Neuer "Wettbewerb der Systeme"

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Im Wortlaut: Schäuble Neuer "Wettbewerb der Systeme"

Der Bundesfinanzminister hat sich für den weiteren Dialog mit Russland ausgesprochen. "Wir wollen Zusammenarbeit, keine Konfrontation", sagte Wolfgang Schäuble in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Bedingung dafür sei, dass sich die gegenwärtige russische Regierung an das Völkerrecht halte.

  • Interview mit Wolfgang Schäuble
  • Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Wolfgang Schäuble Porträt

"In der Geschichte haben auf lange Sicht immer Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewonnen."

Foto: Bundesregierung/Kugler

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS): Herr Schäuble, hat es Sie gewundert, dass die Kriegsschuldfrage im Gedenkjahr zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine so große Rolle gespielt hat?

Wolfgang Schäuble: Dass in einem Jahr, in dem sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal jährt, diese Debatte wieder geführt wird, ist doch eigentlich vorhersehbar. Christopher Clark hat sie mit seinem Buch „Die Schlafwandler" erneut angestoßen. Das Interessante ist doch etwas anderes, nämlich dass dieses Jahr ganz anders verlaufen ist, als wir alle gedacht haben. Wir hatten gedacht: Wir erinnern uns an Verdun zum Beispiel und sind dankbar dafür, dass heute Krieg in Europa undenkbar geworden ist. Unsere Geschichtswahrnehmung, meine jedenfalls, war sehr auf den Westen bezogen. Dass da bereits vor hundert Jahren auch Krieg im Osten Europas war, kam mir erst durch die Entwicklung der letzten Monate in der Ukraine wieder voll ins Bewusstsein. Nun erinnerten wir uns auch daran, dass die Ukraine schon damals Kriegsschauplatz war. Und dann merkten wir, dass wir uns nicht, wie geplant, an den Ersten Weltkrieg erinnern konnten, mit Dankbarkeit dafür, dass so etwas in Europa nicht mehr passieren kann, sondern dass die Geschichte weitergeht. Das Ende der Geschichte ist nicht erreicht.

FAS: Sie haben Christopher Clarks "Schlafwandler" und Brendan Simms' "Kampf um Vorherrschaft" gelesen. Lauter dicke Bücher. Wann machen Sie das?

Schäuble: Ich lese viel, wenn ich reise. Ich bin ja viel unterwegs. Es interessiert mich einfach.

FAS: Beeinflusst die Lektüre Ihre politischen Entscheidungen?

Schäuble: Geschichtsbücher enthalten keine Handlungsanleitungen. Ich finde Geschichte interessant, unabhängig davon, welches Amt ich ausübe. Mich interessiert Geschichte, das war schon so, als ich jung war, und ist heute noch mehr so, nachdem ich immer wieder Situationen erlebt habe, in denen ich dachte: Was ich jetzt erlebe, wird später im Geschichtsbuch stehen. Beim Berliner Mauerfall, bei 9/11. Was mich beschäftigt, sind zeitliche Dimensionen: Die Zeit seit dem Mauerfall ist so lang wie die von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongress. Dazwischen ist ziemlich viel passiert. Als mein Vater 80 Jahre alt wurde, war ich als einer von drei Söhnen dran, die Rede zu halten, das war 1987. Ich bin geboren. Bis dahin hat die Generation meines Vaters zwei Weltkriege erlebt.

FAS: Dann spielt das Historische also doch eine Rolle in Ihrem Denken.

Schäuble: Na klar. Der Ökonom Hans Christoph Binswanger hat in "Geld und Magie" behauptet, dass in Goethes "Faust" die Finanzkrise viel präziser beschrieben worden sei als irgendwo sonst. Am Anfang dachte ich, das sollte ein Witz sein. Wenn Sie das Buch dann aber ganz lesen, leuchtet Ihnen Binswangers These ein. Ein faszinierendes Buch.

FAS: Reden Sie mit Ihren Kollegen aus der Politik über die Bücher, die Sie lesen?

Schäuble: Weniger. Die halten mich ja ohnehin für ein Fossil. Wissen Sie, wenn man so lange dabei ist wie ich, hat das auch Nebenwirkungen.

FAS: Inwiefern?

Schäuble: Man muss sich hüten, dass man nicht immerzu erklärt, wie es früher war. Ich versuche, mir selbst mit Ironie zu begegnen.

FAS: Heißt das, Sie lesen noch Bücher und Zeitungen, und die Bundestagskollegen gucken nur noch in ihre iPhones?

Schäuble: Nach der letzten Wahl sind viele neue Fraktionskollegen dazugekommen. Die allermeisten sind in den Bereichen, in denen sie arbeiten, ziemlich gut. Wenn man im Bundestag sitzt und zuhört, dann ist es immer hochspannend, was die Kollegen da an Beiträgen bringen. Es ist dort viel mehr an Qualifikation und Talenten und auch an Wissen vorhanden, als viele klischeehaft glauben.

FAS: Sie haben neulich bei der Feier zum 10. Geburtstag von "Spiegel Online" eine sehr unterhaltsame Rede gehalten. Ein Satz darin lautete: "Die Leute sind in einer begnadenswerten Weise zufrieden - was eine Katastrophe ist, übrigens auch für die Politik". War das eine Kritik an der Politik Angela Merkels?

Schäuble: So war es jedenfalls nicht gemeint. "Katastrophe" bezog sich auf die Medien, die ja von schlechten Nachrichten leben. Aber wahr ist auch: Wenn die Leute nur noch zufrieden wären, würden wir ja alle einschlafen. Und das wäre gefährlich. Selbstzufriedenheit ist meist der Beginn neuer Probleme. Politik muss immer Aufgaben bewältigen - sie tut es auch. Jetzt haben wir zum Beispiel die "schwarze Null" zum Ziel gesetzt - aus Verantwortung gegenüber der jungen Generation. Doch das hat in unserer schnelllebigen Zeit ja auch schon wieder keinen Neuigkeitswert mehr. Trotzdem dürfen wir uns gelegentlich freuen. Ein etwas böser Sozialdemokrat hat einmal über einen anderen gesagt: "Der ärgert sich, wenn er sich freut."

FAS: Das hat Herbert Wehner über Erhard Eppler gesagt.

Schäuble: Ja, und das ist ein wunderbarer Satz. Warum sollen die Leute auch nicht ein wenig zufrieden sein? Zufriedenheit ist an sich etwas Schönes, auch wenn sie gefährlich werden kann.

FAS: Sind Sie mit Angela Merkel befreundet? Sie gehen ja gelegentlich mit ihr ins Kino.

Schäuble: Ja, wir waren einmal im Kino. Angela Merkel hatte mich gefragt, ob ich den Film "Ziemlich beste Freunde" schon kennen würde. Ich wollte ihn auch sehen, aber meine Frau kannte ihn bereits, und alleine gehe ich nicht gern ins Kino. Dann sind halt Angela Merkel und ich gemeinsam gegangen. Zuvor fragte Sie mich noch: Oder ist das eine dumme Idee, wenn wir beide miteinander ins Kino gehen? Woraufhin wir dann beide gesagt haben: Wieso sollen wir nicht einmal auch etwas ganz Normales machen? Also sind wir gemeinsam ins Kino gegangen. Dahinter steckte keine Strategie.

FAS: Sie haben in Ihrer "Spiegel Online"-Rede auch gesagt, dass man sich nicht die ganze Zeit über die NSA aufregen könne. Muss man das nicht?

Schäuble: Wir brauchen Informationen zu unserer eigenen Sicherheit, ob in Deutschland, in Europa oder in den Vereinigten Staaten. Wir können Sicherheit aber nur gewährleisten, wenn wir in der Lage sind, gegen diejenigen, die die Sicherheit verletzen oder verletzen wollen, mit entsprechenden Mitteln Schutz zu bieten, natürlich nach Recht und Gesetz. Daran müssen sich auch die Amerikaner halten. Eine Herausforderung ist die Knappheit der Kapazitäten für die Datenverarbeitung. Die dafür notwendigen Rechnerkapazitäten kosten viel Geld. In der westlichen Welt haben die Amerikaner diese Kapazitäten noch am ehesten, und sie haben auch unglaublich viele Informationen. Wir könnten einen Einsatz von Bundeswehr und auch Polizei in Afghanistan überhaupt nicht verantworten, wenn wir nicht Informationen über die Lage vor Ort und in der Region von den Amerikanern erhalten würden. Wir können unsere Soldaten und Polizisten nicht in lebensgefährliche Einsätze schicken und dann nicht alles dafür tun, um sie bestmöglich zu schützen. Also sind wir auf Informationen angewiesen.

FAS: Für viele sind Whistleblower wie Edward Snowden aufklärerische Helden unserer Tage. Können Sie das nachvollziehen?

Schäuble: Ja, das kann ich nachvollziehen. Aber das, was ich zuvor gesagt habe, gilt eben auch. Wir müssen noch lernen, mit den neuen Technologien vernünftig umzugehen. Wir haben noch keinen überzeugenden Ansatz dafür gefunden, wie wir unser Verständnis der Grundwerte unter den Bedingungen totaler Informationsverfügbarkeit verwirklichen wollen. Eine verantwortungsvolle politische Diskussion lässt sich eben nicht auf Twitter-Format reduzieren. Trotzdem hat Twitter natürlich auch seine guten Seiten. Neulich kam bei Twitter die wohl meistgelesene Nachricht von einem Mädchen in Australien, die zu den Muslimen, die sich nach dem letzten Anschlag in Sydney bedroht fühlten, sagte: "I'll ride with you." Also, dass sie mit ihnen im Bus fahren würde. Das ist gut. Aber diese positive emotionale Reaktion schafft alleine noch keine Stabilität für staatliche Ordnungen. Deshalb muss man auch staatlich Sicherheit gewährleisten. Ich habe aus diesem Grund gerade wieder etwas über die Französische Revolution gelesen.

FAS: Was denn?

Schäuble: In dem neuen Buch Ihres Kollegen Johannes Willms. Mich hat interessiert, wie aus Liberté, Egalité, Fraternité binnen weniger Jahre eine blutrünstige Schlächterei in ganz Europa werden konnte.

FAS: Ist Whistleblowing für Sie ethisch vertretbar?

Schäuble: In einer Ausnahmesituation mag ich das hinnehmen, als Prinzip kann ich es nicht akzeptieren. Die totale Indiskretion verbunden mit der totalen Anonymität führt zur Perversion der menschlichen Gesellschaft.

FAS: Verrat und Illoyalität gibt es auch in der Politik. Sie haben das ja auch erlebt. Wann ist das erlaubt?

Schäuble: Wer hat das nicht erlebt? Jeder Mensch!

FAS: Aber in der Politik gibt es vielleicht besondere Mechanismen?

Schäuble: Je höher Sie kommen, desto mehr pfeifen die Winde. Verrat, Treulosigkeit, Intrigen, Gerüchte, Verleumdung - seit jeher ein übles Gift, auch das habe ich erlebt.

FAS: In welcher Art?

Schäuble: Darüber muss man nicht mehr lange reden. In einem Fall habe ich gesagt: So, das reicht dann für meinen Bedarf.

FAS: Jürgen Habermas hat gesagt, Sie seien der "letzte Europäer im Kabinett". Stimmt das?

Schäuble: Nein. Ich bin der älteste, aber mehr ist es dann auch nicht.

FAS: Europa ist heute vor allem ein Geschäftsmodell. Warum soll man dafür noch kämpfen?

Schäuble: Es ist eine alte menschliche Erfahrung: Das, was man hat, ist für einen nicht ganz so viel wert wie das, was man nicht hat. Gleichheit hatten die Menschen in der DDR bis zum Fall der Mauer im Übermaß, aber Freiheit hatten sie nicht, also war sie der höchste Wert. So ist das auch mit Europa, das vor allem durch Krisen vorankommt: Wenn's schlechter kommt, wird's besser.

FAS: Der Historiker Brendan Simms, den Sie neulich in Berlin getroffen haben, will die Europäische Union nach dem Muster der Vereinigten Staaten konstruieren. Was halten Sie davon?

Schäuble: Das hat, mit Verlaub, keinen realen Gehalt. Europa ist etwas anderes. Es ist auch viel älter als die Vereinigten Staaten und viel kleinteiliger. Es hat ganz andere geschichtliche Erfahrungen, aber auch Lasten. Der Nationalstaat, der ja typisch europäisch ist, hat als Organisationsprinzip in Europa sein Monopol verloren. Ob es uns gefällt oder nicht. Gleichwohl identifizieren sich viele Menschen in einem starken Maße mit der Nation, wie zum Beispiel beim Fußball. Aber die Vorstellung, wir machen ein vereintes Europa nach dem überholten Modell des Nationalstaats, ist nicht meine.

FAS: Was heißt überhaupt im 20. Jahrhundert, ein Europäer zu sein?

Schäuble: Wir Europäer haben eine Vorstellung entwickelt von der Art, wie wir gerne leben möchten. Man kann das anspruchsvoller auch Werte nennen, so wie der Historiker Heinrich August Winkler den Westen als Wertesystem beschreibt. Aus finanzpolitischer Sicht ist Deutschland in Europa der große Taktgeber, bei den Schulden, bei der Balance zwischen Marktwirtschaft und Sozialstaat.

FAS: Sind Sie als Finanzminister der Steuermann dieses Apparats?

Schäuble: Nein, so ist das gar nicht. Das wäre auch furchtbar. Das wäre ja quasi ein totalitäres System, wenn da einer sitzen würde und den Hebel in der Hand hätte. Das ist es nicht, Gott sei Dank. In der Globalisierung haben wir eine ganz andere Entwicklung. Wir sehen, dass die Politik ihr Regelungsmonopol verliert. Politik muss aber versuchen, einen Rahmen zu schaffen, in dem sich die Gesellschaft entwickeln und in Freiheit entfalten kann. Dabei darf Politik nach meiner Überzeugung allerdings nicht der Illusion Vorschub leisten, der Mensch selbst hätte keine Verantwortung, weil es der Staat und die Politik seien, die alles regeln würden. Das gilt gerade auch für Europa.

FAS: Jetzt wurde viel über Deutschlands Rolle im Ersten Weltkrieg gesprochen. Kehrt im neuen Jahrhundert Deutschland als Großmacht zurück, diesmal als ökonomische?

Schäuble: Unser imperialer Ehrgeiz hält sich glücklicherweise in Grenzen. Unser Ziel muss sein, sich in der Globalisierung der Wirtschaft und der Märkte zu behaupten und wettbewerbsfähig zu bleiben. Deshalb sollte die Debatte nicht sein, ob Europa wirtschaftlich "deutsch" wird, sondern wie Europa stark und relevant genug bleiben kann, um in der Welt des 21. Jahrhunderts überhaupt noch eine Rolle zu spielen - nicht zuletzt angesichts der demographischen Entwicklung, deren Folgen wir innerhalb Europas besonders stark in Deutschland erleben.

FAS: Wie stark ist eigentlich Europa?

Schäuble: Wenn Putin beschließt, die Krim und den Osten der Ukraine zu annektieren, können wir trotzdem nichts machen. Ich glaube, Präsident Putin hat etwas begriffen, was die Europäer selbst noch nicht alle begreifen: die Stärke unserer "soft power", also der Verbindung und Anziehungskraft von Demokratie, Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft. Das ist es, was die gegenwärtige russische Regierung als die eigentliche "Bedrohung" Russlands versteht - nicht die territoriale Ausdehnung der Europäischen Union und der Nato auf das Gebiet des früheren Warschauer Paktes und der ehemaligen Sowjetunion, wohlgemerkt auf ausdrücklichen und selbstbestimmten Wunsch der ostmitteleuropäischen Staaten und des Baltikums. Ein neuer Systemwettbewerb, in dem Präsident Putin auf unsere "soft power" mit militärischer "hard power" reagiert.

FAS: Es gibt Stimmen, die dem Westen vorwerfen, diesen Wettbewerb bewusst forciert zu haben.

Schäuble: Wir haben ihn nicht gesucht und auch nicht begonnen, zumal der Ukraine -Konflikt nicht mit militärischen Mitteln gelöst werden kann. Daher bleibt unsere Hand auch ausgestreckt. Wir wollen Zusammenarbeit mit Russland, keine Konfrontation. Aber dafür ist Bedingung, dass sich auch die gegenwärtige russische Regierung an das Völkerrecht hält. Der Westen wird nicht akzeptieren, dass Drohungen und Anwendungen militärischer Gewalt als Mittel von Politik in Europa wieder möglich werden. Daher der für uns alle bittere Weg von Sanktionen. Diese Politik ist entgegen allen Aufrufen die beste, die wir machen können. Sie ist zwar mühsam, manchmal auch enttäuschend und frustrierend. Aber in der Geschichte haben auf lange Sicht immer Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewonnen. Das wird auch dieses Mal so sein.

Das Gespräch führten Julia Encke und Andreas Kilb für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.