Die Kultur gehört in die Mitte der Gesellschaft, sie lässt sich nicht abtrennen.

SPIEGEL: Schon vor der Krise haben wir einen Großteil des kulturellen Angebots unterbezahlten, freischaffenden Idealisten überlassen. Das gilt ja auch für Musiklehrer, Museumspädagogen. Das Land hat lange davon profitiert, dass sich Menschen selbst ausgebeutet haben. Nun erhalten sie das Angebot im Netz aufrecht. Sollte die Solidarität da nicht größer sein?

Grütters: Ja, es gibt eine große Zahl freischaffender Künstlerinnen und Künstler, die schon vor der Coronakrise in bescheidenen Verhältnissen lebten. Sie wollen aus einer starken intrinsischen Motivation heraus unbedingt "ihr Ding machen". Wir sind dankbar für diese Arbeit, und wir wissen, dass der gesamtgesellschaftliche Nutzen riesig ist. Aber wir unterstützen das auch auf vielfältige Weise: durch die Künstlersozialkasse etwa, durch steuerliche Regelungen, durch die Buchpreisbindung, die den Autoren und den Verlagen hilft, und durch vieles mehr.

SPIEGEL: Der ganze Kulturbetrieb leidet zurzeit, aber er ist auch kreativer denn je. Die Kultur verändert sich, erneuert und digitalisiert sich in hoher Geschwindigkeit. Kann jetzt und in Zukunft noch eine Kulturpolitik alten Stils greifen? Muss die Kulturpolitik sich nicht ebenso schnell umstellen? Über neue Förderungen und Formate nachdenken?

Grütters: Wenn die "Kulturpolitik alten Stils" so schlecht wäre, hätten wir dann eine derart vielfältige Kulturdichte hierzulande? Ich halte nicht viel davon, jetzt Abgesänge anzustimmen auf all diejenigen, die uns diesen Reichtum bescheren.

SPIEGEL: Am Kulturforum in Berlin soll ein neues Museum entstehen, wirkt es nicht schon vor dem Bau veraltet? Ist das nicht eine Institution alter Machart, und sind nicht gerade neue Zeiten angebrochen?

Grütters: Dieses Museum der Moderne wird der Kunst des 20. Jahrhundert gewidmet sein, also dem Jahrhundert, das für unsere deutsche Identität mit all seinen Brüchen so maßgeblich war. Die Künste sind die Chronisten dieser Geschichte. Leider kann nur ein Bruchteil dieser Kunst der Nationalgalerie im kleinen Mies-van-der-Rohe-Bau gezeigt werden. Das soll sich durch das neue Museumsgebäude ändern. Es geht also nicht nur um die Hülle, um den Bau, sondern um seine Bestimmung; und im Übrigen werden hier viele Arbeitsplätze geschaffen - und zwar für die, um die es jetzt geht. Nicht alles verliert durch die Krise seine Bedeutung. Aber in einem Punkt muss ich zustimmen.

SPIEGEL: In welchem?

Grütters: Es gibt einen echten Paradigmenwechsel im Kulturdialog: Wir erleben in der Digitalisierung einen Push, den wir mit den schlauesten Programmen nicht erreicht hätten. Es wurden ja Millionensummen in die Digitalisierung des Kulturbereiches investiert. Aber viele Projektbewerbungen waren eher konventionell, zu selten innovativ oder originell.

SPIEGEL: Aber nun gelingt viel Neues.

Grütters: Jetzt passiert, was ich mir schon lange gewünscht habe: Der Bereich Kultur blüht in der digitalen Welt richtig auf. Das ist in der Tat etwas, das in unsere Kulturpolitik verstärkt einfließen muss. Die digitale Vermittlung von Kultur steht ganz weit oben auf meinem Merkzettel. All das wird das analoge Erlebnis natürlich nicht ersetzen, aber es wäre toll, wenn ein netzaffines Publikum nun auch Lust bekäme, zum Beispiel in die Staatsoper zu gehen, um sich eine "Carmen"-Aufführung anzusehen und dafür dann auch Eintritt zu bezahlen, und wenn die Traditionshäuser ihrerseits mit intelligenten Ideen ein solches neues Publikum auch anlocken würden.

SPIEGEL: Die EU-Kulturminister haben sich am Mittwoch ausgetauscht. Viele in diesem Europa halten Kultur vielleicht für eine Randerscheinung, für belanglos. Wie will man diese Menschen überzeugen? Gerade jetzt im Angesicht einer Krise, die für einige Länder bereits eine traumatisierende Katastrophe ist?

Grütters: Europa ist mehr als ein gemeinsamer Binnenmarkt, es geht eben nicht in erster Linie um Agrarsubventionen, sondern gerade jetzt wird doch über die zum Teil geschlossenen Grenzen hinweg sichtbar, wie sehr die Kultur uns verbindet: Da wird auf den Balkonen gesungen, man gibt die Ode "An die Freude", diese wunderbare Beethoven-Musik, die zur Europa-Hymne wurde. Die Raffael-Ausstellung aus Florenz sehen wir alle im Netz. Ein ganzes europäisches Kulturerbejahr 2018 hat uns mehr als alle anderen Bereiche über unsere Grenzen hinweg an gemeinsame Werte erinnert.

SPIEGEL: Wenn der Stellenwert der Kultur für viele immer noch infrage steht - haben dann auch die Kulturpolitiker Europas etwas versäumt? Warum ist die Bedeutung von Kultur nicht viel tiefer im Bewusstsein der Bevölkerung verankert?

Grütters: Ich habe meine europäischen Amtskolleginnen und -kollegen gerade wieder erlebt. Wir hätten nicht vier Stunden miteinander per Videokonferenz beraten, wenn wir nicht alle für unsere Aufgabe und für die Kultur und die Kreativszenen brennen würden. Wir haben in eindrücklichen Statements viel Empathie für die Künstler gezeigt und gemeinsam mit der EU-Kommissarin Mariya Gabriel für ein starkes Programm "Creative Europe" geworben. Das tun wir für die Menschen in Europa. Die Einheit in Vielfalt wird nirgendwo so eindrucksvoll sichtbar wie in der Kultur. Die Politik muss die Bedingungen dafür schaffen, dass diese Vielfalt jetzt nicht verkümmert. Dafür setze ich mich auf nationaler wie auf europäischer Ebene mit Herzblut ein.

SPIEGEL: Sie sind nicht nur für die Kulturpolitik zuständig, sondern auch für medienpolitische Fragen. Wie schätzen Sie die Bedeutung und Situation der Medien in dieser Krise ein?

Grütters: Jedes Ministerium musste zu Beginn der Krise sagen, ob es systemrelevante Bereiche repräsentiert. Ich habe hier sehr energisch die Medien positioniert, was niemand infrage gestellt hat. Im Übrigen ist auch die Kulturberichterstattung systemrelevant: Unsere Gesellschaft wird derzeit auf eine harte Probe gestellt - gerade das soziale Miteinander leidet, und es ist ja die Kultur, die Gemeinschaft stiftet. Kultur ist nichts, was man sich nur in guten Zeiten gönnt, sondern gerade jetzt, da wir auf vieles verzichten müssen, spüren wir, wie sehr sie uns fehlt. Kultur ist lebenswichtig, das merken wir gerade sehr deutlich.

SPIEGEL: Auch im Journalismus schreitet die Digitalisierung derzeit noch weiter voran. Drängt uns die Krise auf allen Ebenen in die Zukunft?

Grütters: Mir fällt an der Entwicklung positiv auf, dass seriöse journalistische Inhalte im Netz viel stärker abgerufen werden als frei flottierende Inhalte. Guter Journalismus wird nachgefragt wie nie zuvor. Wir erleben eine eindeutige Prioritätensetzung, eine instinktive Hinwendung zu kuratierten, recherchierten Inhalten. Anderes wundert mich aber auch.

SPIEGEL: Was?

Grütters: Dass eine gewisse Gratismentalität nicht wegzubekommen ist und manche Verlage dies auch noch unterstützen, indem sie selbst zahlungswilligen langjährigen Abonnenten jetzt Gratis-Abos für die Digitalvariante anbieten. Dabei werde ich nicht müde, darauf hinzuweisen, dass sich geistige Leistung auch im Netz lohnen muss. Die Urheber, Journalisten und Kreative, müssen von ihrer Leistung leben können. Und gerade jetzt scheint die Bereitschaft bei den Nutzern doch groß zu sein, für das Angebot zu zahlen, das für sie in dieser Situation so wertvoll ist. Mir ist bewusst, wie sehr Presseverlage gerade zu kämpfen haben. Das Anzeigengeschäft ist eingebrochen, damit fällt eine wesentliche Einnahmequelle für Zeitungen teilweise weg. Manche Verlage erwägen daher, ihre Redaktionen in Kurzarbeit zu schicken. Das wäre geradezu fatal! Denn die Leistung der Journalistinnen und Journalisten war selten so wertvoll wie heute. Es ist allen digitalen Leserinnen und Lesern zu empfehlen, sich jetzt solidarisch zu zeigen.